pse_049.001 Eine andere Seite bietet sich, wenn man zwei sehr entgegengesetzte pse_049.002 Auffassungen vergleicht. Beide sind sie schon pse_049.003 in der Antike zu finden. Man bezeichnet den Dichter einmal pse_049.004 als vates, als den Seher, der vom göttlichen Hauch berührt pse_049.005 ist, ein andermal als artifex, als einen, der ein künstliches pse_049.006 Werk herstellt. Beide Auffassungen sind einseitig, aber beide pse_049.007 enthalten auch etwas Richtiges. In verschiedenen Epochen pse_049.008 sind bald die eine, bald die andere in den Vordergrund gedrängt pse_049.009 worden. Der deutsche Sturm und Drang, Herder pse_049.010 und der junge Goethe an der Spitze, haben dem vates wieder pse_049.011 zu Ehren verholfen. Aber die mittelalterliche Dichtungslehre, pse_049.012 ebenso der Barock, aber auch der moderne Begriff der Montage pse_049.013 in der Lyrik -- wir werden davon noch zu sprechen haben pse_049.014 -- zeigen den Dichter als technischen Meister, der mit pse_049.015 gegebenen Bildern, Vergleichen, Vers- und Strophenformen, pse_049.016 mit besonderen Schmuckformen Gedichte herstellt. Die Auffassung pse_049.017 des Dichters als artifex übersieht aber das Wesen der pse_049.018 Sprache: daß Worte nicht bloß Material sind, sondern auch pse_049.019 Seelisches in sich eingeformt haben, und daß jede Sprache pse_049.020 das Weltbild einer Gemeinschaft prägt. Umgekehrt aber pse_049.021 übersehen die Anhänger des vates-Begriffes, daß immerhin pse_049.022 Kunst von Können kommt und ein bestimmtes technisches pse_049.023 Können, eine technische Beherrschung gewisser Formen usw. pse_049.024 erfordert. Auch der alte Goethe hat das genau erkannt. Dichtkunst pse_049.025 wie jede andere Kunst ist durch ihre künstlerische Formung pse_049.026 irgendwie auf Wirkung bedacht. Man hat diesen Wirkungsfaktor pse_049.027 dann vor allem immer wieder verkannt, wenn pse_049.028 man Dichtung als Ausdruck persönlichen Seelenlebens angesehen pse_049.029 hat. Das beginnt schon im Sturm und Drang, setzt pse_049.030 sich aber dann in der gesamteuropäischen Romantik immer pse_049.031 mehr durch. Es schien sogar abwegig, nach Wirkung überhaupt pse_049.032 zu fragen. Man vergaß, daß das große Dichter immer pse_049.033 wieder taten: Dante, Petrarca, Tasso, Racine, Lessing, Schiller. pse_049.034 Heute kann man beobachten, daß man dieser Seite wieder pse_049.035 mehr Aufmerksamkeit widmet. Dichtung ist also immerhin pse_049.036 ein Gebilde, das in seinen Formen auf bestimmte Wirkungen pse_049.037 hinarbeitet. Freilich, wenn nur das Formale an der Sprache pse_049.038 betont wird, kann man zu Fehldeutungen kommen: Geibel
pse_049.001 Eine andere Seite bietet sich, wenn man zwei sehr entgegengesetzte pse_049.002 Auffassungen vergleicht. Beide sind sie schon pse_049.003 in der Antike zu finden. Man bezeichnet den Dichter einmal pse_049.004 als vates, als den Seher, der vom göttlichen Hauch berührt pse_049.005 ist, ein andermal als artifex, als einen, der ein künstliches pse_049.006 Werk herstellt. Beide Auffassungen sind einseitig, aber beide pse_049.007 enthalten auch etwas Richtiges. In verschiedenen Epochen pse_049.008 sind bald die eine, bald die andere in den Vordergrund gedrängt pse_049.009 worden. Der deutsche Sturm und Drang, Herder pse_049.010 und der junge Goethe an der Spitze, haben dem vates wieder pse_049.011 zu Ehren verholfen. Aber die mittelalterliche Dichtungslehre, pse_049.012 ebenso der Barock, aber auch der moderne Begriff der Montage pse_049.013 in der Lyrik — wir werden davon noch zu sprechen haben pse_049.014 — zeigen