pse_517.001 Die vielfachen Möglichkeiten novellenhaften Gestaltens pse_517.002 erklären auch die reiche Entfaltung dieser Art. Ursprünglich pse_517.003 mehr der Belehrung dienend, wird sie bald reine Unterhaltungskunst pse_517.004 allerdings geistiger und vornehmer Prägung. Dann pse_517.005 wirken in der weiteren Entwicklung auch immer wieder pse_517.006 andere Erzählformen herein, das Märchen, die Sage, die Legende, pse_517.007 die Anekdote usw. Mit ihnen hat sich das "Novellieren" pse_517.008 künstlerisch immer wieder auseinanderzusetzen. In pse_517.009 den romanischen Ländern wird die Novelle zunächst ein pse_517.010 pointierter Erzählbericht mit überraschender Wendung als pse_517.011 Höhe. Während in den romanischen Ländern im 19. Jahrhundert pse_517.012 die Novelle stark ins Psychologische geht, entwickelt pse_517.013 sie sich in gleicher Zeit in Deutschland in anderer Richtung: pse_517.014 sie wird in ihren Umrissen erweitert und des gesellschaftlichen pse_517.015 Charakters entkleidet. Die strenge Form bleibt, aber die pse_517.016 seelische Problematik wird vertieft, es entsteht die Persönlichkeitsnovelle, pse_517.017 die im einmaligen und auffälligen Vorgang pse_517.018 zugleich in die Tiefen eines Menschen lotet.
pse_517.019 Neben der Novelle entwickeln sich im Lauf der Zeit noch pse_517.020 andere Formen knappen Erzählens mit strengem oder mindestens pse_517.021 betontem Aufbau. Die Anekdote stellt im Wesen beinahe pse_517.022 eine einfache Form dar: eine Äußerung wird sprachlich pse_517.023 geformt, die eine Persönlichkeit scharf charakterisiert. Wird pse_517.024 diese Äußerung erzählerisch gestaltet, so haben wir die Kunstform, pse_517.025 die uns geläufig ist. Sie begegnet uns als besonders pse_517.026 pointierte, witzige Kurzgeschichte, in der italienischen Renaissance pse_517.027 als Facetie, von Poggio in die Weltliteratur eingeführt. pse_517.028 Der Humanismus pflegt diese Form besonders. Zur pse_517.029 hohen Kunst entfaltet dann Kleist die Form der Anekdote, nach pse_517.030 ihm Wilhelm Schäfer, wenngleich viele seiner Anekdoten pse_517.031 eher als Novellen zu bezeichnen sind. Diese Erzählart ist also pse_517.032 immer um den Kern einer bedeutenden und bekannten Persönlichkeit pse_517.033 gelegt. Es wird erzählerisch ein spannungsvoller pse_517.034 Augenblick gestaltet, in dem sich ein Charakter plötzlich pse_517.035 hell in seiner Eigenart enthüllt. Ein unwahrscheinlicher oder pse_517.036 oft sogar beinahe unmöglicher Vorgang wird erzählerisch als pse_517.037 selbstverständlich hingestellt, und so kommt es zu stoßweisen pse_517.038 Überraschungen.
pse_517.001 Die vielfachen Möglichkeiten novellenhaften Gestaltens pse_517.002 erklären auch die reiche Entfaltung dieser Art. Ursprünglich pse_517.003 mehr der Belehrung dienend, wird sie bald reine Unterhaltungskunst pse_517.004 allerdings geistiger und vornehmer Prägung. Dann pse_517.005 wirken in der weiteren Entwicklung auch immer wieder pse_517.006 andere Erzählformen herein, das Märchen, die Sage, die Legende, pse_517.007 die Anekdote usw. Mit ihnen hat sich das »Novellieren« pse_517.008 künstlerisch immer wieder auseinanderzusetzen. In pse_517.009 den romanischen Ländern wird die Novelle zunächst ein pse_517.010 pointierter Erzählbericht mit überraschender Wendung als pse_517.011 Höhe. Während in den romanischen Ländern im 19. Jahrhundert pse_517.012 die Novelle stark ins Psychologische geht, entwickelt pse_517.013 sie sich in gleicher Zeit in Deutschland in anderer Richtung: pse_517.014 sie wird in ihren Umrissen erweitert und des gesellschaftlichen pse_517.015 Charakters entkleidet. Die strenge Form bleibt, aber die pse_517.016 seelische Problematik wird vertieft, es entsteht die Persönlichkeitsnovelle, pse_517.017 die im einmaligen und auffälligen Vorgang pse_517.018 zugleich in die Tiefen eines Menschen lotet.
pse_517.019 Neben der Novelle entwickeln sich im Lauf der Zeit noch pse_517.020 andere Formen knappen Erzählens mit strengem oder mindestens pse_517.021 betontem Aufbau. Die Anekdote stellt im Wesen beinahe pse_517.022 eine einfache Form dar: eine Äußerung wird sprachlich pse_517.023 geformt, die eine Persönlichkeit scharf charakterisiert. Wird pse_517.024 diese Äußerung erzählerisch gestaltet, so haben wir die Kunstform, pse_517.025 die uns geläufig ist. Sie begegnet uns als besonders pse_517.026 pointierte, witzige Kurzgeschichte, in der italienischen Renaissance pse_517.027 als Facetie, von Poggio in die Weltliteratur eingeführt. pse_517.028 Der Humanismus pflegt diese Form besonders. Zur pse_517.029 hohen Kunst entfaltet dann Kleist die Form der Anekdote, nach pse_517.030 ihm Wilhelm Schäfer, wenngleich viele seiner Anekdoten pse_517.031 eher als Novellen zu bezeichnen sind. Diese Erzählart ist also pse_517.032 immer um den Kern einer bedeutenden und bekannten Persönlichkeit pse_517.033 gelegt. Es wird erzählerisch ein spannungsvoller pse_517.034 Augenblick gestaltet, in dem sich ein Charakter plötzlich pse_517.035 hell in seiner Eigenart enthüllt. Ein unwahrscheinlicher oder pse_517.036 oft sogar beinahe unmöglicher Vorgang wird erzählerisch als pse_517.037 selbstverständlich hingestellt, und so kommt es zu stoßweisen pse_517.038 Überraschungen.
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künstlerisch immer wieder auseinanderzusetzen. In pse_517.009
den romanischen Ländern wird die Novelle zunächst ein pse_517.010
pointierter Erzählbericht mit überraschender Wendung als pse_517.011
Höhe. Während in den romanischen Ländern im 19. Jahrhundert pse_517.012
die Novelle stark ins Psychologische geht, entwickelt pse_517.013
sie sich in gleicher Zeit in Deutschland in anderer Richtung: pse_517.014
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seelische Problematik wird vertieft, es entsteht die Persönlichkeitsnovelle, pse_517.017
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Neben der Novelle entwickeln sich im Lauf der Zeit noch pse_517.020
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hohen Kunst entfaltet dann Kleist die Form der Anekdote, nach pse_517.030
ihm Wilhelm Schäfer, wenngleich viele seiner Anekdoten pse_517.031
eher als Novellen zu bezeichnen sind. Diese Erzählart ist also pse_517.032
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/533>, abgerufen am 24.11.2024.
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