Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_549.001
und -tälern einfügt, wie er dabei Spannungen erregt und pse_549.002
löst; wie er ferner die mannigfachsten Beziehungen zwischen pse_549.003
diesen Bewußtseinsabläufen der verschiedenen Personen herstellt pse_549.004
und dadurch schon an einer umfassenden Ganzheit baut. pse_549.005
Vor allem aber kommt es darauf an, wie ein solcher Gesamtvorgang pse_549.006
aufgebaut wird. Gewiß kann der Dichter durch pse_549.007
scheinbare Zusammenhangslosigkeit der einzelnen Abläufe pse_549.008
und innerhalb jedes einzelnen Ablaufs gerade die Sinnlosigkeit pse_549.009
der Welt herausarbeiten, aber als Kunstwerk muß das pse_549.010
Ganze doch eben zu einer höheren und greifbaren Einheit pse_549.011
kommen, und wenn es auch nur die Einheit der Disparatheit pse_549.012
ist, die aber doch wieder als künstlerische Ganzheit wirksam pse_549.013
werden muß. Es ist natürlich durchaus möglich, daß der Vorgang, pse_549.014
den der Dichter gestalten will, ein Bewußtseinsstrom pse_549.015
selbst ist. Jedenfalls hat der Dichter durch solche Gestaltungsweisen pse_549.016
neue Möglichkeiten der Menschendarstellung gewonnen, pse_549.017
aber sicher auch künstlerischen Gefahren zu begegnen. pse_549.018
Denn die Gefahr der Auflösung besteht gewiß. Es kann pse_549.019
sein, daß dem Leser alles zwischen den Fingern zerrinnt. pse_549.020
Gerade diese neuen Möglichkeiten verlangen vom Dichter pse_549.021
besondere Gestaltungskraft.

pse_549.022
Diese Betrachtung hat uns zugleich darauf geführt, wie der pse_549.023
Dichter im Roman ein Weltbild gestaltet, wie eben auch hier pse_549.024
als einer großepischen Form eine Welttotalität ersteht. Es ist pse_549.025
aus allem Bisherigen ohne weiteres klar, daß die Weltgestaltung pse_549.026
im Laufe der Romangeschichte sich wandelt. Im Großen pse_549.027
läßt sich etwa sagen: Früher wurde das Weltbild aus einem pse_549.028
ablaufenden Großvorgang, aus einer Geschehnisfolge langsam pse_549.029
herausgeformt. Im Leben des Simplex, in den Abenteuerfahrten pse_549.030
des Don Quijote, in der Lebenswanderung des Wilhelm pse_549.031
Meister, in den Schicksalen eines David Copperfield pse_549.032
wird zugleich ihre Welt, und zwar in der Deutung durch den pse_549.033
Dichter, lebendig in ihrer Fülle, Fragwürdigkeit, Schönheit, pse_549.034
Sinnlosigkeit oder Sinntiefe. Heute treten im Roman diese pse_549.035
äußeren Abläufe zurück. Die Welt wird uns vielmehr greifbar pse_549.036
in den Spiegelungen im Inneren einzelner Personen. Zugleich pse_549.037
aber greift der Dichter zu ganz neuen Mitteln, um daneben pse_549.038
doch noch Weltstoff einzubauen. Diese Mittel sind allerdings

pse_549.001
und -tälern einfügt, wie er dabei Spannungen erregt und pse_549.002
löst; wie er ferner die mannigfachsten Beziehungen zwischen pse_549.003
diesen Bewußtseinsabläufen der verschiedenen Personen herstellt pse_549.004
und dadurch schon an einer umfassenden Ganzheit baut. pse_549.005
Vor allem aber kommt es darauf an, wie ein solcher Gesamtvorgang pse_549.006
aufgebaut wird. Gewiß kann der Dichter durch pse_549.007
scheinbare Zusammenhangslosigkeit der einzelnen Abläufe pse_549.008
und innerhalb jedes einzelnen Ablaufs gerade die Sinnlosigkeit pse_549.009
der Welt herausarbeiten, aber als Kunstwerk muß das pse_549.010
Ganze doch eben zu einer höheren und greifbaren Einheit pse_549.011
kommen, und wenn es auch nur die Einheit der Disparatheit pse_549.012
ist, die aber doch wieder als künstlerische Ganzheit wirksam pse_549.013
werden muß. Es ist natürlich durchaus möglich, daß der Vorgang, pse_549.014
den der Dichter gestalten will, ein Bewußtseinsstrom pse_549.015
selbst ist. Jedenfalls hat der Dichter durch solche Gestaltungsweisen pse_549.016
neue Möglichkeiten der Menschendarstellung gewonnen, pse_549.017
aber sicher auch künstlerischen Gefahren zu begegnen. pse_549.018
Denn die Gefahr der Auflösung besteht gewiß. Es kann pse_549.019
sein, daß dem Leser alles zwischen den Fingern zerrinnt. pse_549.020
Gerade diese neuen Möglichkeiten verlangen vom Dichter pse_549.021
besondere Gestaltungskraft.

