pse_037.001 und tastend sich dem Wesentlichen der Dichtung zu nähern.
pse_037.002 Die vier Merkmale aber haben zugleich angedeutet, in pse_037.003 welchen Richtungen wir dann weiterzuschreiten haben. pse_037.004 Denn sie haben bereits gezeigt, welche Fragen wir anzugehen pse_037.005 haben: Wirklichkeitsbezug, Verwesentlichung und Menschlichkeit pse_037.006 gehen wir im zweiten Teil der Reihe nach an, die pse_037.007 künstlerische Gestalt im dritten und vierten.
pse_037.008 Dichtung und andere Sprachkunstwerke
pse_037.009 Da unsere Hauptaufgabe die Betrachtung der Dichtung pse_037.010 bleibt, wollen wir sie noch zuerst abheben von anderen pse_037.011 Bereichen, die vielfach damit im Zusammenhang stehen, pse_037.012 auch oft verwirrt werden.
pse_037.013 Die Scheidung zwischen Prosa und Dichtung ist nicht pse_037.014 brauchbar, auch dann nicht, wenn man Prosa als Nichtdichtung pse_037.015 auffaßt. Den rein lautungsmäßigen Unterschied zwischen pse_037.016 Vers und Prosa beleuchten wir erst später. Aber es gibt pse_037.017 auch Verse, die keine Dichtung sind. Früher lernte man in pse_037.018 der Lateingrammatik Merkverse über die Geschlechter der pse_037.019 Substantiva, z. B.
pse_037.020
Die Männer, Völker, Windpse_037.021 Und Flüsse Maskulina sind.pse_037.022 Die Weiber, Bäume, Städt' und Landpse_037.023 Und Inseln weiblich sind benannt.
pse_037.024
Das sind Verse, aber sicher keine Dichtung. Umgekehrt ist pse_037.025 der "Werther", der "Hyperion", aber auch "Effi Briest" und pse_037.026 der "Zauberberg" usw. sicher Prosa, aber ebenso gewiß pse_037.027 Dichtung.
pse_037.028 Wohl aber muß der Bezug Dichtung -- Sprachkunstwerkpse_037.029 noch beachtet werden. Ganz einfach läßt sich sagen: jede pse_037.030 Dichtung ist ein Sprachkunstwerk, es gibt keine Dichtung, pse_037.031 die nicht auch Sprachkunst wäre. (In der Ästhetik des 19. pse_037.032 Jahrhunderts wäre das möglich gewesen, da ja die Sprache pse_037.033 bloß als das Vehikel für die Dichtung in die Öffentlichkeit angesehen pse_037.034 wurde.) Aber: es gibt viele Sprachkunstwerke, die
pse_037.001 und tastend sich dem Wesentlichen der Dichtung zu nähern.
pse_037.002 Die vier Merkmale aber haben zugleich angedeutet, in pse_037.003 welchen Richtungen wir dann weiterzuschreiten haben. pse_037.004 Denn sie haben bereits gezeigt, welche Fragen wir anzugehen pse_037.005 haben: Wirklichkeitsbezug, Verwesentlichung und Menschlichkeit pse_037.006 gehen wir im zweiten Teil der Reihe nach an, die pse_037.007 künstlerische Gestalt im dritten und vierten.
pse_037.008 Dichtung und andere Sprachkunstwerke
pse_037.009 Da unsere Hauptaufgabe die Betrachtung der Dichtung pse_037.010 bleibt, wollen wir sie noch zuerst abheben von anderen pse_037.011 Bereichen, die vielfach damit im Zusammenhang stehen, pse_037.012 auch oft verwirrt werden.
pse_037.013 Die Scheidung zwischen Prosa und Dichtung ist nicht pse_037.014 brauchbar, auch dann nicht, wenn man Prosa als Nichtdichtung pse_037.015 auffaßt. Den rein lautungsmäßigen Unterschied zwischen pse_037.016 Vers und Prosa beleuchten wir erst später. Aber es gibt pse_037.017 auch Verse, die keine Dichtung sind. Früher lernte man in pse_037.018 der Lateingrammatik Merkverse über die Geschlechter der pse_037.019 Substantiva, z. B.
