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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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aber lange nicht für alle. Wir stellen besser fest: der Vorgang pse_575.002
entfaltet sich in bestimmter Weise: Man hat neuerdings zwei pse_575.003
allgemeinste Wege dafür erkannt: ein Vorgang vollzieht sich pse_575.004
in Form einer allmählichen Aufdeckung. Das berühmteste Beispiel pse_575.005
bleibt immer der "Ödipus". Hier ist keine strenge Geschehnisverknüpfung pse_575.006
nötig. Ein anderer Vorgang bildet eine pse_575.007
Entfaltung. Man denkt an "Lear", aus dessen Reichsteilung die pse_575.008
ganze Tragödie erfließt. Hier verknüpfen sich alle Schritte pse_575.009
genau. Natürlich gibt es Zwischenformen.

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Im Ablauf des Vorgangs kann man bestimmte Kraftpunkte pse_575.011
erkennen, wo man spürt, wie der Vorgang einen deutlichen pse_575.012
Ruck nach vorwärts macht. Drei sind vor allem wichtig: pse_575.013
1. Der Anfang. Selten setzt die Handlung sofort deutlich ein. pse_575.014
Sie greift ja eigentlich mitten aus einem Dauervorgang einen pse_575.015
bestimmten Abschnitt heraus. Was vorher geschah und zum pse_575.016
Einsatz führt, kann entweder durch einen Prolog ganz schlicht, pse_575.017
aber undramatisch mitgeteilt werden oder wird in künstlerischer pse_575.018
Weise in die ersten Phasen des Vorgangs hineinverflochten. pse_575.019
Man nennt das die Exposition, die sich auf mehrere Akte pse_575.020
verteilen kann. Sie kann auch darin bestehen, daß eine Anfangslage pse_575.021
noch unklarer wird, so in der "Penthesilea". Dabei pse_575.022
gibt es Dramen, die gleichsam nur mehr den Schluß eines pse_575.023
großen Vorgangs geben und alles andere als Vorfabel in geeigneter pse_575.024
Weise in Dialogen oder Berichten einbauen. Man pse_575.025
spricht da auch von analytischen Dramen, die nur mehr den pse_575.026
Schluß aus einer Entwicklung ziehen: "Ödipus", "Maria pse_575.027
Stuart", "Gespenster". Man kann den Teil bis zum deutlichen pse_575.028
Einsatz der Handlung als Eingang bezeichnen. Dieser Einsatz pse_575.029
ist der erste deutliche Kraftpunkt. 2. In einem Vorgangsablauf pse_575.030
gibt es dann meist mehrere Gipfel und Wenden. Vier solcher pse_575.031
Wenden stellen wir in Goethes "Iphigenie" fest: sie muß pse_575.032
wieder opfern, zugleich sind Fremde da. -- Iphigenie erfährt pse_575.033
das Schicksal ihres Hauses. -- Iphigenie erkennt Orest und sieht pse_575.034
ihn leiden. -- Iphigenie zweifelt an den Göttern. Diese vier pse_575.035
Stufen vertiefenden Leids sind begleitet von versöhnenden pse_575.036
Wirkungen Iphigeniens. In der gegenseitigen Verschlungenheit pse_575.037
und Steigerung dieser Motive besteht der Aufbau. 3. Die pse_575.038
Katastrophe ist die endgültige Wendung. Vor der letzten

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allgemeinste Wege dafür erkannt: ein Vorgang vollzieht sich pse_575.004
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ganze Tragödie erfließt. Hier verknüpfen sich alle Schritte pse_575.009
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Im Ablauf des Vorgangs kann man bestimmte Kraftpunkte pse_575.011
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Ruck nach vorwärts macht. Drei sind vor allem wichtig: pse_575.013
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gibt es dann meist mehrere Gipfel und Wenden. Vier solcher pse_575.031
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wieder opfern, zugleich sind Fremde da. — Iphigenie erfährt pse_575.033
das Schicksal ihres Hauses. — Iphigenie erkennt Orest und sieht pse_575.034
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Stufen vertiefenden Leids sind begleitet von versöhnenden pse_575.036
Wirkungen Iphigeniens. In der gegenseitigen Verschlungenheit pse_575.037
und Steigerung dieser Motive besteht der Aufbau. 3. Die pse_575.038
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/591>, abgerufen am 22.11.2024.