pse_046.001 bleibt leer, die üblichen Formen des Lieblichen, Sehnsüchtigen, pse_046.002 Unheimlichen sind Hülsen, daher wertlos.
pse_046.003 Gehört der Schund noch in unseren Bereich? Auch er pse_046.004 bemäntelt sich mit Hüllen der Poetik, nennt sich Roman, pse_046.005 Novelle, Balladensammlung usw. Wir sprechen von Schund, pse_046.006 wenn bestimmte Seiten und Triebe des Menschen erregt pse_046.007 werden, die an sich natürlich sind, aber in ihrer Vereinzelung pse_046.008 unsittlich werden: das Kriminelle, Sexuelle usw. Und da pse_046.009 gibt es nun sofort einen sehr brauchbaren Vergleich, der den pse_046.010 Schuld in seinem Wesen enthüllt. Es dürfte wohl kaum gewagtere pse_046.011 Situationen geben, als sie in manchen der Boccaccio- pse_046.012 Novellen vorkommen. Aber warum werden die nicht als pse_046.013 Schund bezeichnet? Weil es Kunstwerke sind! Aber hier pse_046.014 könnte man den Einwurf machen, wir seien der Ansicht, pse_046.015 schöne Form rechtfertige und entschuldige jede gehaltliche pse_046.016 Unsittlichkeit und Unmöglichkeit. Aber gerade hier können pse_046.017 wir tiefer ins Wesen des Kunstwerks hineinsehen. Es dürfte pse_046.018 kaum einen Schundroman geben, der "künstlerisch" vollendet pse_046.019 wäre. Denn höchste Lebendigkeit, Fülle und Gestaltetheit der pse_046.020 Sprachgebung ist eben immer zugleich Erscheinen eines pse_046.021 Tieferen und wirkt daher auf die Tiefen des Menschen. Wo pse_046.022 bloße Formglattheit oder -korrektheit nach Regeln und pse_046.023 Mustern oder gekonnte Glätte oder Raffiniertheit vorliegt, pse_046.024 fehlt eben gerade das, was den ästhetischen Gegenstand ausmacht: pse_046.025 daß alle diese Schönheit zugleich ein Tieferes, pse_046.026 Hintergründiges offenbart, das nicht als Selbständiges noch pse_046.027 dazu käme, sondern eben in dieser vollendeten Gestalt allein pse_046.028 und sonst nirgends im Rahmen dieses Kunstwerks da ist. Mit pse_046.029 anderen Worten: Besinnung auf die Grundgesetze des ästhetischen pse_046.030 Gebildes offenbart immer zugleich dessen Bedeutsamkeit pse_046.031 und hebt es damit in höhere menschliche Bereiche, denen pse_046.032 der Schund völlig fern steht. Schund ist nie Kunst, eben aus pse_046.033 dem Wesen der Kunst heraus, höchstens mehr oder weniger pse_046.034 raffinierte Imitation.
pse_046.035 Eine zweite Gruppe von sprachkünstlerischen Randerscheinungen pse_046.036 umfaßt die sogenannte Tendenzdichtung. Es sind pse_046.037 Sprachwerke, die im üblichen Kleide der Dichtung auftreten: pse_046.038 als Roman, Drama, Lyrik usw., in sprachkünstlerischer Form,
pse_046.001 bleibt leer, die üblichen Formen des Lieblichen, Sehnsüchtigen, pse_046.002 Unheimlichen sind Hülsen, daher wertlos.