den Dichter als technischen Meister, der mit pse_049.015 gegebenen Bildern, Vergleichen, Vers- und Strophenformen, pse_049.016 mit besonderen Schmuckformen Gedichte herstellt. Die Auffassung pse_049.017 des Dichters als artifex übersieht aber das Wesen der pse_049.018 Sprache: daß Worte nicht bloß Material sind, sondern auch pse_049.019 Seelisches in sich eingeformt haben, und daß jede Sprache pse_049.020 das Weltbild einer Gemeinschaft prägt. Umgekehrt aber pse_049.021 übersehen die Anhänger des vates-Begriffes, daß immerhin pse_049.022 Kunst von Können kommt und ein bestimmtes technisches pse_049.023 Können, eine technische Beherrschung gewisser Formen usw. pse_049.024 erfordert. Auch der alte Goethe hat das genau erkannt. Dichtkunst pse_049.025 wie jede andere Kunst ist durch ihre künstlerische Formung pse_049.026 irgendwie auf Wirkung bedacht. Man hat diesen Wirkungsfaktor pse_049.027 dann vor allem immer wieder verkannt, wenn pse_049.028 man Dichtung als Ausdruck persönlichen Seelenlebens angesehen pse_049.029 hat. Das beginnt schon im Sturm und Drang, setzt pse_049.030 sich aber dann in der gesamteuropäischen Romantik immer pse_049.031 mehr durch. Es schien sogar abwegig, nach Wirkung überhaupt pse_049.032 zu fragen. Man vergaß, daß das große Dichter immer pse_049.033 wieder taten: Dante, Petrarca, Tasso, Racine, Lessing, Schiller. pse_049.034 Heute kann man beobachten, daß man dieser Seite wieder pse_049.035 mehr Aufmerksamkeit widmet. Dichtung ist also immerhin pse_049.036 ein Gebilde, das in seinen Formen auf bestimmte Wirkungen pse_049.037 hinarbeitet. Freilich, wenn nur das Formale an der Sprache pse_049.038 betont wird, kann man zu Fehldeutungen kommen: Geibel
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Eine andere Seite bietet sich, wenn man zwei sehr entgegengesetzte pse_049.002
Auffassungen vergleicht. Beide sind sie schon pse_049.003
in der Antike zu finden. Man bezeichnet den Dichter einmal pse_049.004
als vates, als den Seher, der vom göttlichen Hauch berührt pse_049.005
ist, ein andermal als artifex, als einen, der ein künstliches pse_049.006
Werk herstellt. Beide Auffassungen sind einseitig, aber beide pse_049.007
enthalten auch etwas Richtiges. In verschiedenen Epochen pse_049.008
sind bald die eine, bald die andere in den Vordergrund gedrängt pse_049.009
worden. Der deutsche Sturm und Drang, Herder pse_049.010
und der junge Goethe an der Spitze, haben dem vates wieder pse_049.011
zu Ehren verholfen. Aber die mittelalterliche Dichtungslehre, pse_049.012
ebenso der Barock, aber auch der moderne Begriff der Montage pse_049.013
in der Lyrik — wir werden davon noch zu sprechen haben pse_049.014
— zeigen den Dichter als technischen Meister, der mit pse_049.015
gegebenen Bildern, Vergleichen, Vers- und Strophenformen, pse_049.016
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des Dichters als artifex übersieht aber das Wesen der pse_049.018
Sprache: daß Worte nicht bloß Material sind, sondern auch pse_049.019
Seelisches in sich eingeformt haben, und daß jede Sprache pse_049.020
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übersehen die Anhänger des vates-Begriffes, daß immerhin pse_049.022
Kunst von Können kommt und ein bestimmtes technisches pse_049.023
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dann vor allem immer wieder verkannt, wenn pse_049.028
man Dichtung als Ausdruck persönlichen Seelenlebens angesehen pse_049.029
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/65>, abgerufen am 26.11.2024.
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