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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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kann in zweifacher Bewegung vor sich gehen. pse_537.002
Als ein allmähliches Ringen mit dem Weltstoff auf der einen pse_537.003
Seite: dabei gelingt es dem Menschen, den Weltstoff zu pse_537.004
ordnen, als Ganzheit zu erfassen, und er bereichert dadurch pse_537.005
sein Inneres und entfaltet alle seine inneren Kräfte zugleich, in pse_537.006
einer im großen gesehen stetigen Entwicklung erbaut sich der pse_537.007
Mensch die Welt zu einer totalen Harmonie und sich selbst zu pse_537.008
einem Mikrokosmos, zu einer Persönlichkeit. Das ist der pse_537.009
große Weg der Bildungsromane. Scheitert er in diesem Versuch, pse_537.010
so kommt es zu tragischen Romanen: Werther, Wahlverwandtschaften, pse_537.011
Maler Nolten, erste Fassung des Grünen pse_537.012
Heinrich. Als katastrophenartige Einbrüche der Welt auf der pse_537.013
anderen Seite: die Welt oder auch das Jenseitige, die Überwelt pse_537.014
bricht plötzlich ins Menschliche herein. Der Mensch ist damit pse_537.015
vor unvorhergesehene sittliche und existentielle Entscheidungen pse_537.016
gestellt, die Überfälle führen zu Wiedergeburten und pse_537.017
entscheidenden inneren Wandlungen. Aber auch hier sind pse_537.018
tragische Ausgänge möglich: der Einbruch der Welt führt pse_537.019
zum Zusammenbruch des Menschen.

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Damit ergibt sich, daß der Mensch selbst im Roman ein pse_537.021
anderer ist als im Epos. Im Epos steht er ganz eingehüllt in pse_537.022
eine Lebensgemeinschaft, als ein Glied in ihr. Trotzdem aber pse_537.023
ist er eine Persönlichkeit. Er zeigt sich in seiner ganzen gerundeten pse_537.024
Fülle, in einer Vitalität ohnegleichen. Weiter sind pse_537.025
die Menschen in den großen Epen Adelsmenschen in jedem pse_537.026
Sinne des Wortes. Nicht ein ganzes Volk lebt im Epos, sondern pse_537.027
ein Adelsmenschentum: Helden, Begeisterte, Abenteurer, pse_537.028
auch große Verbrecher, auf alle Fälle Menschen über dem pse_537.029
Durchschnitt. Der Roman macht in seiner Menschengestaltung pse_537.030
keine Einschränkung: alle Schichten werden gestaltet. pse_537.031
Die Selbständigkeit ist hier eine andere als im Epos. Dort pse_537.032
innere Fülle und Lebenskraft im Rahmen einer Lebensgemeinschaft, pse_537.033
die ihm selbstverständlich ist, hier ausgebildete pse_537.034
Individuen, jeweilige menschliche Sonderformen; damit pse_537.035
aber lockert sich zugleich die natürliche Bindung zur Lebensgemeinschaft, pse_537.036
es bilden sich Gesellschaften, in denen Menschen pse_537.037
aus rationalen Beweggründen zusammengeschlossen werden.

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So wird im Roman das Problem der Subjektivität brennend,

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sein Inneres und entfaltet alle seine inneren Kräfte zugleich, in pse_537.006
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zum Zusammenbruch des Menschen.

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Damit ergibt sich, daß der Mensch selbst im Roman ein pse_537.021
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eine Lebensgemeinschaft, als ein Glied in ihr. Trotzdem aber pse_537.023
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[537/0553] pse_537.001 kann in zweifacher Bewegung vor sich gehen. pse_537.002 Als ein allmähliches Ringen mit dem Weltstoff auf der einen pse_537.003 Seite: dabei gelingt es dem Menschen, den Weltstoff zu pse_537.004 ordnen, als Ganzheit zu erfassen, und er bereichert dadurch pse_537.005 sein Inneres und entfaltet alle seine inneren Kräfte zugleich, in pse_537.006 einer im großen gesehen stetigen Entwicklung erbaut sich der pse_537.007 Mensch die Welt zu einer totalen Harmonie und sich selbst zu pse_537.008 einem Mikrokosmos, zu einer Persönlichkeit. Das ist der pse_537.009 große Weg der Bildungsromane. Scheitert er in diesem Versuch, pse_537.010 so kommt es zu tragischen Romanen: Werther, Wahlverwandtschaften, pse_537.011 Maler Nolten, erste Fassung des Grünen pse_537.012 Heinrich. Als katastrophenartige Einbrüche der Welt auf der pse_537.013 anderen Seite: die Welt oder auch das Jenseitige, die Überwelt pse_537.014 bricht plötzlich ins Menschliche herein. Der Mensch ist damit pse_537.015 vor unvorhergesehene sittliche und existentielle Entscheidungen pse_537.016 gestellt, die Überfälle führen zu Wiedergeburten und pse_537.017 entscheidenden inneren Wandlungen. Aber auch hier sind pse_537.018 tragische Ausgänge möglich: der Einbruch der Welt führt pse_537.019 zum Zusammenbruch des Menschen. pse_537.020 Damit ergibt sich, daß der Mensch selbst im Roman ein pse_537.021 anderer ist als im Epos. Im Epos steht er ganz eingehüllt in pse_537.022 eine Lebensgemeinschaft, als ein Glied in ihr. Trotzdem aber pse_537.023 ist er eine Persönlichkeit. Er zeigt sich in seiner ganzen gerundeten pse_537.024 Fülle, in einer Vitalität ohnegleichen. Weiter sind pse_537.025 die Menschen in den großen Epen Adelsmenschen in jedem pse_537.026 Sinne des Wortes. Nicht ein ganzes Volk lebt im Epos, sondern pse_537.027 ein Adelsmenschentum: Helden, Begeisterte, Abenteurer, pse_537.028 auch große Verbrecher, auf alle Fälle Menschen über dem pse_537.029 Durchschnitt. Der Roman macht in seiner Menschengestaltung pse_537.030 keine Einschränkung: alle Schichten werden gestaltet. pse_537.031 Die Selbständigkeit ist hier eine andere als im Epos. Dort pse_537.032 innere Fülle und Lebenskraft im Rahmen einer Lebensgemeinschaft, pse_537.033 die ihm selbstverständlich ist, hier ausgebildete pse_537.034 Individuen, jeweilige menschliche Sonderformen; damit pse_537.035 aber lockert sich zugleich die natürliche Bindung zur Lebensgemeinschaft, pse_537.036 es bilden sich Gesellschaften, in denen Menschen pse_537.037 aus rationalen Beweggründen zusammengeschlossen werden. pse_537.038 So wird im Roman das Problem der Subjektivität brennend,

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/553>, abgerufen am 22.11.2024.