pse_563.001 die Vergangenheit lebendig zu machen, wie das Scott pse_563.002 in seinen Romanen vor allem getan hat.
pse_563.003 Aus diesen Überlegungen kann man dann wirklich zu einer pse_563.004 Art Typologie des Geschichtsromans kommen. Voraussetzung pse_563.005 ist: auch der Geschichtsroman ist Roman, ist Dichtung. pse_563.006 Er ist nach allen Gesichtspunkten und Wertmaßstäben zu pse_563.007 beurteilen, die für jede Dichtung und jeden Roman wesentlich pse_563.008 sind. Eine erste Stufe im dichterischen Rang stellt die pse_563.009 Belletristik dar. Geschichtlicher Stoff wird in angenehmer, pse_563.010 unterhaltender und spannender Weise erzählt. Die zweite pse_563.011 Stufe bilden die Romane, die durch den erzählten Vorgang pse_563.012 und um ihn herum ein Kulturbild entwerfen. Dichterisch pse_563.013 am höchsten stehen die Romane, die die Geschichte selbst als pse_563.014 einen Lebensprozeß, nun aber einer Gemeinschaft, eines Volkes, pse_563.015 erleben und gestalten. Der an sich bedeutsame Vorgang pse_563.016 wird nun künstlerisch verdichtet und durch die sprachkünstlerische pse_563.017 Formung und den Aufbau zu einer dichterischen pse_563.018 Wirklichkeit erhöht, von der aus eine außersprachliche pse_563.019 Wirklichkeit ihre Bedeutung als Folie verliert. Am höchsten pse_563.020 in die dichterischen Bereiche gehören diese letzte Art von pse_563.021 Romanen dann, wenn sie zugleich ein Weltbild mitformen, pse_563.022 wenn die erzählerisch gestalteten Vorgänge geradezu religiös pse_563.023 durchleuchtet werden. So wird in C. F. Meyers "Jürg Jenatsch" pse_563.024 ein Weltbild dichterisch wirkungsvoll, das vor allem pse_563.025 die Tragik und Ausweglosigkeit, die dauernde Gefährdung pse_563.026 des inneren menschlichen Wertes in der Geschichte herausformt. pse_563.027 In Stifters "Witiko" wird der Geschichtsvorgang selbst pse_563.028 als das Tiefere hinter all den Ereignissen erzählt, und in ihm pse_563.029 offenbart sich eine ganz andere Weltsicht: die immer wieder pse_563.030 zu erringende und errungene Herstellung einer hohen Menschheitsordnung pse_563.031 als Widerschein göttlichen Wollens. Hier erreicht pse_563.032 der Geschichtsdichter höchste Verwesentlichung innerhalb pse_563.033 einer rein dichterisch gestalteten Welt.
pse_563.034 Von demselben Gesichtspunkt aus haben wir auch die sogenannten pse_563.035 utopischen Romane zu werten, die nicht erst pse_563.036 unser Jahrhundert geschaffen hat. In ihnen wird immer dichterisch pse_563.037 ein Zukunftsbild entworfen, als geschlossener und pse_563.038 bereits beendeter Vorgang gestaltet und daher meistens in der
pse_563.001 die Vergangenheit lebendig zu machen, wie das Scott pse_563.002 in seinen Romanen vor allem getan hat.
