Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

pse_558.001
Gruppen hier aufzuzählen oder gar zu besprechen: Abenteuerroman, pse_558.002
Bauernroman, Großstadtroman, Seeromane, pse_558.003
Robinsonaden, Liebesromane, Reiseromane, Detektivromane, pse_558.004
Kriminalromane usw. Das Entscheidende bleiben in der Dichtung pse_558.005
immer die Gestaltungsfragen und innerhalb ihrer dann pse_558.006
die Fragen nach dem tieferen Gehalt, eben nach Menschen und pse_558.007
Welt. Aber es gibt nun bei der Frage nach dem Inhalt des pse_558.008
Romans doch ganz große Gruppen und einige Sonderfälle, pse_558.009
die geschichtlich eine besondere Bedeutung erlangt haben. pse_558.010
Diese sind hier kurz zu betrachten. Dabei muß beachtet werden, pse_558.011
daß manche Inhalte zugleich eine besondere Gestaltungsweise pse_558.012
bedingen, daß wir also schon unter diesem Gesichtspunkt pse_558.013
einiges erwähnt haben; das ist besonders bei der Unterscheidung pse_558.014
von Handlungs-, Figuren- und Raumromanen, bei der pse_558.015
Betrachtung des Baues vom Einzelmenschen oder vom Weltbild pse_558.016
aus und bei der Unterscheidung von Breite und Konzentration pse_558.017
geschehen. Daß nun ähnliche Einteilungen hier wiederkehren, pse_558.018
ist wieder ein Beweis für die im Kunstwerk selbst pse_558.019
vollkommene Einheit der beiden Seiten, die man in theoretischer pse_558.020
Schau immer als Gehalt und Form auseinanderhalten pse_558.021
muß. Auch unter dem Gesichtspunkt des gestalteten pse_558.022
Inhalts wird es keine scharfe und restlos aufgehende Gliederung pse_558.023
geben.

pse_558.024
Ein erster Typus von Romanen dem Inhalt nach ist der, pse_558.025
dem das Leben eines Menschen oder ein Teil davon als Hauptvorgang pse_558.026
zugrunde liegt. Wir können solche Romane Lebensromane pse_558.027
nennen. Es ist sofort deutlich, daß unter diesen weiten pse_558.028
Rahmen eine Fülle der üblichen Gruppen einzuordnen ist. pse_558.029
Je mehr in einer solchen Romangestaltung die innere, pse_558.030
seelische Entwicklung der Hauptgestalt im Vordergrund steht, pse_558.031
desto eher wird man von Entwicklungsroman sprechen pse_558.032
können. Eine wichtige Gruppe unter diesen ist der sogenannte pse_558.033
Bildungsroman. Er spielt besonders in der deutschen Literatur pse_558.034
eine große Rolle und ist der deutsche Beitrag zum großen pse_558.035
Romanschaffen der Weltliteratur. Aber man muß den Begriff pse_558.036
streng fassen. Dann wird man weder die mittelhochdeutschen pse_558.037
höfischen Epen, vorab den "Parzival", noch etwa den "Simplizissimus" pse_558.038
als Entwicklungsromane oder gar als Bildungsromane

pse_558.001
Gruppen hier aufzuzählen oder gar zu besprechen: Abenteuerroman, pse_558.002
Bauernroman, Großstadtroman, Seeromane, pse_558.003
Robinsonaden, Liebesromane, Reiseromane, Detektivromane, pse_558.004
Kriminalromane usw. Das Entscheidende bleiben in der Dichtung pse_558.005
immer die Gestaltungsfragen und innerhalb ihrer dann pse_558.006
die Fragen nach dem tieferen Gehalt, eben nach Menschen und pse_558.007
Welt. Aber es gibt nun bei der Frage nach dem Inhalt des pse_558.008
Romans doch ganz große Gruppen und einige Sonderfälle, pse_558.009
die geschichtlich eine besondere Bedeutung erlangt haben. pse_558.010
Diese sind hier kurz zu betrachten. Dabei muß beachtet werden, pse_558.011
daß manche Inhalte zugleich eine besondere Gestaltungsweise pse_558.012
bedingen, daß wir also schon unter diesem Gesichtspunkt pse_558.013
einiges erwähnt haben; das ist besonders bei der Unterscheidung pse_558.014
von Handlungs-, Figuren- und Raumromanen, bei der pse_558.015
Betrachtung des Baues vom Einzelmenschen oder vom Weltbild pse_558.016
aus und bei der Unterscheidung von Breite und Konzentration pse_558.017
geschehen. Daß nun ähnliche Einteilungen hier wiederkehren, pse_558.018
ist wieder ein Beweis für die im Kunstwerk selbst pse_558.019
vollkommene Einheit der beiden Seiten, die man in theoretischer pse_558.020
Schau immer als Gehalt und Form auseinanderhalten pse_558.021
muß. Auch unter dem Gesichtspunkt des gestalteten pse_558.022
Inhalts wird es keine scharfe und restlos aufgehende Gliederung pse_558.023
geben.

