pse_592.001 Hintergründe. Aus den alten Chören und ihren Funktionen pse_592.002 haben sich Sproßformen gebildet: die Vertrautenrollen, die pse_592.003 Monologe, die verschiedenen lyrischen Einlagen. 2. Eine pse_592.004 Gruppe, die gleichsam unter den Vorgang hinuntergebaut ist, pse_592.005 das Untere bildet: die Masse. In sie kann das Unedle und Gemeine pse_592.006 abreagiert werden. Die Masse gestaltet damit auch das pse_592.007 Milieu, in dem die Handlung abläuft, wie in Goethes "Egmont"; pse_592.008 in ihr spiegelt sich teilweise der Held, so Florian pse_592.009 Geyer; sie kann auch an der Handlung teilnehmen oder pse_592.010 wesentliches Glied der Handlung sein und sich dabei veredeln pse_592.011 ("Tell"). Sie hat also mannigfache Aufgaben.
pse_592.012 Die Rolle der Figuren im Gesamtbau des Dramas kann verschieden pse_592.013 sein. Man kann zunächst grobschlächtig ein Handlungs- pse_592.014 und ein Charakterdrama unterscheiden, jenes vor allem pse_592.015 in der Antike, dieses bei Shakespeare sehen. Verschiedene pse_592.016 Zeiten haben die beiden Möglichkeiten verschieden gewertet. pse_592.017 Aber die Grundfrage, die auch hier zu stellen ist, läßt drei pse_592.018 Arten zu, und damit auch eine dreifache Rolle der Figuren. pse_592.019 Diese Frage ist: worin wurzelt das Dramatische? Worin pse_592.020 offenbart sich im dramatischen Vorgang vor allem die Urgespaltenheit? pse_592.021 Die drei Arten sind natürlich idealisierte Reinformen. pse_592.022 Das Dramatische kann zunächst im Wesen bestimmter pse_592.023 Menschen ruhen: Hamlet, Macbeth, Lear, Othello, aber pse_592.024 auch Gestalten Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns. In diesem pse_592.025 Wesen oder in seiner Auseinandersetzung mit der Mitwelt pse_592.026 enthüllt sich die ewige Seinsgespanntheit. Dann in einer bestimmten pse_592.027 Handlung: so in "Antigone", "Ödipus", in Shakespeares pse_592.028 "Cäsar", in "Maria Stuart". Die Menschen werden pse_592.029 in eine bestimmte Konstellation hineingerissen, sie müssen pse_592.030 darauf reagieren, und daraus enthüllt sich wieder das Urdramatische. pse_592.031 Endlich offenbaren die irdische Handlung und pse_592.032 die in ihr sich auswirkenden Gestalten über das Einmalige der pse_592.033 Handlung und das Dasein der Personen hinaus die Weltstruktur, pse_592.034 Handlung und Personen werden zu dichterischen pse_592.035 Symbolen für den Bau der Welt. Erst in dieser Enthüllung pse_592.036 eines Transzendenten oder Metaphysischen haben wir den pse_592.037 eigentlichen Sinn des Dramas. Die Urgespaltenheit liegt entweder pse_592.038 in der Weltstruktur oder in der Spannung Diesseits --
pse_592.001 Hintergründe. Aus den alten Chören und ihren Funktionen pse_592.002 haben sich Sproßformen gebildet: die Vertrautenrollen, die pse_592.003 Monologe, die verschiedenen lyrischen Einlagen. 2. Eine pse_592.004 Gruppe, die gleichsam unter den Vorgang hinuntergebaut ist, pse_592.005 das Untere bildet: die Masse. In sie kann das Unedle und Gemeine pse_592.006 abreagiert werden. Die Masse gestaltet damit auch das pse_592.007 Milieu, in dem die Handlung abläuft, wie in Goethes »Egmont«; pse_592.008 in ihr spiegelt sich teilweise der Held, so Florian pse_592.009 Geyer; sie kann auch an der Handlung teilnehmen oder pse_592.010 wesentliches Glied der Handlung sein und sich dabei veredeln pse_592.011 (»Tell«). Sie hat also mannigfache Aufgaben.
