pse_040.001 Wirklichkeit nahe. Die andere Zeitebene und die pse_040.002 Erwartung am Beginn einer Dichtung -- hier eines Romans -- pse_040.003 aber drängen diesen Bezug zurück, die mächtige sprachliche pse_040.004 Gestaltung kann nun sofort in ihrer Geschlossenheit und in pse_040.005 ihrem Fürsichsein wirken. Man erkennt schon daran, daß pse_040.006 Dichtung ein sehr mannigfaltig geschichtetes Gebilde ist.
pse_040.007 So ist das Gebiet der Sprachkunstwerke sehr umfassend, pse_040.008 freilich zahlenmäßig nicht annähernd den Sachdarstellungen pse_040.009 gleichkommend. Und es sind ganz unmerkliche Übergänge pse_040.010 aus dieser Sprachstruktur in jene, man kann sich eine Linie pse_040.011 immer größerer Sprachmächtigkeit vorstellen, bis endlich die pse_040.012 völlig geschlossene Sprachwelt da ist, die Dichtung. Um einen pse_040.013 ungefähren Überblick über die Möglichkeiten von Sprachkunstwerken pse_040.014 zu gewinnen, die noch nicht als Dichtung anzusprechen pse_040.015 sind, kann man etwa mit dem italienischen Philosophen pse_040.016 Benedetto Croce, der sehr strenge Maßstäbe an wirkliche pse_040.017 Dichtung legt, folgende Bereiche unterscheiden. Er pse_040.018 nennt sie die Literaturbereiche, meint aber deutlich eben pse_040.019 Werke, die sich durch ihre Sprachstruktur als Sprachkunstwerke pse_040.020 ausweisen. Zunächst die literarische (also sprachkünstlerische) pse_040.021 Gestaltung des Gefühls; etwa in Bekenntnisschriften, pse_040.022 künstlerischen Liebesbriefen, religiösen Schriften pse_040.023 der Mystiker usw. Dann die oratorische Literatur. Die großen pse_040.024 rednerischen Werke, etwa des Demosthenes, des Cicero, die pse_040.025 Predigten und Schriften Luthers und Eckharts, aber auch pse_040.026 Sprachkunstwerke zur Verherrlichung (etwa Goethes Schrift pse_040.027 über deutsche Baukunst, manche Stellen aus Winckelmanns pse_040.028 "Geschichte der Kunst des Altertums", Erinnerungen an pse_040.029 große Tote usw.), auch manche philosophische Abhandlungen pse_040.030 zur sittlichen Erhebung (etwa Platons Dialoge, Lessings pse_040.031 "Erziehung des Menschengeschlechts", Stifters Beschreibung pse_040.032 der Sonnenfinsternis; Croce rechnet dazu auch Schillers Dichtungen pse_040.033 und Manzonis Roman "I promessi sposi"). Weiter die pse_040.034 höhere Form der Unterhaltungsliteratur; hier trennen sich pse_040.035 freilich die Anschauungen; denn wenn Croce hier alle pse_040.036 Romane, Dramen und Epen der Weltliteratur hereinnimmt pse_040.037 außer eben den allerhöchsten Leistungen, dann wird der pse_040.038 Bereich der Dichtung so eingeengt, daß er für weitere Betrachtung
pse_040.001 Wirklichkeit nahe. Die andere Zeitebene und die pse_040.002 Erwartung am Beginn einer Dichtung — hier eines Romans — pse_040.003 aber drängen diesen Bezug zurück, die mächtige sprachliche pse_040.004 Gestaltung kann nun sofort in ihrer Geschlossenheit und in pse_040.005 ihrem Fürsichsein wirken. Man erkennt schon daran, daß pse_040.006 Dichtung ein sehr mannigfaltig geschichtetes Gebilde ist.