pse_558.024
Ein erster Typus von Romanen dem Inhalt nach ist der, pse_558.025
dem das Leben eines Menschen oder ein Teil davon als Hauptvorgang pse_558.026
zugrunde liegt. Wir können solche Romane Lebensromane pse_558.027
nennen. Es ist sofort deutlich, daß unter diesen weiten pse_558.028
Rahmen eine Fülle der üblichen Gruppen einzuordnen ist. pse_558.029
Je mehr in einer solchen Romangestaltung die innere, pse_558.030
seelische Entwicklung der Hauptgestalt im Vordergrund steht, pse_558.031
desto eher wird man von Entwicklungsroman sprechen pse_558.032
können. Eine wichtige Gruppe unter diesen ist der sogenannte pse_558.033
Bildungsroman. Er spielt besonders in der deutschen Literatur pse_558.034
eine große Rolle und ist der deutsche Beitrag zum großen pse_558.035
Romanschaffen der Weltliteratur. Aber man muß den Begriff pse_558.036
streng fassen. Dann wird man weder die mittelhochdeutschen pse_558.037
höfischen Epen, vorab den »Parzival«, noch etwa den »Simplizissimus« pse_558.038
als Entwicklungsromane oder gar als Bildungsromane 

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0574" n="558"/><lb n="pse_558.001"/>
Gruppen hier aufzuzählen oder gar zu besprechen: Abenteuerroman, <lb n="pse_558.002"/>
Bauernroman, Großstadtroman, Seeromane, <lb n="pse_558.003"/>
Robinsonaden, Liebesromane, Reiseromane, Detektivromane, <lb n="pse_558.004"/>
Kriminalromane usw. Das Entscheidende bleiben in der Dichtung <lb n="pse_558.005"/>
immer die Gestaltungsfragen und innerhalb ihrer dann <lb n="pse_558.006"/>
die Fragen nach dem tieferen Gehalt, eben nach Menschen und <lb n="pse_558.007"/>
Welt. Aber es gibt nun bei der Frage nach dem Inhalt des <lb n="pse_558.008"/>
Romans doch ganz große Gruppen und einige Sonderfälle, <lb n="pse_558.009"/>
die geschichtlich eine besondere Bedeutung erlangt haben. <lb n="pse_558.010"/>
Diese sind hier kurz zu betrachten. Dabei muß beachtet werden, <lb n="pse_558.011"/>
daß manche Inhalte zugleich eine besondere Gestaltungsweise <lb n="pse_558.012"/>
bedingen, daß wir also schon unter diesem Gesichtspunkt <lb n="pse_558.013"/>
einiges erwähnt haben; das ist besonders bei der Unterscheidung <lb n="pse_558.014"/>
von Handlungs-, Figuren- und Raumromanen, bei der <lb n="pse_558.015"/>
Betrachtung des Baues vom Einzelmenschen oder vom Weltbild <lb n="pse_558.016"/>
aus und bei der Unterscheidung von Breite und Konzentration <lb n="pse_558.017"/>
geschehen. Daß nun ähnliche Einteilungen hier wiederkehren, <lb n="pse_558.018"/>
ist wieder ein Beweis für die im Kunstwerk selbst <lb n="pse_558.019"/>
vollkommene Einheit der beiden Seiten, die man in theoretischer <lb n="pse_558.020"/>
Schau immer als Gehalt und Form auseinanderhalten <lb n="pse_558.021"/>
muß. Auch unter dem Gesichtspunkt des gestalteten <lb n="pse_558.022"/>
Inhalts wird es keine scharfe und restlos aufgehende Gliederung <lb n="pse_558.023"/>
geben.</p>
              <p><lb n="pse_558.024"/>
Ein erster Typus von Romanen dem Inhalt nach ist der, <lb n="pse_558.025"/>
dem das Leben eines Menschen oder ein Teil davon als Hauptvorgang <lb n="pse_558.026"/>
zugrunde liegt. Wir können solche Romane Lebensromane <lb n="pse_558.027"/>
nennen. Es ist sofort deutlich, daß unter diesen weiten <lb n="pse_558.028"/>
Rahmen eine Fülle der üblichen Gruppen einzuordnen ist. <lb n="pse_558.029"/>
Je mehr in einer solchen Romangestaltung die innere, <lb n="pse_558.030"/>
seelische Entwicklung der Hauptgestalt im Vordergrund steht, <lb n="pse_558.031"/>