pse_592.012 Die Rolle der Figuren im Gesamtbau des Dramas kann verschieden pse_592.013 sein. Man kann zunächst grobschlächtig ein Handlungs- pse_592.014 und ein Charakterdrama unterscheiden, jenes vor allem pse_592.015 in der Antike, dieses bei Shakespeare sehen. Verschiedene pse_592.016 Zeiten haben die beiden Möglichkeiten verschieden gewertet. pse_592.017 Aber die Grundfrage, die auch hier zu stellen ist, läßt drei pse_592.018 Arten zu, und damit auch eine dreifache Rolle der Figuren. pse_592.019 Diese Frage ist: worin wurzelt das Dramatische? Worin pse_592.020 offenbart sich im dramatischen Vorgang vor allem die Urgespaltenheit? pse_592.021 Die drei Arten sind natürlich idealisierte Reinformen. pse_592.022 Das Dramatische kann zunächst im Wesen bestimmter pse_592.023 Menschen ruhen: Hamlet, Macbeth, Lear, Othello, aber pse_592.024 auch Gestalten Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns. In diesem pse_592.025 Wesen oder in seiner Auseinandersetzung mit der Mitwelt pse_592.026 enthüllt sich die ewige Seinsgespanntheit. Dann in einer bestimmten pse_592.027 Handlung: so in »Antigone«, »Ödipus«, in Shakespeares pse_592.028 »Cäsar«, in »Maria Stuart«. Die Menschen werden pse_592.029 in eine bestimmte Konstellation hineingerissen, sie müssen pse_592.030 darauf reagieren, und daraus enthüllt sich wieder das Urdramatische. pse_592.031 Endlich offenbaren die irdische Handlung und pse_592.032 die in ihr sich auswirkenden Gestalten über das Einmalige der pse_592.033 Handlung und das Dasein der Personen hinaus die Weltstruktur, pse_592.034 Handlung und Personen werden zu dichterischen pse_592.035 Symbolen für den Bau der Welt. Erst in dieser Enthüllung pse_592.036 eines Transzendenten oder Metaphysischen haben wir den pse_592.037 eigentlichen Sinn des Dramas. Die Urgespaltenheit liegt entweder pse_592.038 in der Weltstruktur oder in der Spannung Diesseits —
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0608"n="592"/><lbn="pse_592.001"/>
Hintergründe. Aus den alten Chören und ihren Funktionen <lbn="pse_592.002"/>
haben sich Sproßformen gebildet: die Vertrautenrollen, die <lbn="pse_592.003"/>
Monologe, die verschiedenen lyrischen Einlagen. 2. Eine <lbn="pse_592.004"/>
Gruppe, die gleichsam unter den Vorgang hinuntergebaut ist, <lbn="pse_592.005"/>
das Untere bildet: die Masse. In sie kann das Unedle und Gemeine <lbn="pse_592.006"/>
abreagiert werden. Die Masse gestaltet damit auch das <lbn="pse_592.007"/>
Milieu, in dem die Handlung abläuft, wie in Goethes »Egmont«; <lbn="pse_592.008"/>
in ihr spiegelt sich teilweise der Held, so Florian <lbn="pse_592.009"/>
Geyer; sie kann auch an der Handlung teilnehmen oder <lbn="pse_592.010"/>
wesentliches Glied der Handlung sein und sich dabei veredeln <lbn="pse_592.011"/>
(»Tell«). Sie hat also mannigfache Aufgaben.</p><p><lbn="pse_592.012"/>
Die Rolle der Figuren im Gesamtbau des Dramas kann verschieden <lbn="pse_592.013"/>
sein. Man kann zunächst grobschlächtig ein Handlungs- <lbn="pse_592.014"/>
und ein Charakterdrama unterscheiden, jenes vor allem <lbn="pse_592.015"/>
in der Antike, dieses bei Shakespeare sehen. Verschiedene <lbn="pse_592.016"/>
Zeiten haben die beiden Möglichkeiten verschieden gewertet. <lbn="pse_592.017"/>
Aber die Grundfrage, die auch hier zu stellen ist, läßt drei <lbn="pse_592.018"/>
Arten zu, und damit auch eine dreifache Rolle der Figuren. <lbn="pse_592.019"/>
Diese Frage ist: worin wurzelt das Dramatische? Worin <lbn="pse_592.020"/>
offenbart sich im dramatischen Vorgang vor allem die Urgespaltenheit? <lbn="pse_592.021"/>
Die drei Arten sind natürlich idealisierte Reinformen. <lbn="pse_592.022"/>
Das Dramatische kann zunächst im Wesen bestimmter <lbn="pse_592.023"/>
Menschen ruhen: Hamlet, Macbeth, Lear, Othello, aber <lbn="pse_592.024"/>
auch Gestalten Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns. In diesem <lbn="pse_592.025"/>
