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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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und zwar in dreifacher Hinsicht. Zunächst schon werden die pse_538.002
Teile eines Romans wegen der Ausdifferenziertheit der in ihm pse_538.003
gestalteten Welt in sich selbständiger, sie werden zu Gebilden pse_538.004
für sich, gleichsam eigene Individualitäten. Dann entfaltet pse_538.005
sich die Innerlichkeit der Romanfiguren in stärkster Weise, pse_538.006
besonders eben dadurch, daß sie einer zunächst fremden pse_538.007
Welt gegenüberstehen. Nur in der ausgebildeten Individualität pse_538.008
finden sie da in sich einen Halt. Und endlich wird im pse_538.009
Roman diese Spannung zwischen menschlicher Subjektivität pse_538.010
und gegenüberstehender fremder Welt von einem ganz bestimmten pse_538.011
Blickpunkt aus gesehen: die Subjektivität des Erzählers pse_538.012
tritt hinzu.

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Für die Gestaltung des Romans ist dann, wie wir schon bei pse_538.014
den allgemeinen Betrachtungen zur Epik gesehen haben, das pse_538.015
Menschenbild, das in ihm lebendig wird, von großer Bedeutung. pse_538.016
Das Menschenbild im Roman wandelt sich entsprechend pse_538.017
der geschichtlichen Entwicklung, und dadurch ist auch mancher pse_538.018
entscheidende Formwandel bedingt. Im Barockzeitalter pse_538.019
zeigt das Bild der Menschen immer eine bestimmte Normiertheit: pse_538.020
der Mensch ist entweder tugendhaft oder ein Bösewicht. pse_538.021
Die Tugendhaften sind immer durch ihre feste und klare pse_538.022
innere Haltung gegenüber allen Anstürmen der bösen Welt pse_538.023
gekennzeichnet. Die Bösen sind die Gewaltsamen, die Bewegung pse_538.024
ins Ganze bringen, die selbst starke innere Umbrüche pse_538.025
erleben. Damit ergibt sich schon eine bestimmte Struktur des pse_538.026
Romans, sie wird aber noch weiterhin dadurch festgelegt, daß pse_538.027
jeder einzelne Schritt der Handlung, jede Episode, jeder neue pse_538.028
Umschwung, der durch einen Gewaltmenschen erzwungen pse_538.029
wird und den die tugendhafte Gestalt mit gleicher Würde pse_538.030
trägt, nie so sehr ein Glied in einer fortlaufenden Kette ist, als pse_538.031
vielmehr eine neue Situation, die unmittelbar zu Gott, zum pse_538.032
Überirdischen steht. So stellt ein Barockroman eine Reihe pse_538.033
von Stationen dar, in denen sich der Mensch bewähren muß, pse_538.034
die für ihn gottgeschickt sind -- darin ruht die symbolische pse_538.035
Funktion des Bösewichts. Eine Entwicklung des Menschen, pse_538.036
besonders des tugendhaften, ist dadurch nicht gegeben. So hat pse_538.037
der Barockroman auch kein zielhaftes Ende, auch die einzelnen pse_538.038
Situationen sind nicht aus einem Gesamtorganismus

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und zwar in dreifacher Hinsicht. Zunächst schon werden die pse_538.002
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gestalteten Welt in sich selbständiger, sie werden zu Gebilden pse_538.004
für sich, gleichsam eigene Individualitäten. Dann entfaltet pse_538.005
sich die Innerlichkeit der Romanfiguren in stärkster Weise, pse_538.006
besonders eben dadurch, daß sie einer zunächst fremden pse_538.007
Welt gegenüberstehen. Nur in der ausgebildeten Individualität pse_538.008
finden sie da in sich einen Halt. Und endlich wird im pse_538.009
Roman diese Spannung zwischen menschlicher Subjektivität pse_538.010
und gegenüberstehender fremder Welt von einem ganz bestimmten pse_538.011
Blickpunkt aus gesehen: die Subjektivität des Erzählers pse_538.012
tritt hinzu.

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Für die Gestaltung des Romans ist dann, wie wir schon bei pse_538.014
den allgemeinen Betrachtungen zur Epik gesehen haben, das pse_538.015
Menschenbild, das in ihm lebendig wird, von großer Bedeutung. pse_538.016
Das Menschenbild im Roman wandelt sich entsprechend pse_538.017
der geschichtlichen Entwicklung, und dadurch ist auch mancher pse_538.018
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der Mensch ist entweder tugendhaft oder ein Bösewicht. pse_538.021
Die Tugendhaften sind immer durch ihre feste und klare pse_538.022
innere Haltung gegenüber allen Anstürmen der bösen Welt pse_538.023
gekennzeichnet. Die Bösen sind die Gewaltsamen, die Bewegung pse_538.024
ins Ganze bringen, die selbst starke innere Umbrüche pse_538.025
erleben. Damit ergibt sich schon eine bestimmte Struktur des pse_538.026
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jeder einzelne Schritt der Handlung, jede Episode, jeder neue pse_538.028
Umschwung, der durch einen Gewaltmenschen erzwungen pse_538.029
wird und den die tugendhafte Gestalt mit gleicher Würde pse_538.030
trägt, nie so sehr ein Glied in einer fortlaufenden Kette ist, als pse_538.031
vielmehr eine neue Situation, die unmittelbar zu Gott, zum pse_538.032
Überirdischen steht. So stellt ein Barockroman eine Reihe pse_538.033
von Stationen dar, in denen sich der Mensch bewähren muß, pse_538.034
die für ihn gottgeschickt sind — darin ruht die symbolische pse_538.035
Funktion des Bösewichts. Eine Entwicklung des Menschen, pse_538.036
besonders des tugendhaften, ist dadurch nicht gegeben. So hat pse_538.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/554>, abgerufen am 02.10.2024.