pse_040.007 So ist das Gebiet der Sprachkunstwerke sehr umfassend, pse_040.008 freilich zahlenmäßig nicht annähernd den Sachdarstellungen pse_040.009 gleichkommend. Und es sind ganz unmerkliche Übergänge pse_040.010 aus dieser Sprachstruktur in jene, man kann sich eine Linie pse_040.011 immer größerer Sprachmächtigkeit vorstellen, bis endlich die pse_040.012 völlig geschlossene Sprachwelt da ist, die Dichtung. Um einen pse_040.013 ungefähren Überblick über die Möglichkeiten von Sprachkunstwerken pse_040.014 zu gewinnen, die noch nicht als Dichtung anzusprechen pse_040.015 sind, kann man etwa mit dem italienischen Philosophen pse_040.016 Benedetto Croce, der sehr strenge Maßstäbe an wirkliche pse_040.017 Dichtung legt, folgende Bereiche unterscheiden. Er pse_040.018 nennt sie die Literaturbereiche, meint aber deutlich eben pse_040.019 Werke, die sich durch ihre Sprachstruktur als Sprachkunstwerke pse_040.020 ausweisen. Zunächst die literarische (also sprachkünstlerische) pse_040.021 Gestaltung des Gefühls; etwa in Bekenntnisschriften, pse_040.022 künstlerischen Liebesbriefen, religiösen Schriften pse_040.023 der Mystiker usw. Dann die oratorische Literatur. Die großen pse_040.024 rednerischen Werke, etwa des Demosthenes, des Cicero, die pse_040.025 Predigten und Schriften Luthers und Eckharts, aber auch pse_040.026 Sprachkunstwerke zur Verherrlichung (etwa Goethes Schrift pse_040.027 über deutsche Baukunst, manche Stellen aus Winckelmanns pse_040.028 »Geschichte der Kunst des Altertums«, Erinnerungen an pse_040.029 große Tote usw.), auch manche philosophische Abhandlungen pse_040.030 zur sittlichen Erhebung (etwa Platons Dialoge, Lessings pse_040.031 »Erziehung des Menschengeschlechts«, Stifters Beschreibung pse_040.032 der Sonnenfinsternis; Croce rechnet dazu auch Schillers Dichtungen pse_040.033 und Manzonis Roman »I promessi sposi«). Weiter die pse_040.034 höhere Form der Unterhaltungsliteratur; hier trennen sich pse_040.035 freilich die Anschauungen; denn wenn Croce hier alle pse_040.036 Romane, Dramen und Epen der Weltliteratur hereinnimmt pse_040.037 außer eben den allerhöchsten Leistungen, dann wird der pse_040.038 Bereich der Dichtung so eingeengt, daß er für weitere Betrachtung
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Wirklichkeit nahe. Die andere Zeitebene und die pse_040.002
Erwartung am Beginn einer Dichtung — hier eines Romans — pse_040.003
aber drängen diesen Bezug zurück, die mächtige sprachliche pse_040.004
Gestaltung kann nun sofort in ihrer Geschlossenheit und in pse_040.005
ihrem Fürsichsein wirken. Man erkennt schon daran, daß pse_040.006
Dichtung ein sehr mannigfaltig geschichtetes Gebilde ist.
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So ist das Gebiet der Sprachkunstwerke sehr umfassend, pse_040.008
freilich zahlenmäßig nicht annähernd den Sachdarstellungen pse_040.009
gleichkommend. Und es sind ganz unmerkliche Übergänge pse_040.010
aus dieser Sprachstruktur in jene, man kann sich eine Linie pse_040.011
immer größerer Sprachmächtigkeit vorstellen, bis endlich die pse_040.012
völlig geschlossene Sprachwelt da ist, die Dichtung. Um einen pse_040.013
ungefähren Überblick über die Möglichkeiten von Sprachkunstwerken pse_040.014
zu gewinnen, die noch nicht als Dichtung anzusprechen pse_040.015
sind, kann man etwa mit dem italienischen Philosophen pse_040.016
Benedetto Croce, der sehr strenge Maßstäbe an wirkliche pse_040.017
Dichtung legt, folgende Bereiche unterscheiden. Er pse_040.018
nennt sie die Literaturbereiche, meint aber deutlich eben pse_040.019
Werke, die sich durch ihre Sprachstruktur als Sprachkunstwerke pse_040.020
ausweisen. Zunächst die literarische (also sprachkünstlerische) pse_040.021
Gestaltung des Gefühls; etwa in Bekenntnisschriften, pse_040.022
künstlerischen Liebesbriefen, religiösen Schriften pse_040.023
der Mystiker usw. Dann die oratorische Literatur. Die großen pse_040.024
rednerischen Werke, etwa des Demosthenes, des Cicero, die pse_040.025
Predigten und Schriften Luthers und Eckharts, aber auch pse_040.026
Sprachkunstwerke zur Verherrlichung (etwa Goethes Schrift pse_040.027
über deutsche Baukunst, manche Stellen aus Winckelmanns pse_040.028
»Geschichte der Kunst des Altertums«, Erinnerungen an pse_040.029
große Tote usw.), auch manche philosophische Abhandlungen pse_040.030
zur sittlichen Erhebung (etwa Platons Dialoge, Lessings pse_040.031
»Erziehung des Menschengeschlechts«, Stifters Beschreibung pse_040.032
der Sonnenfinsternis; Croce rechnet dazu auch Schillers Dichtungen pse_040.033
und Manzonis Roman »I promessi sposi«). Weiter die pse_040.034
höhere Form der Unterhaltungsliteratur; hier trennen sich pse_040.035
freilich die Anschauungen; denn wenn Croce hier alle pse_040.036
Romane, Dramen und Epen der Weltliteratur hereinnimmt pse_040.037
außer eben den allerhöchsten Leistungen, dann wird der pse_040.038
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/56>, abgerufen am 27.11.2024.
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