pse_521.001 und Differenzierung. Aber zugleich ist solche pse_521.002 Kunstform auch Gewinn: Formbestimmtheit und Formenhelligkeit. pse_521.003 Alle Motive werden rein, hell und durchscheinend. pse_521.004 Und dabei ist das Märchen durch solche Züge auch welthaltig: pse_521.005 es nimmt die ganze Welt in sich hinein und gestaltet pse_521.006 sie nach dem inneren Gesetz seiner Art. In ihm spiegeln sich pse_521.007 alle wesentlichen Elemente des menschlichen Daseins. Es vereinigt pse_521.008 auch die entscheidenden Pole des menschlichen Seins: pse_521.009 Enge und Weite, Ruhe und Bewegung in der strengen klaren pse_521.010 Form und der weiten Bewegung der Handlung, Gesetz und pse_521.011 Freiheit, Einheit und Vielheit. So ist das Märchen eine reine pse_521.012 und geschlossene Bewältigung der Welt in dichterischer, pse_521.013 genauer: erzählerischer Weise. Es entsteht in ihm eine Welt, pse_521.014 in der alles an seiner Stelle, alles in Ordnung ist. Und dadurch pse_521.015 eben befriedigt es tiefste Wünsche des Menschen. Diese urepische pse_521.016 Schau ist nicht etwas Primitives, sondern hohe pse_521.017 Kunst, allerdings die Kunst früher, jugendfrischer Kulturen.
pse_521.018 Die Sage ist in wesenhaften Zügen anders als das Märchen. pse_521.019 Sie erzählt Ereignisse, die irgendwie bestimmte Örtlichkeiten pse_521.020 oder Gegenstände erklären sollen, die zeigen sollen, wie es pse_521.021 dazu gekommen ist. Aber das bleibt an der Oberfläche. Besser pse_521.022 erfaßt man das Wesen der Sage als künstlerischer Erzählform pse_521.023 in ihrem Unterschied zum Märchen. Das Jenseitige, Außermenschliche pse_521.024 ist für die Sage das ganz andere, ein erschreckendes pse_521.025 Geheimnis. Wenn es auch ins Menschenleben hereingreift, pse_521.026 so bleibt es im Wesen doch scharf von ihm getrennt. Die pse_521.027 Sage gestaltet tiefenhaft in reich gestaffelter Verflechtung des pse_521.028 Menschen mit dem Leben und dem Raum um ihn, die Menschen pse_521.029 haben ein Seelenleben, sie bilden eine Atmosphäre um pse_521.030 sich. In der Sage sind Menschen und Dinge eng und mannigfach pse_521.031 miteinander verflochten. Auch die Sage ist aus Freude pse_521.032 am Erzählen geboren. Sie stellt ein erregendes Erlebnis ins pse_521.033 Zentrum. Da sie zugleich durch die Erzählung einen Sachverhalt pse_521.034 erklären will, zeigen will, wie es dazu gekommen ist, pse_521.035 vertritt sie in Frühzeiten teilweise die Wissenschaft, bleibt pse_521.036 aber durch ihre Darstellung im Bereich des Dichterischen.
pse_521.037 Die Legende unterscheidet sich vom Märchen durch den Anspruch pse_521.038 auf Echtheit, von der Sage durch den Ton, der alles
pse_521.001 und Differenzierung. Aber zugleich ist solche pse_521.002 Kunstform auch Gewinn: Formbestimmtheit und Formenhelligkeit. pse_521.003 Alle Motive werden rein, hell und durchscheinend. pse_521.004 Und dabei ist das Märchen durch solche Züge auch welthaltig: pse_521.005 es nimmt die ganze Welt in sich hinein und gestaltet pse_521.006 sie nach dem inneren Gesetz seiner Art. In ihm spiegeln sich pse_521.007 alle wesentlichen Elemente des menschlichen Daseins. Es vereinigt pse_521.008 auch die entscheidenden Pole des menschlichen Seins: pse_521.009 Enge und Weite, Ruhe und Bewegung in der strengen klaren pse_521.010 Form und der weiten Bewegung der Handlung, Gesetz und pse_521.011 Freiheit, Einheit und Vielheit. So ist das Märchen eine reine pse_521.012 und geschlossene Bewältigung der Welt in dichterischer, pse_521.013 genauer: erzählerischer Weise. Es entsteht in ihm eine Welt, pse_521.014 in der alles an seiner Stelle, alles in Ordnung ist. Und dadurch pse_521.015 eben befriedigt es tiefste Wünsche des Menschen. Diese urepische pse_521.016 Schau ist nicht etwas Primitives, sondern hohe pse_521.017 Kunst, allerdings die Kunst früher, jugendfrischer Kulturen.
pse_521.018 Die Sage ist in wesenhaften Zügen anders als das Märchen. pse_521.019 Sie erzählt Ereignisse, die irgendwie bestimmte Örtlichkeiten pse_521.020 oder Gegenstände erklären sollen, die zeigen sollen, wie es pse_521.021 dazu gekommen ist. Aber das bleibt an der Oberfläche. Besser pse_521.022 erfaßt man das Wesen der Sage als künstlerischer Erzählform pse_521.023 in ihrem Unterschied zum Märchen. Das Jenseitige, Außermenschliche pse_521.024 ist für die Sage das ganz andere, ein erschreckendes pse_521.025 Geheimnis. Wenn es auch ins Menschenleben hereingreift, pse_521.026 so bleibt es im Wesen doch scharf von ihm getrennt. Die pse_521.027 Sage gestaltet tiefenhaft in reich gestaffelter Verflechtung des pse_521.028 Menschen mit dem Leben und dem Raum um ihn, die Menschen pse_521.029 haben ein Seelenleben, sie bilden eine Atmosphäre um pse_521.030 sich. In der Sage sind Menschen und Dinge eng und mannigfach pse_521.031 miteinander verflochten. Auch die Sage ist aus Freude pse_521.032 am Erzählen geboren. Sie stellt ein erregendes Erlebnis ins pse_521.033 Zentrum. Da sie zugleich durch die Erzählung einen Sachverhalt pse_521.034 erklären will, zeigen will, wie es dazu gekommen ist, pse_521.035 vertritt sie in Frühzeiten teilweise die Wissenschaft, bleibt pse_521.036 aber durch ihre Darstellung im Bereich des Dichterischen.
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Freiheit, Einheit und Vielheit. So ist das Märchen eine reine pse_521.012
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 521. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/537>, abgerufen am 24.11.2024.
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