pse_046.003 Gehört der Schund noch in unseren Bereich? Auch er pse_046.004 bemäntelt sich mit Hüllen der Poetik, nennt sich Roman, pse_046.005 Novelle, Balladensammlung usw. Wir sprechen von Schund, pse_046.006 wenn bestimmte Seiten und Triebe des Menschen erregt pse_046.007 werden, die an sich natürlich sind, aber in ihrer Vereinzelung pse_046.008 unsittlich werden: das Kriminelle, Sexuelle usw. Und da pse_046.009 gibt es nun sofort einen sehr brauchbaren Vergleich, der den pse_046.010 Schuld in seinem Wesen enthüllt. Es dürfte wohl kaum gewagtere pse_046.011 Situationen geben, als sie in manchen der Boccaccio- pse_046.012 Novellen vorkommen. Aber warum werden die nicht als pse_046.013 Schund bezeichnet? Weil es Kunstwerke sind! Aber hier pse_046.014 könnte man den Einwurf machen, wir seien der Ansicht, pse_046.015 schöne Form rechtfertige und entschuldige jede gehaltliche pse_046.016 Unsittlichkeit und Unmöglichkeit. Aber gerade hier können pse_046.017 wir tiefer ins Wesen des Kunstwerks hineinsehen. Es dürfte pse_046.018 kaum einen Schundroman geben, der »künstlerisch« vollendet pse_046.019 wäre. Denn höchste Lebendigkeit, Fülle und Gestaltetheit der pse_046.020 Sprachgebung ist eben immer zugleich Erscheinen eines pse_046.021 Tieferen und wirkt daher auf die Tiefen des Menschen. Wo pse_046.022 bloße Formglattheit oder -korrektheit nach Regeln und pse_046.023 Mustern oder gekonnte Glätte oder Raffiniertheit vorliegt, pse_046.024 fehlt eben gerade das, was den ästhetischen Gegenstand ausmacht: pse_046.025 daß alle diese Schönheit zugleich ein Tieferes, pse_046.026 Hintergründiges offenbart, das nicht als Selbständiges noch pse_046.027 dazu käme, sondern eben in dieser vollendeten Gestalt allein pse_046.028 und sonst nirgends im Rahmen dieses Kunstwerks da ist. Mit pse_046.029 anderen Worten: Besinnung auf die Grundgesetze des ästhetischen pse_046.030 Gebildes offenbart immer zugleich dessen Bedeutsamkeit pse_046.031 und hebt es damit in höhere menschliche Bereiche, denen pse_046.032 der Schund völlig fern steht. Schund ist nie Kunst, eben aus pse_046.033 dem Wesen der Kunst heraus, höchstens mehr oder weniger pse_046.034 raffinierte Imitation.
pse_046.035 Eine zweite Gruppe von sprachkünstlerischen Randerscheinungen pse_046.036 umfaßt die sogenannte Tendenzdichtung. Es sind pse_046.037 Sprachwerke, die im üblichen Kleide der Dichtung auftreten: pse_046.038 als Roman, Drama, Lyrik usw., in sprachkünstlerischer Form,
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pse_046.001
bleibt leer, die üblichen Formen des Lieblichen, Sehnsüchtigen, pse_046.002
Unheimlichen sind Hülsen, daher wertlos.
pse_046.003
Gehört der Schund noch in unseren Bereich? Auch er pse_046.004
bemäntelt sich mit Hüllen der Poetik, nennt sich Roman, pse_046.005
Novelle, Balladensammlung usw. Wir sprechen von Schund, pse_046.006
wenn bestimmte Seiten und Triebe des Menschen erregt pse_046.007
werden, die an sich natürlich sind, aber in ihrer Vereinzelung pse_046.008
unsittlich werden: das Kriminelle, Sexuelle usw. Und da pse_046.009
gibt es nun sofort einen sehr brauchbaren Vergleich, der den pse_046.010
Schuld in seinem Wesen enthüllt. Es dürfte wohl kaum gewagtere pse_046.011
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Novellen vorkommen. Aber warum werden die nicht als pse_046.013
Schund bezeichnet? Weil es Kunstwerke sind! Aber hier pse_046.014
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Unsittlichkeit und Unmöglichkeit. Aber gerade hier können pse_046.017
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kaum einen Schundroman geben, der »künstlerisch« vollendet pse_046.019
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Sprachgebung ist eben immer zugleich Erscheinen eines pse_046.021
Tieferen und wirkt daher auf die Tiefen des Menschen. Wo pse_046.022
bloße Formglattheit oder -korrektheit nach Regeln und pse_046.023
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Hintergründiges offenbart, das nicht als Selbständiges noch pse_046.027
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Gebildes offenbart immer zugleich dessen Bedeutsamkeit pse_046.031
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der Schund völlig fern steht. Schund ist nie Kunst, eben aus pse_046.033
dem Wesen der Kunst heraus, höchstens mehr oder weniger pse_046.034
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als Roman, Drama, Lyrik usw., in sprachkünstlerischer Form,
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/62>, abgerufen am 26.11.2024.
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