pse_549.022
Diese Betrachtung hat uns zugleich darauf geführt, wie der pse_549.023
Dichter im Roman ein Weltbild gestaltet, wie eben auch hier pse_549.024
als einer großepischen Form eine Welttotalität ersteht. Es ist pse_549.025
aus allem Bisherigen ohne weiteres klar, daß die Weltgestaltung pse_549.026
im Laufe der Romangeschichte sich wandelt. Im Großen pse_549.027
läßt sich etwa sagen: Früher wurde das Weltbild aus einem pse_549.028
ablaufenden Großvorgang, aus einer Geschehnisfolge langsam pse_549.029
herausgeformt. Im Leben des Simplex, in den Abenteuerfahrten pse_549.030
des Don Quijote, in der Lebenswanderung des Wilhelm pse_549.031
Meister, in den Schicksalen eines David Copperfield pse_549.032
wird zugleich ihre Welt, und zwar in der Deutung durch den pse_549.033
Dichter, lebendig in ihrer Fülle, Fragwürdigkeit, Schönheit, pse_549.034
Sinnlosigkeit oder Sinntiefe. Heute treten im Roman diese pse_549.035
äußeren Abläufe zurück. Die Welt wird uns vielmehr greifbar pse_549.036
in den Spiegelungen im Inneren einzelner Personen. Zugleich pse_549.037
aber greift der Dichter zu ganz neuen Mitteln, um daneben pse_549.038
doch noch Weltstoff einzubauen. Diese Mittel sind allerdings

