Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_644.001
eines Dramas der Vorgang verdichtet, von ihr aus gebaut pse_644.002
ist, auch das Komische verdichtet sich hier, indem die Gestalt pse_644.003
eine menschliche Schwäche in höchster Steigerung herausstellt, pse_644.004
zu einem Typus formt, der wegen seiner Unerwartetheit pse_644.005
schon komisch wirkt, und in ihrer Bloßstellung am Schluß pse_644.006
sich der Lächerlichkeit am stärksten aussetzt: in ihrem Menschentum pse_644.007
und in ihrer Funktion als Hauptgestalt, also wieder pse_644.008
von etwas Wichtigem. Das sind nur zwei Möglichkeiten. Sie pse_644.009
können bereichert werden durch den Zusammenstoß zweier pse_644.010
komischen Figuren und durch das, was sich daraus ergibt. pse_644.011
Dabei enthält die Komödie auch eine soziale Seite. Die erlebende pse_644.012
Gruppe, also die Zuschauer, müssen gleich erleben, sie pse_644.013
müssen in gleicher Weise die Fallhöhe abmessen. Daher wird pse_644.014
die Farce ein anderes Publikum verlangen als etwa Kleists pse_644.015
"Zerbrochener Krug". Die Zuschauer, die Kleists Spiel als pse_644.016
komisch erleben, werden vielleicht an der Farce keinen Geschmack pse_644.017
finden, oder sie müssen sich sozial in eine andere pse_644.018
Gruppe umstellen, um es zu können, und die Menschen, die pse_644.019
eine derbe Farce genießen, werden eine Komödie Molieres pse_644.020
langweilig finden.

pse_644.021
Je nach dem Bereich, der vor allem das Komische enthüllt, pse_644.022
gibt es verschiedene Arten der Komödie. Es kann eine Person pse_644.023
sein, deren Unzulänglichkeit dramatisch herausgestellt wird, pse_644.024
so besonders in den Komödien Molieres. Man spricht da auch pse_644.025
von Charakterkomödien. Die Komik kann sich auch aus dem pse_644.026
dramatischen Vorgang ergeben: schon die Situation, von der pse_644.027
er ausgeht, kann Komik auslösen: eine Situation, die in pse_644.028
sich eine Anmaßung oder Widersprüchlichkeit enthält und pse_644.029
von der wir gespannt erwarten, wie sie sich effektvoll löst. pse_644.030
Die Situationen können auch Teilergebnisse des Vorgangs pse_644.031
sein, in denen sich die komischen Elemente des Gesamtvorgangs pse_644.032
besonders verdichten. Musterbeispiele solcher Situationskomik pse_644.033
bieten viele Stücke Nestroys, besonders etwa pse_644.034
"Einen Jux will er sich machen". Dieses Spiel ist beinahe eine pse_644.035
einzige Reihe ununterbrochener komischer Situationen. Die pse_644.036
Handlung kann auch durch Intrigen angezettelt oder weitergeführt pse_644.037
werden. Bekannt ist die Intrige, die in Beaumarchais' pse_644.038
"Mariage de Figaro" die Lösung herbeiführt. Auch die romantischen

pse_644.001
eines Dramas der Vorgang verdichtet, von ihr aus gebaut pse_644.002
ist, auch das Komische verdichtet sich hier, indem die Gestalt pse_644.003
eine menschliche Schwäche in höchster Steigerung herausstellt, pse_644.004
zu einem Typus formt, der wegen seiner Unerwartetheit pse_644.005
schon komisch wirkt, und in ihrer Bloßstellung am Schluß pse_644.006
sich der Lächerlichkeit am stärksten aussetzt: in ihrem Menschentum pse_644.007
und in ihrer Funktion als Hauptgestalt, also wieder pse_644.008
von etwas Wichtigem. Das sind nur zwei Möglichkeiten. Sie pse_644.009
können bereichert werden durch den Zusammenstoß zweier pse_644.010
komischen Figuren und durch das, was sich daraus ergibt. pse_644.011
Dabei enthält die Komödie auch eine soziale Seite. Die erlebende pse_644.012
Gruppe, also die Zuschauer, müssen gleich erleben, sie pse_644.013
müssen in gleicher Weise die Fallhöhe abmessen. Daher wird pse_644.014
die Farce ein anderes Publikum verlangen als etwa Kleists pse_644.015
»Zerbrochener Krug«. Die Zuschauer, die Kleists Spiel als pse_644.016
komisch erleben, werden vielleicht an der Farce keinen Geschmack pse_644.017
finden, oder sie müssen sich sozial in eine andere pse_644.018
Gruppe umstellen, um es zu können, und die Menschen, die pse_644.019
eine derbe Farce genießen, werden eine Komödie Molières pse_644.020
langweilig finden.