desto eher wird man von Entwicklungsroman sprechen <lb n="pse_558.032"/>
können. Eine wichtige Gruppe unter diesen ist der sogenannte <lb n="pse_558.033"/>
Bildungsroman. Er spielt besonders in der deutschen Literatur <lb n="pse_558.034"/>
eine große Rolle und ist der deutsche Beitrag zum großen <lb n="pse_558.035"/>
Romanschaffen der Weltliteratur. Aber man muß den Begriff <lb n="pse_558.036"/>
streng fassen. Dann wird man weder die mittelhochdeutschen <lb n="pse_558.037"/>
höfischen Epen, vorab den »Parzival«, noch etwa den »Simplizissimus« <lb n="pse_558.038"/>
als Entwicklungsromane oder gar als Bildungsromane
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[558/0574] pse_558.001 Gruppen hier aufzuzählen oder gar zu besprechen: Abenteuerroman, pse_558.002 Bauernroman, Großstadtroman, Seeromane, pse_558.003 Robinsonaden, Liebesromane, Reiseromane, Detektivromane, pse_558.004 Kriminalromane usw. Das Entscheidende bleiben in der Dichtung pse_558.005 immer die Gestaltungsfragen und innerhalb ihrer dann pse_558.006 die Fragen nach dem tieferen Gehalt, eben nach Menschen und pse_558.007 Welt. Aber es gibt nun bei der Frage nach dem Inhalt des pse_558.008 Romans doch ganz große Gruppen und einige Sonderfälle, pse_558.009 die geschichtlich eine besondere Bedeutung erlangt haben. pse_558.010 Diese sind hier kurz zu betrachten. Dabei muß beachtet werden, pse_558.011 daß manche Inhalte zugleich eine besondere Gestaltungsweise pse_558.012 bedingen, daß wir also schon unter diesem Gesichtspunkt pse_558.013 einiges erwähnt haben; das ist besonders bei der Unterscheidung pse_558.014 von Handlungs-, Figuren- und Raumromanen, bei der pse_558.015 Betrachtung des Baues vom Einzelmenschen oder vom Weltbild pse_558.016 aus und bei der Unterscheidung von Breite und Konzentration pse_558.017 geschehen. Daß nun ähnliche Einteilungen hier wiederkehren, pse_558.018 ist wieder ein Beweis für die im Kunstwerk selbst pse_558.019 vollkommene Einheit der beiden Seiten, die man in theoretischer pse_558.020 Schau immer als Gehalt und Form auseinanderhalten pse_558.021 muß. Auch unter dem Gesichtspunkt des gestalteten pse_558.022 Inhalts wird es keine scharfe und restlos aufgehende Gliederung pse_558.023 geben. pse_558.024 Ein erster Typus von Romanen dem Inhalt nach ist der, pse_558.025 dem das Leben eines Menschen oder ein Teil davon als Hauptvorgang pse_558.026 zugrunde liegt. Wir können solche Romane Lebensromane pse_558.027 nennen. Es ist sofort deutlich, daß unter diesen weiten pse_558.028 Rahmen eine Fülle der üblichen Gruppen einzuordnen ist. pse_558.029 Je mehr in einer solchen Romangestaltung die innere, pse_558.030 seelische Entwicklung der Hauptgestalt im Vordergrund steht, pse_558.031 desto eher wird man von Entwicklungsroman sprechen pse_558.032 können. Eine wichtige Gruppe unter diesen ist der sogenannte pse_558.033 Bildungsroman. Er spielt besonders in der deutschen Literatur pse_558.034 eine große Rolle und ist der deutsche Beitrag zum großen pse_558.035 Romanschaffen der Weltliteratur. Aber man muß den Begriff pse_558.036 streng fassen. Dann wird man weder die mittelhochdeutschen pse_558.037 höfischen Epen, vorab den »Parzival«, noch etwa den »Simplizissimus« pse_558.038 als Entwicklungsromane oder gar als Bildungsromane

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/574
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/574>, abgerufen am 25.11.2024.