pse_037.020
Die Männer, Völker, Windpse_037.021 Und Flüsse Maskulina sind.pse_037.022 Die Weiber, Bäume, Städt' und Landpse_037.023 Und Inseln weiblich sind benannt.
pse_037.024
Das sind Verse, aber sicher keine Dichtung. Umgekehrt ist pse_037.025 der »Werther«, der »Hyperion«, aber auch »Effi Briest« und pse_037.026 der »Zauberberg« usw. sicher Prosa, aber ebenso gewiß pse_037.027 Dichtung.
pse_037.028 Wohl aber muß der Bezug Dichtung — Sprachkunstwerkpse_037.029 noch beachtet werden. Ganz einfach läßt sich sagen: jede pse_037.030 Dichtung ist ein Sprachkunstwerk, es gibt keine Dichtung, pse_037.031 die nicht auch Sprachkunst wäre. (In der Ästhetik des 19. pse_037.032 Jahrhunderts wäre das möglich gewesen, da ja die Sprache pse_037.033 bloß als das Vehikel für die Dichtung in die Öffentlichkeit angesehen pse_037.034 wurde.) Aber: es gibt viele Sprachkunstwerke, die
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0053"n="37"/><lbn="pse_037.001"/>
und tastend sich dem Wesentlichen der Dichtung zu nähern.</p><p><lbn="pse_037.002"/>
Die vier Merkmale aber haben zugleich angedeutet, in <lbn="pse_037.003"/>
welchen Richtungen wir dann weiterzuschreiten haben. <lbn="pse_037.004"/>
Denn sie haben bereits gezeigt, welche Fragen wir anzugehen <lbn="pse_037.005"/>
haben: Wirklichkeitsbezug, Verwesentlichung und Menschlichkeit <lbn="pse_037.006"/>
gehen wir im zweiten Teil der Reihe nach an, die <lbn="pse_037.007"/>
künstlerische Gestalt im dritten und vierten.</p></div><divn="3"><lbn="pse_037.008"/><head><hirendition="#c"><hirendition="#i">Dichtung und andere Sprachkunstwerke</hi></hi></head><p><lbn="pse_037.009"/>
Da unsere Hauptaufgabe die Betrachtung der Dichtung <lbn="pse_037.010"/>
bleibt, wollen wir sie noch zuerst abheben von anderen <lbn="pse_037.011"/>
Bereichen, die vielfach damit im Zusammenhang stehen, <lbn="pse_037.012"/>
auch oft verwirrt werden.</p><p><lbn="pse_037.013"/>
Die Scheidung zwischen <hirendition="#i">Prosa</hi> und <hirendition="#i">Dichtung</hi> ist nicht <lbn="pse_037.014"/>
brauchbar, auch dann nicht, wenn man Prosa als Nichtdichtung <lbn="pse_037.015"/>
auffaßt. Den rein lautungsmäßigen Unterschied zwischen <lbn="pse_037.016"/>
Vers und Prosa beleuchten wir erst später. Aber es gibt <lbn="pse_037.017"/>
auch Verse, die keine Dichtung sind. Früher lernte man in <lbn="pse_037.018"/>
der Lateingrammatik Merkverse über die Geschlechter der <lbn="pse_037.019"/>
Substantiva, z. B.</p><lbn="pse_037.020"/><lg><l><hirendition="#aq">Die Männer, Völker, Wind</hi></l><lbn="pse_037.021"/><l><hirendition="#aq">Und Flüsse Maskulina sind.</hi></l><lbn="pse_037.022"/><l><hirendition="#aq">Die Weiber, Bäume, Städt' und Land</hi></l><lbn="pse_037.023"/><l><hirendition="#aq">Und Inseln weiblich sind benannt.</hi></l></lg><lbn="pse_037.024"/><p>Das sind Verse, aber sicher keine Dichtung. Umgekehrt ist <lbn="pse_037.025"/>
der »Werther«, der »Hyperion«, aber auch »Effi Briest« und <lbn="pse_037.026"/>