Wesen oder in seiner Auseinandersetzung mit der Mitwelt <lbn="pse_592.026"/>
enthüllt sich die ewige Seinsgespanntheit. Dann in einer bestimmten <lbn="pse_592.027"/>
Handlung: so in »Antigone«, »Ödipus«, in Shakespeares <lbn="pse_592.028"/>
»Cäsar«, in »Maria Stuart«. Die Menschen werden <lbn="pse_592.029"/>
in eine bestimmte Konstellation hineingerissen, sie müssen <lbn="pse_592.030"/>
darauf reagieren, und daraus enthüllt sich wieder das Urdramatische. <lbn="pse_592.031"/>
Endlich offenbaren die irdische Handlung und <lbn="pse_592.032"/>
die in ihr sich auswirkenden Gestalten über das Einmalige der <lbn="pse_592.033"/>
Handlung und das Dasein der Personen hinaus die Weltstruktur, <lbn="pse_592.034"/>
Handlung und Personen werden zu dichterischen <lbn="pse_592.035"/>
Symbolen für den Bau der Welt. Erst in dieser Enthüllung <lbn="pse_592.036"/>
eines Transzendenten oder Metaphysischen haben wir den <lbn="pse_592.037"/>
eigentlichen Sinn des Dramas. Die Urgespaltenheit liegt entweder <lbn="pse_592.038"/>
in der Weltstruktur oder in der Spannung Diesseits —</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[592/0608]
pse_592.001
Hintergründe. Aus den alten Chören und ihren Funktionen pse_592.002
haben sich Sproßformen gebildet: die Vertrautenrollen, die pse_592.003
Monologe, die verschiedenen lyrischen Einlagen. 2. Eine pse_592.004
Gruppe, die gleichsam unter den Vorgang hinuntergebaut ist, pse_592.005
das Untere bildet: die Masse. In sie kann das Unedle und Gemeine pse_592.006
abreagiert werden. Die Masse gestaltet damit auch das pse_592.007
Milieu, in dem die Handlung abläuft, wie in Goethes »Egmont«; pse_592.008
in ihr spiegelt sich teilweise der Held, so Florian pse_592.009
Geyer; sie kann auch an der Handlung teilnehmen oder pse_592.010
wesentliches Glied der Handlung sein und sich dabei veredeln pse_592.011
(»Tell«). Sie hat also mannigfache Aufgaben.
pse_592.012
Die Rolle der Figuren im Gesamtbau des Dramas kann verschieden pse_592.013
sein. Man kann zunächst grobschlächtig ein Handlungs- pse_592.014
und ein Charakterdrama unterscheiden, jenes vor allem pse_592.015
in der Antike, dieses bei Shakespeare sehen. Verschiedene pse_592.016
Zeiten haben die beiden Möglichkeiten verschieden gewertet. pse_592.017
Aber die Grundfrage, die auch hier zu stellen ist, läßt drei pse_592.018
Arten zu, und damit auch eine dreifache Rolle der Figuren. pse_592.019
Diese Frage ist: worin wurzelt das Dramatische? Worin pse_592.020
offenbart sich im dramatischen Vorgang vor allem die Urgespaltenheit? pse_592.021
Die drei Arten sind natürlich idealisierte Reinformen. pse_592.022
Das Dramatische kann zunächst im Wesen bestimmter pse_592.023
Menschen ruhen: Hamlet, Macbeth, Lear, Othello, aber pse_592.024
auch Gestalten Ibsens, Strindbergs, Hauptmanns. In diesem pse_592.025
Wesen oder in seiner Auseinandersetzung mit der Mitwelt pse_592.026
enthüllt sich die ewige Seinsgespanntheit. Dann in einer bestimmten pse_592.027
Handlung: so in »Antigone«, »Ödipus«, in Shakespeares pse_592.028
»Cäsar«, in »Maria Stuart«. Die Menschen werden pse_592.029
in eine bestimmte Konstellation hineingerissen, sie müssen pse_592.030
darauf reagieren, und daraus enthüllt sich wieder das Urdramatische. pse_592.031
Endlich offenbaren die irdische Handlung und pse_592.032
die in ihr sich auswirkenden Gestalten über das Einmalige der pse_592.033
Handlung und das Dasein der Personen hinaus die Weltstruktur, pse_592.034
Handlung und Personen werden zu dichterischen pse_592.035
Symbolen für den Bau der Welt. Erst in dieser Enthüllung pse_592.036
eines Transzendenten oder Metaphysischen haben wir den pse_592.037
eigentlichen Sinn des Dramas. Die Urgespaltenheit liegt entweder pse_592.038
in der Weltstruktur oder in der Spannung Diesseits —
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/608>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.