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0565" n="549"/><lb n="pse_549.001"/>
und -tälern einfügt, wie er dabei Spannungen erregt und <lb n="pse_549.002"/>
löst; wie er ferner die mannigfachsten Beziehungen zwischen <lb n="pse_549.003"/>
diesen Bewußtseinsabläufen der verschiedenen Personen herstellt <lb n="pse_549.004"/>
und dadurch schon an einer umfassenden Ganzheit baut. <lb n="pse_549.005"/>
Vor allem aber kommt es darauf an, wie ein solcher Gesamtvorgang <lb n="pse_549.006"/>
aufgebaut wird. Gewiß kann der Dichter durch <lb n="pse_549.007"/>
scheinbare Zusammenhangslosigkeit der einzelnen Abläufe <lb n="pse_549.008"/>
und innerhalb jedes einzelnen Ablaufs gerade die Sinnlosigkeit <lb n="pse_549.009"/>
der Welt herausarbeiten, aber als Kunstwerk muß das <lb n="pse_549.010"/>
Ganze doch eben zu einer höheren und greifbaren Einheit <lb n="pse_549.011"/>
kommen, und wenn es auch nur die Einheit der Disparatheit <lb n="pse_549.012"/>
ist, die aber doch wieder als künstlerische Ganzheit wirksam <lb n="pse_549.013"/>
werden muß. Es ist natürlich durchaus möglich, daß der Vorgang, <lb n="pse_549.014"/>
den der Dichter gestalten will, ein Bewußtseinsstrom <lb n="pse_549.015"/>
selbst ist. Jedenfalls hat der Dichter durch solche Gestaltungsweisen <lb n="pse_549.016"/>
neue Möglichkeiten der Menschendarstellung gewonnen, <lb n="pse_549.017"/>
aber sicher auch künstlerischen Gefahren zu begegnen. <lb n="pse_549.018"/>
Denn die Gefahr der Auflösung besteht gewiß. Es kann <lb n="pse_549.019"/>
sein, daß dem Leser alles zwischen den Fingern zerrinnt. <lb n="pse_549.020"/>
Gerade diese neuen Möglichkeiten verlangen vom Dichter <lb n="pse_549.021"/>
besondere Gestaltungskraft.</p>
              <p><lb n="pse_549.022"/>
Diese Betrachtung hat uns zugleich darauf geführt, wie der <lb n="pse_549.023"/>
Dichter im Roman ein Weltbild gestaltet, wie eben auch hier <lb n="pse_549.024"/>
als einer großepischen Form eine Welttotalität ersteht. Es ist <lb n="pse_549.025"/>
aus allem Bisherigen ohne weiteres klar, daß die Weltgestaltung <lb n="pse_549.026"/>
im Laufe der Romangeschichte sich wandelt. Im Großen <lb n="pse_549.027"/>
läßt sich etwa sagen: Früher wurde das Weltbild aus einem <lb n="pse_549.028"/>
ablaufenden Großvorgang, aus einer Geschehnisfolge langsam <lb n="pse_549.029"/>
herausgeformt. Im Leben des Simplex, in den Abenteuerfahrten <lb n="pse_549.030"/>
des Don Quijote, in der Lebenswanderung des Wilhelm <lb n="pse_549.031"/>
Meister, in den Schicksalen eines David Copperfield <lb n="pse_549.032"/>
wird zugleich ihre Welt, und zwar in der Deutung durch den <lb n="pse_549.033"/>
Dichter, lebendig in ihrer Fülle, Fragwürdigkeit, Schönheit, <lb n="pse_549.034"/>
Sinnlosigkeit oder Sinntiefe. Heute treten im Roman diese <lb n="pse_549.035"/>
äußeren Abläufe zurück. Die Welt wird uns vielmehr greifbar <lb n="pse_549.036"/>
in den Spiegelungen im Inneren einzelner Personen. Zugleich <lb n="pse_549.037"/>
aber greift der Dichter zu ganz neuen Mitteln, um daneben <lb n="pse_549.038"/>
doch noch Weltstoff einzubauen. Diese Mittel sind allerdings
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[549/0565] pse_549.001 und -tälern einfügt, wie er dabei Spannungen erregt und pse_549.002 löst; wie er ferner die mannigfachsten Beziehungen zwischen pse_549.003 diesen Bewußtseinsabläufen der verschiedenen Personen herstellt pse_549.004 und dadurch schon an einer umfassenden Ganzheit baut. pse_549.005 Vor allem aber kommt es darauf an, wie ein solcher Gesamtvorgang pse_549.006 aufgebaut wird. Gewiß kann der Dichter durch pse_549.007 scheinbare Zusammenhangslosigkeit der einzelnen Abläufe pse_549.008 und innerhalb jedes einzelnen Ablaufs gerade die Sinnlosigkeit pse_549.009 der Welt herausarbeiten, aber als Kunstwerk muß das pse_549.010 Ganze doch eben zu einer höheren und greifbaren Einheit pse_549.011 kommen, und wenn es auch nur die Einheit der Disparatheit pse_549.012 ist, die aber doch wieder als künstlerische Ganzheit wirksam pse_549.013 werden muß. Es ist natürlich durchaus möglich, daß der Vorgang, pse_549.014 den der Dichter gestalten will, ein Bewußtseinsstrom pse_549.015 selbst ist. Jedenfalls hat der Dichter durch solche Gestaltungsweisen pse_549.016 neue Möglichkeiten der Menschendarstellung gewonnen, pse_549.017 aber sicher auch künstlerischen Gefahren zu begegnen. pse_549.018 Denn die Gefahr der Auflösung besteht gewiß. Es kann pse_549.019 sein, daß dem Leser alles zwischen den Fingern zerrinnt. pse_549.020 Gerade diese neuen Möglichkeiten verlangen vom Dichter pse_549.021 besondere Gestaltungskraft. pse_549.022 Diese Betrachtung hat uns zugleich darauf geführt, wie der pse_549.023 Dichter im Roman ein Weltbild gestaltet, wie eben auch hier pse_549.024 als einer großepischen Form eine Welttotalität ersteht. Es ist pse_549.025 aus allem Bisherigen ohne weiteres klar, daß die Weltgestaltung pse_549.026 im Laufe der Romangeschichte sich wandelt. Im Großen pse_549.027 läßt sich etwa sagen: Früher wurde das Weltbild aus einem pse_549.028 ablaufenden Großvorgang, aus einer Geschehnisfolge langsam pse_549.029 herausgeformt. Im Leben des Simplex, in den Abenteuerfahrten pse_549.030 des Don Quijote, in der Lebenswanderung des Wilhelm pse_549.031 Meister, in den Schicksalen eines David Copperfield pse_549.032 wird zugleich ihre Welt, und zwar in der Deutung durch den pse_549.033 Dichter, lebendig in ihrer Fülle, Fragwürdigkeit, Schönheit, pse_549.034 Sinnlosigkeit oder Sinntiefe. Heute treten im Roman diese pse_549.035 äußeren Abläufe zurück. Die Welt wird uns vielmehr greifbar pse_549.036 in den Spiegelungen im Inneren einzelner Personen. Zugleich pse_549.037 aber greift der Dichter zu ganz neuen Mitteln, um daneben pse_549.038 doch noch Weltstoff einzubauen. Diese Mittel sind allerdings

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/565
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 549. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/565>, abgerufen am 22.11.2024.