Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_047.001
das heißt also unter Einsatz der vollen Kräfte der Sprache. pse_047.002
Aber sie verfolgen damit einen bestimmten Zweck: Politische pse_047.003
Meinungsbildung zumeist, oder Verbreiten und Aufdrängen pse_047.004
weltanschaulicher Ansichten und Lehren. Auch hier pse_047.005
sind die Grenzen fließend. Sprachkunstwerke können solche pse_047.006
Gebilde ohne weiteres sein: sie teilen eben nicht bloß mit, pse_047.007
sondern gestalten durch die Kraft der Sprache geradezu eine pse_047.008
lebendige Wirklichkeit in Farben, die auf den Aufnehmenden pse_047.009
in besonderer Weise wirken sollen. Ob das aber Dichtung ist, pse_047.010
ist eine andere Frage. Soweit die Absicht, eine bestimmte pse_047.011
Meinung aufzudrängen, im Vordergrund steht, kann es sich pse_047.012
kaum mehr um die Gestaltung einer in sich geschlossenen pse_047.013
Welt handeln, es ist dann keine Dichtung. Aber wenn die pse_047.014
Gestaltung so ist, daß nun aus der Kraft der Sprache eine pse_047.015
eigene Welt ersteht, die dann allerdings so eindringlich pse_047.016
bestimmte Züge herauskehrt, daß der Aufnehmende davon pse_047.017
im Innersten berührt wird, dann ist es Dichtung. Es kann pse_047.018
also echte Tendenzdichtung geben. Aber der Maßstab liegt pse_047.019
nicht im Wert dessen, was da gepredigt werden soll, sondern pse_047.020
in der Frage, ob es den Gesetzen echter Dichtung entspricht. pse_047.021
Kleists "Hermannsschlacht" dürfte ein großes Beispiel echter pse_047.022
Tendenzdichtung sein.

pse_047.023
III pse_047.024
DAS WESEN DER DICHTUNG

pse_047.025
Es ist leicht, große Dichtungen als solche zu erkennen, aber pse_047.026
sehr schwer, wissenschaftlich genau zu bestimmen, was pse_047.027
Dichtung ist. Und zwar deshalb, weil hier theoretische, pse_047.028
streng rationale Haltung etwas erfassen soll, was eben in seiner pse_047.029
ganzen Art nicht theoretisch, nicht rational ist, wenn auch pse_047.030
solche Elemente eingebaut sein können. Man kann sich theoretisch pse_047.031
solchen Phänomenen nähern, muß sich aber immer pse_047.032
bewußt bleiben, daß man das eigentliche Wesen selbst auf pse_047.033
diese Weise nie vollständig in den Griff bekommt. Dichtung

pse_047.001
das heißt also unter Einsatz der vollen Kräfte der Sprache. pse_047.002
Aber sie verfolgen damit einen bestimmten Zweck: Politische pse_047.003
Meinungsbildung zumeist, oder Verbreiten und Aufdrängen pse_047.004
weltanschaulicher Ansichten und Lehren. Auch hier pse_047.005
sind die Grenzen fließend. Sprachkunstwerke können solche pse_047.006
Gebilde ohne weiteres sein: sie teilen eben nicht bloß mit, pse_047.007
sondern gestalten durch die Kraft der Sprache geradezu eine pse_047.008
lebendige Wirklichkeit in Farben, die auf den Aufnehmenden pse_047.009
in besonderer Weise wirken sollen. Ob das aber Dichtung ist, pse_047.010
ist eine andere Frage. Soweit die Absicht, eine bestimmte pse_047.011
Meinung aufzudrängen, im Vordergrund steht, kann es sich pse_047.012
kaum mehr um die Gestaltung einer in sich geschlossenen pse_047.013
Welt handeln, es ist dann keine Dichtung. Aber wenn die pse_047.014
Gestaltung so ist, daß nun aus der Kraft der Sprache eine pse_047.015
eigene Welt ersteht, die dann allerdings so eindringlich pse_047.016
bestimmte Züge herauskehrt, daß der Aufnehmende davon pse_047.017
im Innersten berührt wird, dann ist es Dichtung. Es kann pse_047.018
also echte Tendenzdichtung geben. Aber der Maßstab liegt pse_047.019
nicht im Wert dessen, was da gepredigt werden soll, sondern pse_047.020
in der Frage, ob es den Gesetzen echter Dichtung entspricht. pse_047.021
Kleists »Hermannsschlacht« dürfte ein großes Beispiel echter pse_047.022
Tendenzdichtung sein.

