pse_525.001 Kosmos, der eine volle Sinneinheit darstellt. Die Antriebe für pse_525.002 eine solche umfassende Weltbildgestaltung erwachsen dem pse_525.003 Epos aus der jeweiligen Weltanschauung der Gemeinschaft. pse_525.004 Das ist zunächst der Mythos für die ältesten Zeiten. Er liegt pse_525.005 dem Dichterischen schon sehr nahe, denn er formt das Weltbild pse_525.006 in menschlichen und übermenschlichen Gestalten, ihren pse_525.007 Schicksalen und Handlungen aus. Die Epen bauen daran vielfach pse_525.008 weiter, aber eben auf dem Grund des in der Gemeinschaft pse_525.009 schon Gewachsenen. Mit dem Beginn der christlichen Zeit pse_525.010 in unseren Kulturbereichen werden die alten Mythen verdrängt pse_525.011 und durch die christliche Heilslehre in ihrer Gesamtheit pse_525.012 ersetzt. Aus diesem christlichen Weltbild wachsen dann pse_525.013 Epen wie Dantes "Divina Commedia", Miltons und Klopstocks pse_525.014 Werke. Mit dem Beginn der Säkularisierung im 18. pse_525.015 Jahrhundert ist auch das christliche Weltbild nicht mehr pse_525.016 allein maßgebend, an seine Stelle treten solche, die durch ein pse_525.017 philosophisches System errichtet sind. Da nur der Mythos an pse_525.018 sich schon ein Weltbild ästhetischer Schau umfassendster Art pse_525.019 gibt, das christliche Weltbild aber religiös, ethisch ausgerichtet pse_525.020 ist und die Weltbilder philosophischer Systeme aus rationaler pse_525.021 Arbeit entspringen und daher vor allem theoretisch pse_525.022 bestimmt sind, versteht man, daß große Epen vor allem in pse_525.023 Zeiten entstehen, die durch einen Mythos ausgerichtet sind. pse_525.024 Nur ganz großen schöpferischen Leistungen auf dem Gebiet pse_525.025 des Epos wird es gelingen, die religiösen oder philosophischen pse_525.026 Weltbilder so umzuformen oder einzubauen, daß umfassende pse_525.027 kosmische Sinneinheiten ästhetisch im Epos lebendig pse_525.028 und wirksam werden. So ist es verständlich, daß man auch pse_525.029 Meinungen hört, mit dem Ende alter Mythologien als lebenformender pse_525.030 und -bestimmender Kräfte in Gemeinschaften sei pse_525.031 das Ende des Epos gekommen. Vor allem sagt man, daß das pse_525.032 Christentum den Menschen einem übergeordneten Heilsplan pse_525.033 einfüge und ihm daher die gerundete, in sich ruhende pse_525.034 Selbständigkeit nehme, die der Mensch des großen Epos pse_525.035 haben müsse. Deshalb sei auch einem Dante episch die Hölle pse_525.036 am besten gelungen. Nur die Tierdichtung erlaube nachher pse_525.037 noch solche in sich gerundete Geschöpfe, und die Klassik pse_525.038 weiche im Epos ins Idyllische aus, da im idyllischen Bereich
pse_525.001 Kosmos, der eine volle Sinneinheit darstellt. Die Antriebe für pse_525.002 eine solche umfassende Weltbildgestaltung erwachsen dem pse_525.003 Epos aus der jeweiligen Weltanschauung der Gemeinschaft. pse_525.004 Das ist zunächst der Mythos für die ältesten Zeiten. Er liegt pse_525.005 dem Dichterischen schon sehr nahe, denn er formt das Weltbild pse_525.006 in menschlichen und übermenschlichen Gestalten, ihren pse_525.007 Schicksalen und Handlungen aus. Die Epen bauen daran vielfach pse_525.008 weiter, aber eben auf dem Grund des in der Gemeinschaft pse_525.009 schon Gewachsenen. Mit dem Beginn der christlichen Zeit pse_525.010 in unseren Kulturbereichen werden die alten Mythen verdrängt pse_525.011 und durch die christliche Heilslehre in ihrer Gesamtheit pse_525.012 ersetzt. Aus diesem christlichen Weltbild wachsen dann pse_525.013 Epen wie Dantes »Divina Commedia«, Miltons und Klopstocks pse_525.014 Werke. Mit dem Beginn der Säkularisierung im 18. pse_525.015 Jahrhundert ist auch das christliche Weltbild nicht mehr pse_525.016 allein maßgebend, an seine Stelle treten solche, die durch ein pse_525.017 philosophisches System errichtet sind. Da nur der Mythos an pse_525.018 sich schon ein Weltbild ästhetischer Schau umfassendster Art pse_525.019 gibt, das christliche Weltbild aber religiös, ethisch ausgerichtet pse_525.020 ist und die Weltbilder philosophischer Systeme aus rationaler pse_525.021 Arbeit entspringen und daher vor allem theoretisch pse_525.022 bestimmt sind, versteht man, daß große Epen vor allem in pse_525.023 Zeiten entstehen, die durch einen Mythos ausgerichtet sind. pse_525.024 Nur ganz großen schöpferischen Leistungen auf dem Gebiet pse_525.025 des Epos wird es gelingen, die religiösen oder philosophischen pse_525.026 Weltbilder so umzuformen oder einzubauen, daß umfassende pse_525.027 kosmische Sinneinheiten ästhetisch im Epos lebendig pse_525.028 und wirksam werden. So ist es verständlich, daß man auch pse_525.029 Meinungen hört, mit dem Ende alter Mythologien als lebenformender pse_525.030 und -bestimmender Kräfte in Gemeinschaften sei pse_525.031 das Ende des Epos gekommen. Vor allem sagt man, daß das pse_525.032 Christentum den Menschen einem übergeordneten Heilsplan pse_525.033 einfüge und ihm daher die gerundete, in sich ruhende pse_525.034 Selbständigkeit nehme, die der Mensch des großen Epos pse_525.035 haben müsse. Deshalb sei auch einem Dante episch die Hölle pse_525.036 am besten gelungen. Nur die Tierdichtung erlaube nachher pse_525.037 noch solche in sich gerundete Geschöpfe, und die Klassik pse_525.038 weiche im Epos ins Idyllische aus, da im idyllischen Bereich
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Epos aus der jeweiligen Weltanschauung der Gemeinschaft. pse_525.004
Das ist zunächst der Mythos für die ältesten Zeiten. Er liegt pse_525.005
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in menschlichen und übermenschlichen Gestalten, ihren pse_525.007
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in unseren Kulturbereichen werden die alten Mythen verdrängt pse_525.011
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ersetzt. Aus diesem christlichen Weltbild wachsen dann pse_525.013
Epen wie Dantes »Divina Commedia«, Miltons und Klopstocks pse_525.014
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 525. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/541>, abgerufen am 23.11.2024.
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