pse_644.021
Je nach dem Bereich, der vor allem das Komische enthüllt, pse_644.022
gibt es verschiedene Arten der Komödie. Es kann eine Person pse_644.023
sein, deren Unzulänglichkeit dramatisch herausgestellt wird, pse_644.024
so besonders in den Komödien Molières. Man spricht da auch pse_644.025
von Charakterkomödien. Die Komik kann sich auch aus dem pse_644.026
dramatischen Vorgang ergeben: schon die Situation, von der pse_644.027
er ausgeht, kann Komik auslösen: eine Situation, die in pse_644.028
sich eine Anmaßung oder Widersprüchlichkeit enthält und pse_644.029
von der wir gespannt erwarten, wie sie sich effektvoll löst. pse_644.030
Die Situationen können auch Teilergebnisse des Vorgangs pse_644.031
sein, in denen sich die komischen Elemente des Gesamtvorgangs pse_644.032
besonders verdichten. Musterbeispiele solcher Situationskomik pse_644.033
bieten viele Stücke Nestroys, besonders etwa pse_644.034
»Einen Jux will er sich machen«. Dieses Spiel ist beinahe eine pse_644.035
einzige Reihe ununterbrochener komischer Situationen. Die pse_644.036
Handlung kann auch durch Intrigen angezettelt oder weitergeführt pse_644.037
werden. Bekannt ist die Intrige, die in Beaumarchais' pse_644.038
»Mariage de Figaro« die Lösung herbeiführt. Auch die romantischen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0660" n="644"/><lb n="pse_644.001"/>
eines Dramas der Vorgang verdichtet, von ihr aus gebaut <lb n="pse_644.002"/>
ist, auch das Komische verdichtet sich hier, indem die Gestalt <lb n="pse_644.003"/>
eine menschliche Schwäche in höchster Steigerung herausstellt, <lb n="pse_644.004"/>
zu einem Typus formt, der wegen seiner Unerwartetheit <lb n="pse_644.005"/>
schon komisch wirkt, und in ihrer Bloßstellung am Schluß <lb n="pse_644.006"/>
sich der Lächerlichkeit am stärksten aussetzt: in ihrem Menschentum <lb n="pse_644.007"/>
und in ihrer Funktion als Hauptgestalt, also wieder <lb n="pse_644.008"/>
von etwas Wichtigem. Das sind nur zwei Möglichkeiten. Sie <lb n="pse_644.009"/>
können bereichert werden durch den Zusammenstoß zweier <lb n="pse_644.010"/>
komischen Figuren und durch das, was sich daraus ergibt. <lb n="pse_644.011"/>
Dabei enthält die Komödie auch eine soziale Seite. Die erlebende <lb n="pse_644.012"/>
Gruppe, also die Zuschauer, müssen gleich erleben, sie <lb n="pse_644.013"/>
müssen in gleicher Weise die Fallhöhe abmessen. Daher wird <lb n="pse_644.014"/>
die Farce ein anderes Publikum verlangen als etwa Kleists <lb n="pse_644.015"/>
»Zerbrochener Krug«. Die Zuschauer, die Kleists Spiel als <lb n="pse_644.016"/>
komisch erleben, werden vielleicht an der Farce keinen Geschmack <lb n="pse_644.017"/>
finden, oder sie müssen sich sozial in eine andere <lb n="pse_644.018"/>
Gruppe umstellen, um es zu können, und die Menschen, die <lb n="pse_644.019"/>
eine derbe Farce genießen, werden eine Komödie Molières <lb n="pse_644.020"/>
langweilig finden.</p>
              <p><lb n="pse_644.021"/>
Je nach dem Bereich, der vor allem das Komische enthüllt, <lb n="pse_644.022"/>
gibt es verschiedene Arten der Komödie. Es kann eine Person <lb n="pse_644.023"/>
sein, deren Unzulänglichkeit dramatisch herausgestellt wird, <lb n="pse_644.024"/>
so besonders in den Komödien Molières. Man spricht da auch <lb n="pse_644.025"/>
von Charakterkomödien. Die Komik kann sich auch aus dem <lb n="pse_644.026"/>
dramatischen Vorgang ergeben: schon die Situation, von der <lb n="pse_644.027"/>
er ausgeht, kann Komik auslösen: eine Situation, die in <lb n="pse_644.028"/>
sich eine Anmaßung oder Widersprüchlichkeit enthält und <lb n="pse_644.029"/>