pse_563.003 Aus diesen Überlegungen kann man dann wirklich zu einer pse_563.004 Art Typologie des Geschichtsromans kommen. Voraussetzung pse_563.005 ist: auch der Geschichtsroman ist Roman, ist Dichtung. pse_563.006 Er ist nach allen Gesichtspunkten und Wertmaßstäben zu pse_563.007 beurteilen, die für jede Dichtung und jeden Roman wesentlich pse_563.008 sind. Eine erste Stufe im dichterischen Rang stellt die pse_563.009 Belletristik dar. Geschichtlicher Stoff wird in angenehmer, pse_563.010 unterhaltender und spannender Weise erzählt. Die zweite pse_563.011 Stufe bilden die Romane, die durch den erzählten Vorgang pse_563.012 und um ihn herum ein Kulturbild entwerfen. Dichterisch pse_563.013 am höchsten stehen die Romane, die die Geschichte selbst als pse_563.014 einen Lebensprozeß, nun aber einer Gemeinschaft, eines Volkes, pse_563.015 erleben und gestalten. Der an sich bedeutsame Vorgang pse_563.016 wird nun künstlerisch verdichtet und durch die sprachkünstlerische pse_563.017 Formung und den Aufbau zu einer dichterischen pse_563.018 Wirklichkeit erhöht, von der aus eine außersprachliche pse_563.019 Wirklichkeit ihre Bedeutung als Folie verliert. Am höchsten pse_563.020 in die dichterischen Bereiche gehören diese letzte Art von pse_563.021 Romanen dann, wenn sie zugleich ein Weltbild mitformen, pse_563.022 wenn die erzählerisch gestalteten Vorgänge geradezu religiös pse_563.023 durchleuchtet werden. So wird in C. F. Meyers »Jürg Jenatsch« pse_563.024 ein Weltbild dichterisch wirkungsvoll, das vor allem pse_563.025 die Tragik und Ausweglosigkeit, die dauernde Gefährdung pse_563.026 des inneren menschlichen Wertes in der Geschichte herausformt. pse_563.027 In Stifters »Witiko« wird der Geschichtsvorgang selbst pse_563.028 als das Tiefere hinter all den Ereignissen erzählt, und in ihm pse_563.029 offenbart sich eine ganz andere Weltsicht: die immer wieder pse_563.030 zu erringende und errungene Herstellung einer hohen Menschheitsordnung pse_563.031 als Widerschein göttlichen Wollens. Hier erreicht pse_563.032 der Geschichtsdichter höchste Verwesentlichung innerhalb pse_563.033 einer rein dichterisch gestalteten Welt.
pse_563.034 Von demselben Gesichtspunkt aus haben wir auch die sogenannten pse_563.035 utopischen Romane zu werten, die nicht erst pse_563.036 unser Jahrhundert geschaffen hat. In ihnen wird immer dichterisch pse_563.037 ein Zukunftsbild entworfen, als geschlossener und pse_563.038 bereits beendeter Vorgang gestaltet und daher meistens in der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0579"n="563"/><lbn="pse_563.001"/>
die Vergangenheit lebendig zu machen, wie das Scott <lbn="pse_563.002"/>
in seinen Romanen vor allem getan hat.</p><p><lbn="pse_563.003"/>
Aus diesen Überlegungen kann man dann wirklich zu einer <lbn="pse_563.004"/>
Art Typologie des Geschichtsromans kommen. Voraussetzung <lbn="pse_563.005"/>
ist: auch der Geschichtsroman ist Roman, ist Dichtung. <lbn="pse_563.006"/>
Er ist nach allen Gesichtspunkten und Wertmaßstäben zu <lbn="pse_563.007"/>
beurteilen, die für jede Dichtung und jeden Roman wesentlich <lbn="pse_563.008"/>
sind. Eine erste Stufe im dichterischen Rang stellt die <lbn="pse_563.009"/>
Belletristik dar. Geschichtlicher Stoff wird in angenehmer, <lbn="pse_563.010"/>
unterhaltender und spannender Weise erzählt. Die zweite <lbn="pse_563.011"/>
Stufe bilden die Romane, die durch den erzählten Vorgang <lbn="pse_563.012"/>
und um ihn herum ein Kulturbild entwerfen. Dichterisch <lbn="pse_563.013"/>
am höchsten stehen die Romane, die die Geschichte selbst als <lbn="pse_563.014"/>
einen Lebensprozeß, nun aber einer Gemeinschaft, eines Volkes, <lbn="pse_563.015"/>
erleben und gestalten. Der an sich bedeutsame Vorgang <lbn="pse_563.016"/>
wird nun künstlerisch verdichtet und durch die sprachkünstlerische <lbn="pse_563.017"/>
Formung und den Aufbau zu einer dichterischen <lbn="pse_563.018"/>
Wirklichkeit erhöht, von der aus eine außersprachliche <lbn="pse_563.019"/>
Wirklichkeit ihre Bedeutung als Folie verliert. Am höchsten <lbn="pse_563.020"/>
in die dichterischen Bereiche gehören diese letzte Art von <lbn="pse_563.021"/>
Romanen dann, wenn sie zugleich ein Weltbild mitformen, <lbn="pse_563.022"/>
