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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Besserung, indem das Mitleid zur Tugend der richtigen Mitleidsbereitschaft pse_639.002
erhoben werden soll (Lessing); eine medizinische pse_639.003
Ausdeutung meint unter Katharsis die Entladung dieser pse_639.004
Gefühle und damit eine innere Befreiung von argen Spannungen; pse_639.005
eine ästhetische Ausdeutung sieht in der Katharsis pse_639.006
eine Ausgleichung der durch den Ablauf der Tragödie in pse_639.007
verschiedene Spannungen geratenen Gemütslage; eine mystische pse_639.008
versteht darunter eine Art Sühnung, eine heilige Vollendung pse_639.009
einer inneren Gemütsentwicklung; eine metaphysische pse_639.010
meint, durch die Katharsis werde das menschliche Sein, pse_639.011
das in Furcht und Leiden aus der Bedrohtheit der Menschen in pse_639.012
dauernden Glücksumschwüngen gründet, in reiner, schlackenloser pse_639.013
Weise herausgestaltet. Auch hier wieder dasselbe: jede pse_639.014
Aristoteles-Deutung ist zugleich Bekenntnis zu einer bestimmten pse_639.015
Auffassung von der tragischen Wirkung.

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Aus allem aber erkennt man, daß in der echten Tragödie pse_639.017
nach unserer Auffassung das Ende von besonderer Bedeutung pse_639.018
ist. Der Tod muß nicht der einzig mögliche Abschluß der pse_639.019
Tragödie sein. Der Held kann im Tod seinen Zusammenbruch pse_639.020
erleiden, aber es ist auch eine tiefe Erschütterung ohne Tod pse_639.021
möglich. Man denke vor allem an "Tasso" und an bestimmte pse_639.022
Tragödien Grillparzers, besonders an die "Medea". Der Tod aber pse_639.023
darf nicht Strafe für ein Vergehen sein, er darf keine kriminelle pse_639.024
Angelegenheit sein. Im Tod der Maria Stuart ist das Tragische pse_639.025
nicht der Tod als Ausgang eines Gerichtsprozesses, sondern pse_639.026
der Tod als persönlich auf sich genommene Sühne, im Wallenstein pse_639.027
als endlicher Zusammenbruch eines großen Menschen, pse_639.028
als Einbruch des Weltverhängnisses ins Persönliche. Aus solchem pse_639.029
Einbruch kann es auch zum Freitod kommen. Er ereignet pse_639.030
sich, weil die Verhältnisse dazu drängen oder weil die innere pse_639.031
Anlage des Helden dazu treibt.

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Eine besondere Verstärkung der tragischen Erschütterung pse_639.033
ist in der Tragödie, besonders an ihrem Schluß, oft dadurch pse_639.034
erreicht, daß auch der Held selber im Lauf des Vorgangs, pse_639.035
besonders aber am Ende, tragische Erschütterung erfährt. Der pse_639.036
Zuschauer erlebt also nicht bloß das ganze tragische Geschehen, pse_639.037
sondern auch eine tragische Erfahrung, die aus demselben pse_639.038
Geschehen wächst. So wird ihm das Menschliche des

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Besserung, indem das Mitleid zur Tugend der richtigen Mitleidsbereitschaft pse_639.002
erhoben werden soll (Lessing); eine medizinische pse_639.003
Ausdeutung meint unter Katharsis die Entladung dieser pse_639.004
Gefühle und damit eine innere Befreiung von argen Spannungen; pse_639.005
eine ästhetische Ausdeutung sieht in der Katharsis pse_639.006
eine Ausgleichung der durch den Ablauf der Tragödie in pse_639.007
verschiedene Spannungen geratenen Gemütslage; eine mystische pse_639.008
versteht darunter eine Art Sühnung, eine heilige Vollendung pse_639.009
einer inneren Gemütsentwicklung; eine metaphysische pse_639.010
meint, durch die Katharsis werde das menschliche Sein, pse_639.011
das in Furcht und Leiden aus der Bedrohtheit der Menschen in pse_639.012
dauernden Glücksumschwüngen gründet, in reiner, schlackenloser pse_639.013
Weise herausgestaltet. Auch hier wieder dasselbe: jede pse_639.014
Aristoteles-Deutung ist zugleich Bekenntnis zu einer bestimmten pse_639.015
Auffassung von der tragischen Wirkung.

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Aus allem aber erkennt man, daß in der echten Tragödie pse_639.017
nach unserer Auffassung das Ende von besonderer Bedeutung pse_639.018
ist. Der Tod muß nicht der einzig mögliche Abschluß der pse_639.019
Tragödie sein. Der Held kann im Tod seinen Zusammenbruch pse_639.020
erleiden, aber es ist auch eine tiefe Erschütterung ohne Tod pse_639.021
möglich. Man denke vor allem an »Tasso« und an bestimmte pse_639.022
Tragödien Grillparzers, besonders an die »Medea«. Der Tod aber pse_639.023
darf nicht Strafe für ein Vergehen sein, er darf keine kriminelle pse_639.024
Angelegenheit sein. Im Tod der Maria Stuart ist das Tragische pse_639.025
nicht der Tod als Ausgang eines Gerichtsprozesses, sondern pse_639.026
der Tod als persönlich auf sich genommene Sühne, im Wallenstein pse_639.027
als endlicher Zusammenbruch eines großen Menschen, pse_639.028
als Einbruch des Weltverhängnisses ins Persönliche. Aus solchem pse_639.029
Einbruch kann es auch zum Freitod kommen. Er ereignet pse_639.030
sich, weil die Verhältnisse dazu drängen oder weil die innere pse_639.031
Anlage des Helden dazu treibt.

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Eine besondere Verstärkung der tragischen Erschütterung pse_639.033
ist in der Tragödie, besonders an ihrem Schluß, oft dadurch pse_639.034
erreicht, daß auch der Held selber im Lauf des Vorgangs, pse_639.035
besonders aber am Ende, tragische Erschütterung erfährt. Der pse_639.036
Zuschauer erlebt also nicht bloß das ganze tragische Geschehen, pse_639.037
sondern auch eine tragische Erfahrung, die aus demselben pse_639.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 639. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/655>, abgerufen am 23.11.2024.