pse_047.023
III pse_047.024
DAS WESEN DER DICHTUNG

pse_047.025
Es ist leicht, große Dichtungen als solche zu erkennen, aber pse_047.026
sehr schwer, wissenschaftlich genau zu bestimmen, was pse_047.027
Dichtung ist. Und zwar deshalb, weil hier theoretische, pse_047.028
streng rationale Haltung etwas erfassen soll, was eben in seiner pse_047.029
ganzen Art nicht theoretisch, nicht rational ist, wenn auch pse_047.030
solche Elemente eingebaut sein können. Man kann sich theoretisch pse_047.031
solchen Phänomenen nähern, muß sich aber immer pse_047.032
bewußt bleiben, daß man das eigentliche Wesen selbst auf pse_047.033
diese Weise nie vollständig in den Griff bekommt. Dichtung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0063" n="47"/><lb n="pse_047.001"/>
das heißt also unter Einsatz der vollen Kräfte der Sprache. <lb n="pse_047.002"/>
Aber sie verfolgen damit einen bestimmten Zweck: Politische <lb n="pse_047.003"/>
Meinungsbildung zumeist, oder Verbreiten und Aufdrängen <lb n="pse_047.004"/>
weltanschaulicher Ansichten und Lehren. Auch hier <lb n="pse_047.005"/>
sind die Grenzen fließend. Sprachkunstwerke können solche <lb n="pse_047.006"/>
Gebilde ohne weiteres sein: sie teilen eben nicht bloß mit, <lb n="pse_047.007"/>
sondern gestalten durch die Kraft der Sprache geradezu eine <lb n="pse_047.008"/>
lebendige Wirklichkeit in Farben, die auf den Aufnehmenden <lb n="pse_047.009"/>
in besonderer Weise wirken sollen. Ob das aber Dichtung ist, <lb n="pse_047.010"/>
ist eine andere Frage. Soweit die Absicht, eine bestimmte <lb n="pse_047.011"/>
Meinung aufzudrängen, im Vordergrund steht, kann es sich <lb n="pse_047.012"/>
kaum mehr um die Gestaltung einer in sich geschlossenen <lb n="pse_047.013"/>
Welt handeln, es ist dann keine Dichtung. Aber wenn die <lb n="pse_047.014"/>
Gestaltung so ist, daß nun aus der Kraft der Sprache eine <lb n="pse_047.015"/>
eigene Welt ersteht, die dann allerdings so eindringlich <lb n="pse_047.016"/>
bestimmte Züge herauskehrt, daß der Aufnehmende davon <lb n="pse_047.017"/>
im Innersten berührt wird, dann ist es Dichtung. Es kann <lb n="pse_047.018"/>
also echte Tendenzdichtung geben. Aber der Maßstab liegt <lb n="pse_047.019"/>
nicht im Wert dessen, was da gepredigt werden soll, sondern <lb n="pse_047.020"/>
in der Frage, ob es den Gesetzen echter Dichtung entspricht. <lb n="pse_047.021"/>
Kleists »Hermannsschlacht« dürfte ein großes Beispiel echter <lb n="pse_047.022"/>
Tendenzdichtung sein.</p>
          </div>
        </div>
        <div n="2">
          <lb n="pse_047.023"/>
          <head> <hi rendition="#c">III <lb n="pse_047.024"/> <hi rendition="#g">DAS WESEN DER DICHTUNG</hi></hi> </head>
          <p><lb n="pse_047.025"/>
Es ist leicht, große Dichtungen als solche zu erkennen, aber <lb n="pse_047.026"/>
sehr schwer, wissenschaftlich genau zu bestimmen, was <lb n="pse_047.027"/>
