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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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so viele Aufbauformen. Es ist auch möglich, noch mehr pse_580.002
Dramen zu einer umfassenderen Einheit zu binden; man kann pse_580.003
dann an die zyklische Anlage moderner Romane denken. pse_580.004
So kann man in den Königsdramen Shakespeares eine große pse_580.005
innere Einheit sehen. Goethe und Schiller haben diese Einheit pse_580.006
schon erkannt und Dingelstedt sie in den Aufführungen 1864 pse_580.007
hervorgehoben. Die Reihung der inneren Einheit stimmt pse_580.008
nicht mit der Entstehungszeit überein. "Richard II." bringt als pse_580.009
erste Höhe ein Ahnen des Ganzen. Die beiden Teile "Heinrichs pse_580.010
IV." und "Heinrich V." bilden mehr eine epische Füllung, pse_580.011
die drei Teile "Heinrichs VI." die nächste Höhe, pse_580.012
"Richard III." als dritte Höhe Absturz und Ausblick. Die pse_580.013
Gliederung mehrteiliger Dramen erfolgt nicht nach einem pse_580.014
Schema, sondern nach der Rhythmik der Umschläge. Auch pse_580.015
Überraschungen und scheinbare Abwege lassen sich aus dem pse_580.016
Wesen des Dramatischen und aus dem Grundsatz der Gespanntheit pse_580.017
erklären.

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Wie für die epische Vorgangsgestaltung sind auch für die pse_580.019
dramatische Zeit und Raum wichtig. Schon aus der sprachlichen pse_580.020
Struktur ergibt sich das: alle Sprachgestaltung läuft zeitlich pse_580.021
ab, und Dialoge sind raumbedingt, oft aber auch durch die pse_580.022
Kunst des Dichters geradezu raumschaffend. Der Zeitablauf pse_580.023
verschafft dem Vorgang die Tendenz auf das Kommende und pse_580.024
macht Spannungen und Gegensätze fühlbar. Der Raum bietet pse_580.025
besondere Möglichkeiten, die Urgespaltenheit eindrucksvoll pse_580.026
zu betonen. Vor allem aber sind gerade diese beiden Kategorien pse_580.027
imstande, die scharfe und meist abstrahierende Durchführung pse_580.028
eines Vorgangs in eine Atmosphäre, eine erlebbare pse_580.029
Umwelt, eine besondere Gestimmtheit zu tauchen. Die Gefahr, pse_580.030
nur bruchstückhafte Handlungsteile zu geben, wird dadurch pse_580.031
stark vermindert.

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Verwesentlichung und Verdichtung verlangen Einschränkung pse_580.033
des Zeitraums. Durch solche Raffung kann auch das pse_580.034
Zeitliche symbolisch werden. Zur Beleuchtung der künstlerischen pse_580.035
Möglichkeiten unterscheidet man am besten Zeiterstreckung pse_580.036
Zeitdauer und Zeitbewältigung. 1. Die Zeiterstreckung pse_580.037
meint die Meßbarkeit des Handlungsablaufs. Hier pse_580.038
wird gefragt: wann beginnt die Handlung, wie lange dauert

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Dramen zu einer umfassenderen Einheit zu binden; man kann pse_580.003
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innere Einheit sehen. Goethe und Schiller haben diese Einheit pse_580.006
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nicht mit der Entstehungszeit überein. »Richard II.« bringt als pse_580.009
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»Richard III.« als dritte Höhe Absturz und Ausblick. Die pse_580.013
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Schema, sondern nach der Rhythmik der Umschläge. Auch pse_580.015
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Wesen des Dramatischen und aus dem Grundsatz der Gespanntheit pse_580.017
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Struktur ergibt sich das: alle Sprachgestaltung läuft zeitlich pse_580.021
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Kunst des Dichters geradezu raumschaffend. Der Zeitablauf pse_580.023
verschafft dem Vorgang die Tendenz auf das Kommende und pse_580.024
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Umwelt, eine besondere Gestimmtheit zu tauchen. Die Gefahr, pse_580.030
nur bruchstückhafte Handlungsteile zu geben, wird dadurch pse_580.031
stark vermindert.