der »Zauberberg« usw. sicher Prosa, aber ebenso gewiß <lbn="pse_037.027"/>
Dichtung.</p><p><lbn="pse_037.028"/>
Wohl aber muß der Bezug <hirendition="#i">Dichtung — Sprachkunstwerk</hi><lbn="pse_037.029"/>
noch beachtet werden. Ganz einfach läßt sich sagen: jede <lbn="pse_037.030"/>
Dichtung ist ein Sprachkunstwerk, es gibt keine Dichtung, <lbn="pse_037.031"/>
die nicht auch Sprachkunst wäre. (In der Ästhetik des 19. <lbn="pse_037.032"/>
Jahrhunderts wäre das möglich gewesen, da ja die Sprache <lbn="pse_037.033"/>
bloß als das Vehikel für die Dichtung in die Öffentlichkeit angesehen <lbn="pse_037.034"/>
wurde.) Aber: es gibt viele Sprachkunstwerke, die
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[37/0053]
pse_037.001
und tastend sich dem Wesentlichen der Dichtung zu nähern.
pse_037.002
Die vier Merkmale aber haben zugleich angedeutet, in pse_037.003
welchen Richtungen wir dann weiterzuschreiten haben. pse_037.004
Denn sie haben bereits gezeigt, welche Fragen wir anzugehen pse_037.005
haben: Wirklichkeitsbezug, Verwesentlichung und Menschlichkeit pse_037.006
gehen wir im zweiten Teil der Reihe nach an, die pse_037.007
künstlerische Gestalt im dritten und vierten.
pse_037.008
Dichtung und andere Sprachkunstwerke pse_037.009
Da unsere Hauptaufgabe die Betrachtung der Dichtung pse_037.010
bleibt, wollen wir sie noch zuerst abheben von anderen pse_037.011
Bereichen, die vielfach damit im Zusammenhang stehen, pse_037.012
auch oft verwirrt werden.
pse_037.013
Die Scheidung zwischen Prosa und Dichtung ist nicht pse_037.014
brauchbar, auch dann nicht, wenn man Prosa als Nichtdichtung pse_037.015
auffaßt. Den rein lautungsmäßigen Unterschied zwischen pse_037.016
Vers und Prosa beleuchten wir erst später. Aber es gibt pse_037.017
auch Verse, die keine Dichtung sind. Früher lernte man in pse_037.018
der Lateingrammatik Merkverse über die Geschlechter der pse_037.019
Substantiva, z. B.
pse_037.020
Die Männer, Völker, Wind pse_037.021
Und Flüsse Maskulina sind. pse_037.022
Die Weiber, Bäume, Städt' und Land pse_037.023
Und Inseln weiblich sind benannt.
pse_037.024
Das sind Verse, aber sicher keine Dichtung. Umgekehrt ist pse_037.025
der »Werther«, der »Hyperion«, aber auch »Effi Briest« und pse_037.026
der »Zauberberg« usw. sicher Prosa, aber ebenso gewiß pse_037.027
Dichtung.
pse_037.028
Wohl aber muß der Bezug Dichtung — Sprachkunstwerk pse_037.029
noch beachtet werden. Ganz einfach läßt sich sagen: jede pse_037.030
Dichtung ist ein Sprachkunstwerk, es gibt keine Dichtung, pse_037.031
die nicht auch Sprachkunst wäre. (In der Ästhetik des 19. pse_037.032
Jahrhunderts wäre das möglich gewesen, da ja die Sprache pse_037.033
bloß als das Vehikel für die Dichtung in die Öffentlichkeit angesehen pse_037.034
wurde.) Aber: es gibt viele Sprachkunstwerke, die
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/53>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.