Dichtung ist. Und zwar deshalb, weil hier theoretische, <lb n="pse_047.028"/>
streng rationale Haltung etwas erfassen soll, was eben in seiner <lb n="pse_047.029"/>
ganzen Art nicht theoretisch, nicht rational ist, wenn auch <lb n="pse_047.030"/>
solche Elemente eingebaut sein können. Man kann sich theoretisch <lb n="pse_047.031"/>
solchen Phänomenen nähern, muß sich aber immer <lb n="pse_047.032"/>
bewußt bleiben, daß man das eigentliche Wesen selbst auf <lb n="pse_047.033"/>
diese Weise nie vollständig in den Griff bekommt. Dichtung
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0063] pse_047.001 das heißt also unter Einsatz der vollen Kräfte der Sprache. pse_047.002 Aber sie verfolgen damit einen bestimmten Zweck: Politische pse_047.003 Meinungsbildung zumeist, oder Verbreiten und Aufdrängen pse_047.004 weltanschaulicher Ansichten und Lehren. Auch hier pse_047.005 sind die Grenzen fließend. Sprachkunstwerke können solche pse_047.006 Gebilde ohne weiteres sein: sie teilen eben nicht bloß mit, pse_047.007 sondern gestalten durch die Kraft der Sprache geradezu eine pse_047.008 lebendige Wirklichkeit in Farben, die auf den Aufnehmenden pse_047.009 in besonderer Weise wirken sollen. Ob das aber Dichtung ist, pse_047.010 ist eine andere Frage. Soweit die Absicht, eine bestimmte pse_047.011 Meinung aufzudrängen, im Vordergrund steht, kann es sich pse_047.012 kaum mehr um die Gestaltung einer in sich geschlossenen pse_047.013 Welt handeln, es ist dann keine Dichtung. Aber wenn die pse_047.014 Gestaltung so ist, daß nun aus der Kraft der Sprache eine pse_047.015 eigene Welt ersteht, die dann allerdings so eindringlich pse_047.016 bestimmte Züge herauskehrt, daß der Aufnehmende davon pse_047.017 im Innersten berührt wird, dann ist es Dichtung. Es kann pse_047.018 also echte Tendenzdichtung geben. Aber der Maßstab liegt pse_047.019 nicht im Wert dessen, was da gepredigt werden soll, sondern pse_047.020 in der Frage, ob es den Gesetzen echter Dichtung entspricht. pse_047.021 Kleists »Hermannsschlacht« dürfte ein großes Beispiel echter pse_047.022 Tendenzdichtung sein. pse_047.023 III pse_047.024 DAS WESEN DER DICHTUNG pse_047.025 Es ist leicht, große Dichtungen als solche zu erkennen, aber pse_047.026 sehr schwer, wissenschaftlich genau zu bestimmen, was pse_047.027 Dichtung ist. Und zwar deshalb, weil hier theoretische, pse_047.028 streng rationale Haltung etwas erfassen soll, was eben in seiner pse_047.029 ganzen Art nicht theoretisch, nicht rational ist, wenn auch pse_047.030 solche Elemente eingebaut sein können. Man kann sich theoretisch pse_047.031 solchen Phänomenen nähern, muß sich aber immer pse_047.032 bewußt bleiben, daß man das eigentliche Wesen selbst auf pse_047.033 diese Weise nie vollständig in den Griff bekommt. Dichtung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/63
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/63>, abgerufen am 26.11.2024.