von der wir gespannt erwarten, wie sie sich effektvoll löst. <lb n="pse_644.030"/>
Die Situationen können auch Teilergebnisse des Vorgangs <lb n="pse_644.031"/>
sein, in denen sich die komischen Elemente des Gesamtvorgangs <lb n="pse_644.032"/>
besonders verdichten. Musterbeispiele solcher Situationskomik <lb n="pse_644.033"/>
bieten viele Stücke Nestroys, besonders etwa <lb n="pse_644.034"/>
»Einen Jux will er sich machen«. Dieses Spiel ist beinahe eine <lb n="pse_644.035"/>
einzige Reihe ununterbrochener komischer Situationen. Die <lb n="pse_644.036"/>
Handlung kann auch durch Intrigen angezettelt oder weitergeführt <lb n="pse_644.037"/>
werden. Bekannt ist die Intrige, die in Beaumarchais' <lb n="pse_644.038"/>
»Mariage de Figaro« die Lösung herbeiführt. Auch die romantischen
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[644/0660] pse_644.001 eines Dramas der Vorgang verdichtet, von ihr aus gebaut pse_644.002 ist, auch das Komische verdichtet sich hier, indem die Gestalt pse_644.003 eine menschliche Schwäche in höchster Steigerung herausstellt, pse_644.004 zu einem Typus formt, der wegen seiner Unerwartetheit pse_644.005 schon komisch wirkt, und in ihrer Bloßstellung am Schluß pse_644.006 sich der Lächerlichkeit am stärksten aussetzt: in ihrem Menschentum pse_644.007 und in ihrer Funktion als Hauptgestalt, also wieder pse_644.008 von etwas Wichtigem. Das sind nur zwei Möglichkeiten. Sie pse_644.009 können bereichert werden durch den Zusammenstoß zweier pse_644.010 komischen Figuren und durch das, was sich daraus ergibt. pse_644.011 Dabei enthält die Komödie auch eine soziale Seite. Die erlebende pse_644.012 Gruppe, also die Zuschauer, müssen gleich erleben, sie pse_644.013 müssen in gleicher Weise die Fallhöhe abmessen. Daher wird pse_644.014 die Farce ein anderes Publikum verlangen als etwa Kleists pse_644.015 »Zerbrochener Krug«. Die Zuschauer, die Kleists Spiel als pse_644.016 komisch erleben, werden vielleicht an der Farce keinen Geschmack pse_644.017 finden, oder sie müssen sich sozial in eine andere pse_644.018 Gruppe umstellen, um es zu können, und die Menschen, die pse_644.019 eine derbe Farce genießen, werden eine Komödie Molières pse_644.020 langweilig finden. pse_644.021 Je nach dem Bereich, der vor allem das Komische enthüllt, pse_644.022 gibt es verschiedene Arten der Komödie. Es kann eine Person pse_644.023 sein, deren Unzulänglichkeit dramatisch herausgestellt wird, pse_644.024 so besonders in den Komödien Molières. Man spricht da auch pse_644.025 von Charakterkomödien. Die Komik kann sich auch aus dem pse_644.026 dramatischen Vorgang ergeben: schon die Situation, von der pse_644.027 er ausgeht, kann Komik auslösen: eine Situation, die in pse_644.028 sich eine Anmaßung oder Widersprüchlichkeit enthält und pse_644.029 von der wir gespannt erwarten, wie sie sich effektvoll löst. pse_644.030 Die Situationen können auch Teilergebnisse des Vorgangs pse_644.031 sein, in denen sich die komischen Elemente des Gesamtvorgangs pse_644.032 besonders verdichten. Musterbeispiele solcher Situationskomik pse_644.033 bieten viele Stücke Nestroys, besonders etwa pse_644.034 »Einen Jux will er sich machen«. Dieses Spiel ist beinahe eine pse_644.035 einzige Reihe ununterbrochener komischer Situationen. Die pse_644.036 Handlung kann auch durch Intrigen angezettelt oder weitergeführt pse_644.037 werden. Bekannt ist die Intrige, die in Beaumarchais' pse_644.038 »Mariage de Figaro« die Lösung herbeiführt. Auch die romantischen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/660
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/660>, abgerufen am 23.11.2024.