wenn die erzählerisch gestalteten Vorgänge geradezu religiös <lbn="pse_563.023"/>
durchleuchtet werden. So wird in C. F. Meyers »Jürg Jenatsch« <lbn="pse_563.024"/>
ein Weltbild dichterisch wirkungsvoll, das vor allem <lbn="pse_563.025"/>
die Tragik und Ausweglosigkeit, die dauernde Gefährdung <lbn="pse_563.026"/>
des inneren menschlichen Wertes in der Geschichte herausformt. <lbn="pse_563.027"/>
In Stifters »Witiko« wird der Geschichtsvorgang selbst <lbn="pse_563.028"/>
als das Tiefere hinter all den Ereignissen erzählt, und in ihm <lbn="pse_563.029"/>
offenbart sich eine ganz andere Weltsicht: die immer wieder <lbn="pse_563.030"/>
zu erringende und errungene Herstellung einer hohen Menschheitsordnung <lbn="pse_563.031"/>
als Widerschein göttlichen Wollens. Hier erreicht <lbn="pse_563.032"/>
der Geschichtsdichter höchste Verwesentlichung innerhalb <lbn="pse_563.033"/>
einer rein dichterisch gestalteten Welt.</p><p><lbn="pse_563.034"/>
Von demselben Gesichtspunkt aus haben wir auch die sogenannten <lbn="pse_563.035"/>
utopischen Romane zu werten, die nicht erst <lbn="pse_563.036"/>
unser Jahrhundert geschaffen hat. In ihnen wird immer dichterisch <lbn="pse_563.037"/>
ein Zukunftsbild entworfen, als geschlossener und <lbn="pse_563.038"/>
bereits beendeter Vorgang gestaltet und daher meistens in der
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[563/0579]
pse_563.001
die Vergangenheit lebendig zu machen, wie das Scott pse_563.002
in seinen Romanen vor allem getan hat.
pse_563.003
Aus diesen Überlegungen kann man dann wirklich zu einer pse_563.004
Art Typologie des Geschichtsromans kommen. Voraussetzung pse_563.005
ist: auch der Geschichtsroman ist Roman, ist Dichtung. pse_563.006
Er ist nach allen Gesichtspunkten und Wertmaßstäben zu pse_563.007
beurteilen, die für jede Dichtung und jeden Roman wesentlich pse_563.008
sind. Eine erste Stufe im dichterischen Rang stellt die pse_563.009
Belletristik dar. Geschichtlicher Stoff wird in angenehmer, pse_563.010
unterhaltender und spannender Weise erzählt. Die zweite pse_563.011
Stufe bilden die Romane, die durch den erzählten Vorgang pse_563.012
und um ihn herum ein Kulturbild entwerfen. Dichterisch pse_563.013
am höchsten stehen die Romane, die die Geschichte selbst als pse_563.014
einen Lebensprozeß, nun aber einer Gemeinschaft, eines Volkes, pse_563.015
erleben und gestalten. Der an sich bedeutsame Vorgang pse_563.016
wird nun künstlerisch verdichtet und durch die sprachkünstlerische pse_563.017
Formung und den Aufbau zu einer dichterischen pse_563.018
Wirklichkeit erhöht, von der aus eine außersprachliche pse_563.019
Wirklichkeit ihre Bedeutung als Folie verliert. Am höchsten pse_563.020
in die dichterischen Bereiche gehören diese letzte Art von pse_563.021
Romanen dann, wenn sie zugleich ein Weltbild mitformen, pse_563.022
wenn die erzählerisch gestalteten Vorgänge geradezu religiös pse_563.023
durchleuchtet werden. So wird in C. F. Meyers »Jürg Jenatsch« pse_563.024
ein Weltbild dichterisch wirkungsvoll, das vor allem pse_563.025
die Tragik und Ausweglosigkeit, die dauernde Gefährdung pse_563.026
des inneren menschlichen Wertes in der Geschichte herausformt. pse_563.027
In Stifters »Witiko« wird der Geschichtsvorgang selbst pse_563.028
als das Tiefere hinter all den Ereignissen erzählt, und in ihm pse_563.029
offenbart sich eine ganz andere Weltsicht: die immer wieder pse_563.030
zu erringende und errungene Herstellung einer hohen Menschheitsordnung pse_563.031
als Widerschein göttlichen Wollens. Hier erreicht pse_563.032
der Geschichtsdichter höchste Verwesentlichung innerhalb pse_563.033
einer rein dichterisch gestalteten Welt.
pse_563.034
Von demselben Gesichtspunkt aus haben wir auch die sogenannten pse_563.035
utopischen Romane zu werten, die nicht erst pse_563.036
unser Jahrhundert geschaffen hat. In ihnen wird immer dichterisch pse_563.037
ein Zukunftsbild entworfen, als geschlossener und pse_563.038
bereits beendeter Vorgang gestaltet und daher meistens in der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 563. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/579>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.