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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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denen die tiefe Erschütterung bis zum Schluß anhält, ja sich pse_631.002
gegen Ende steigert und hier herrscht, natürlich neben dem pse_631.003
erhebenden Erleben des Durchhaltens. Das bedeutet, daß pse_631.004
auch andere Dramen tragische Bestandteile und Durchgangsstufen pse_631.005
enthalten können, sie aber in irgend einer Weise pse_631.006
durchschreiten. Damit stoßen wir auf die Fragen um den pse_631.007
Tragödienbegriff. Seit Aristoteles ist die Frage nach der pse_631.008
Art und den Regeln der Tragödie eine der wichtigsten in der pse_631.009
Geschichte der Poetik. Die Wandlungen des Tragödienbegriffs pse_631.010
sind geistesgeschichtlich sehr lehrreich. Bei den alten pse_631.011
Griechen war Tragödie jede dramatische Dichtung mit tragischen pse_631.012
Situationen, auch wenn sie am Schluß völlig durchschritten pse_631.013
wurden, wie etwa im "Ödipus auf Kolonos". Es ist pse_631.014
also Tragödie beinahe ein historischer Begriff, der erst in dem pse_631.015
Augenblick zu einem der Poetik werden konnte, als man das pse_631.016
Tragische nicht mehr als Merkmal der Tragödie sah, sondern pse_631.017
aus ihr hinausverlegte in die tatsächlichen Welt- und Lebenszusammenhänge. pse_631.018
Man kann es auch so sehen: die Tragödie pse_631.019
gestaltet in verwesentlichender und daher eindringlichster pse_631.020
Weise Situationen, die mit tiefster Erschütterung erlebt werden. pse_631.021
Und nun vollziehen sich zwei Entwicklungen: auf der pse_631.022
einen Seite liest man aus solchen Dramen die Kunstgesetze pse_631.023
der Gattung ab, Tragödie wird ein nach strengen Gesetzen pse_631.024
auf Wirkung berechnetes dichterisches Kunstwerk; auf der pse_631.025
anderen Seite lernt man von den tragischen Situationen der pse_631.026
Tragödien auf das Leben zu blicken, entdeckt dort ähnliche, pse_631.027
nur wirklichkeitsmäßig verwickeltere Situationen, und leitet pse_631.028
endlich daraus Sichten auf die Welt ab, die auch zu solchen pse_631.029
Erschütterungen führen. Man beginnt die Welt selbst tragisch pse_631.030
zu sehen; das war also zunächst wirklich eine Bedeutungsübertragung: pse_631.031
die Welt so sehen, wie es in der Tragödie pse_631.032
zugeht; dann aber bildete sich daraus langsam eine philosophisch pse_631.033
bestimmte tragische Weltanschauung. Das vollzieht pse_631.034
sich mit der deutschen Romantik. Von hier aus erscheint pse_631.035
dann die Tragödie als Dichtung, die diese tragische Weltstruktur pse_631.036
darstellt. Damit wird aber nur deutlich, daß die pse_631.037
Tragödie im alten Sinn eben so tief in die Welt hineinleuchtete, pse_631.038
daß sie Strukturzüge der Welt aufdeckt. Es dürfte wohl

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denen die tiefe Erschütterung bis zum Schluß anhält, ja sich pse_631.002
gegen Ende steigert und hier herrscht, natürlich neben dem pse_631.003
erhebenden Erleben des Durchhaltens. Das bedeutet, daß pse_631.004
auch andere Dramen tragische Bestandteile und Durchgangsstufen pse_631.005
enthalten können, sie aber in irgend einer Weise pse_631.006
durchschreiten. Damit stoßen wir auf die Fragen um den pse_631.007
Tragödienbegriff. Seit Aristoteles ist die Frage nach der pse_631.008
Art und den Regeln der Tragödie eine der wichtigsten in der pse_631.009
Geschichte der Poetik. Die Wandlungen des Tragödienbegriffs pse_631.010
sind geistesgeschichtlich sehr lehrreich. Bei den alten pse_631.011
Griechen war Tragödie jede dramatische Dichtung mit tragischen pse_631.012
Situationen, auch wenn sie am Schluß völlig durchschritten pse_631.013
wurden, wie etwa im »Ödipus auf Kolonos«. Es ist pse_631.014
also Tragödie beinahe ein historischer Begriff, der erst in dem pse_631.015
Augenblick zu einem der Poetik werden konnte, als man das pse_631.016
Tragische nicht mehr als Merkmal der Tragödie sah, sondern pse_631.017
aus ihr hinausverlegte in die tatsächlichen Welt- und Lebenszusammenhänge. pse_631.018
Man kann es auch so sehen: die Tragödie pse_631.019
gestaltet in verwesentlichender und daher eindringlichster pse_631.020
Weise Situationen, die mit tiefster Erschütterung erlebt werden. pse_631.021
Und nun vollziehen sich zwei Entwicklungen: auf der pse_631.022
einen Seite liest man aus solchen Dramen die Kunstgesetze pse_631.023
der Gattung ab, Tragödie wird ein nach strengen Gesetzen pse_631.024
auf Wirkung berechnetes dichterisches Kunstwerk; auf der pse_631.025
anderen Seite lernt man von den tragischen Situationen der pse_631.026
Tragödien auf das Leben zu blicken, entdeckt dort ähnliche, pse_631.027
nur wirklichkeitsmäßig verwickeltere Situationen, und leitet pse_631.028
endlich daraus Sichten auf die Welt ab, die auch zu solchen pse_631.029
Erschütterungen führen. Man beginnt die Welt selbst tragisch pse_631.030
zu sehen; das war also zunächst wirklich eine Bedeutungsübertragung: pse_631.031
die Welt so sehen, wie es in der Tragödie pse_631.032
zugeht; dann aber bildete sich daraus langsam eine philosophisch pse_631.033
bestimmte tragische Weltanschauung. Das vollzieht pse_631.034
sich mit der deutschen Romantik. Von hier aus erscheint pse_631.035
dann die Tragödie als Dichtung, die diese tragische Weltstruktur pse_631.036
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Tragödie im alten Sinn eben so tief in die Welt hineinleuchtete, pse_631.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 631. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/647>, abgerufen am 22.11.2024.