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des Zeitraums. Durch solche Raffung kann auch das pse_580.034
Zeitliche symbolisch werden. Zur Beleuchtung der künstlerischen pse_580.035
Möglichkeiten unterscheidet man am besten Zeiterstreckung pse_580.036
Zeitdauer und Zeitbewältigung. 1. Die Zeiterstreckung pse_580.037
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[580/0596] pse_580.001 so viele Aufbauformen. Es ist auch möglich, noch mehr pse_580.002 Dramen zu einer umfassenderen Einheit zu binden; man kann pse_580.003 dann an die zyklische Anlage moderner Romane denken. pse_580.004 So kann man in den Königsdramen Shakespeares eine große pse_580.005 innere Einheit sehen. Goethe und Schiller haben diese Einheit pse_580.006 schon erkannt und Dingelstedt sie in den Aufführungen 1864 pse_580.007 hervorgehoben. Die Reihung der inneren Einheit stimmt pse_580.008 nicht mit der Entstehungszeit überein. »Richard II.« bringt als pse_580.009 erste Höhe ein Ahnen des Ganzen. Die beiden Teile »Heinrichs pse_580.010 IV.« und »Heinrich V.« bilden mehr eine epische Füllung, pse_580.011 die drei Teile »Heinrichs VI.« die nächste Höhe, pse_580.012 »Richard III.« als dritte Höhe Absturz und Ausblick. Die pse_580.013 Gliederung mehrteiliger Dramen erfolgt nicht nach einem pse_580.014 Schema, sondern nach der Rhythmik der Umschläge. Auch pse_580.015 Überraschungen und scheinbare Abwege lassen sich aus dem pse_580.016 Wesen des Dramatischen und aus dem Grundsatz der Gespanntheit pse_580.017 erklären. pse_580.018 Wie für die epische Vorgangsgestaltung sind auch für die pse_580.019 dramatische Zeit und Raum wichtig. Schon aus der sprachlichen pse_580.020 Struktur ergibt sich das: alle Sprachgestaltung läuft zeitlich pse_580.021 ab, und Dialoge sind raumbedingt, oft aber auch durch die pse_580.022 Kunst des Dichters geradezu raumschaffend. Der Zeitablauf pse_580.023 verschafft dem Vorgang die Tendenz auf das Kommende und pse_580.024 macht Spannungen und Gegensätze fühlbar. Der Raum bietet pse_580.025 besondere Möglichkeiten, die Urgespaltenheit eindrucksvoll pse_580.026 zu betonen. Vor allem aber sind gerade diese beiden Kategorien pse_580.027 imstande, die scharfe und meist abstrahierende Durchführung pse_580.028 eines Vorgangs in eine Atmosphäre, eine erlebbare pse_580.029 Umwelt, eine besondere Gestimmtheit zu tauchen. Die Gefahr, pse_580.030 nur bruchstückhafte Handlungsteile zu geben, wird dadurch pse_580.031 stark vermindert. pse_580.032 Verwesentlichung und Verdichtung verlangen Einschränkung pse_580.033 des Zeitraums. Durch solche Raffung kann auch das pse_580.034 Zeitliche symbolisch werden. Zur Beleuchtung der künstlerischen pse_580.035 Möglichkeiten unterscheidet man am besten Zeiterstreckung pse_580.036 Zeitdauer und Zeitbewältigung. 1. Die Zeiterstreckung pse_580.037 meint die Meßbarkeit des Handlungsablaufs. Hier pse_580.038 wird gefragt: wann beginnt die Handlung, wie lange dauert

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 580. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/596>, abgerufen am 25.11.2024.