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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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strengen Form. Schon in der Renaissance spricht man von pse_513.002
Novellieren, wenn es auch ursprünglich tief eingestuft wurde. pse_513.003
Man verstand darunter unterhaltendes und pointenhaftes Erzählen. pse_513.004
Aber gerade darin liegt ein Merkmal, das Novellen pse_513.005
von anderen Erzählungen eben doch unterscheidet: es muß pse_513.006
gut und geistreich erzählt werden. Damit ist angedeutet, pse_513.007
daß die Novelle bewußte künstlerische Gestaltung zeigen soll, pse_513.008
daß sie sich, um eben eine Pointe zu ermöglichen, auf knappe pse_513.009
Ereignisse, auffällige Situationen und Geschehnisse einzustellen pse_513.010
hat. Faßt man das alles zusammen, so kann man doch pse_513.011
allgemeine Züge dieser Erzählart festlegen, die nicht bloß pse_513.012
historisch bedingt, und damit begrenzt sind, sondern die eine pse_513.013
bestimmte Art des Erzählens umreißen. So ergeben sich zwei pse_513.014
Kennzeichen: die bewußte und betonte künstlerische Gestaltung pse_513.015
und die Steigerung auf eine Höhe hin. Das knappe pse_513.016
Erzählen ist damit von selbst gegeben. Natürlich darf der pse_513.017
Begriff "knapp" im Laufe der Novellenentwicklung und in pse_513.018
bezug auf den Novellentypus nur relativ genommen werden. pse_513.019
Hier kommt es auf die Art des Dichters an. Kleist und C. F. pse_513.020
Meyer haben an sich eine knappere künstlerische Darstellungsweise pse_513.021
als G. Keller, Stifter und Th. Mann. Daher werden pse_513.022
Novellen dieser drei im Vergleich zu denen der anderen viel pse_513.023
breiter sein. Aber im Vergleich zu ihren Romanen wird man pse_513.024
erkennen, daß auch sie in ihren Novellen künstlerisch geschlossene, pse_513.025
auf eine Höhe sich hinsteigernde Gebilde schaffen, pse_513.026
die etwas als einmaliges Ereignis herausarbeiten. In den "Drei pse_513.027
gerechten Kammachern" ist die Geschlossenheit durch die pse_513.028
Doppelgängerei erreicht und durch den Vorschlag des Meisters pse_513.029
zum Wettlauf, der denn auch die Höhe der Novelle pse_513.030
bildet, das, worauf es ankommt. Stifter stellt "Brigitta" in pse_513.031
einen klaren Rahmen, schafft durch die Erzählweise eine geschlossene, pse_513.032
ineinander geschichtete Einheit, die im langsamen pse_513.033
seelischen Reifwerden zu neuer und dauernder Verbundenheit pse_513.034
das Einmalige herausstellt und in der Versöhnung die pse_513.035
Höhe erreicht, auf die die ganze Bewegung hinzielt. Im pse_513.036
"Tonio Kröger" hat Th. Mann scheinbar ein Leben gestaltet. pse_513.037
Aber es ist als Ereignis gesehen: als das Reifen zu einem entsagungsvollen pse_513.038
Entschluß aus anfänglichem Schwanken und

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einen klaren Rahmen, schafft durch die Erzählweise eine geschlossene, pse_513.032
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seelischen Reifwerden zu neuer und dauernder Verbundenheit pse_513.034
das Einmalige herausstellt und in der Versöhnung die pse_513.035
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[513/0529] pse_513.001 strengen Form. Schon in der Renaissance spricht man von pse_513.002 Novellieren, wenn es auch ursprünglich tief eingestuft wurde. pse_513.003 Man verstand darunter unterhaltendes und pointenhaftes Erzählen. pse_513.004 Aber gerade darin liegt ein Merkmal, das Novellen pse_513.005 von anderen Erzählungen eben doch unterscheidet: es muß pse_513.006 gut und geistreich erzählt werden. Damit ist angedeutet, pse_513.007 daß die Novelle bewußte künstlerische Gestaltung zeigen soll, pse_513.008 daß sie sich, um eben eine Pointe zu ermöglichen, auf knappe pse_513.009 Ereignisse, auffällige Situationen und Geschehnisse einzustellen pse_513.010 hat. Faßt man das alles zusammen, so kann man doch pse_513.011 allgemeine Züge dieser Erzählart festlegen, die nicht bloß pse_513.012 historisch bedingt, und damit begrenzt sind, sondern die eine pse_513.013 bestimmte Art des Erzählens umreißen. So ergeben sich zwei pse_513.014 Kennzeichen: die bewußte und betonte künstlerische Gestaltung pse_513.015 und die Steigerung auf eine Höhe hin. Das knappe pse_513.016 Erzählen ist damit von selbst gegeben. Natürlich darf der pse_513.017 Begriff »knapp« im Laufe der Novellenentwicklung und in pse_513.018 bezug auf den Novellentypus nur relativ genommen werden. pse_513.019 Hier kommt es auf die Art des Dichters an. Kleist und C. F. pse_513.020 Meyer haben an sich eine knappere künstlerische Darstellungsweise pse_513.021 als G. Keller, Stifter und Th. Mann. Daher werden pse_513.022 Novellen dieser drei im Vergleich zu denen der anderen viel pse_513.023 breiter sein. Aber im Vergleich zu ihren Romanen wird man pse_513.024 erkennen, daß auch sie in ihren Novellen künstlerisch geschlossene, pse_513.025 auf eine Höhe sich hinsteigernde Gebilde schaffen, pse_513.026 die etwas als einmaliges Ereignis herausarbeiten. In den »Drei pse_513.027 gerechten Kammachern« ist die Geschlossenheit durch die pse_513.028 Doppelgängerei erreicht und durch den Vorschlag des Meisters pse_513.029 zum Wettlauf, der denn auch die Höhe der Novelle pse_513.030 bildet, das, worauf es ankommt. Stifter stellt »Brigitta« in pse_513.031 einen klaren Rahmen, schafft durch die Erzählweise eine geschlossene, pse_513.032 ineinander geschichtete Einheit, die im langsamen pse_513.033 seelischen Reifwerden zu neuer und dauernder Verbundenheit pse_513.034 das Einmalige herausstellt und in der Versöhnung die pse_513.035 Höhe erreicht, auf die die ganze Bewegung hinzielt. Im pse_513.036 »Tonio Kröger« hat Th. Mann scheinbar ein Leben gestaltet. pse_513.037 Aber es ist als Ereignis gesehen: als das Reifen zu einem entsagungsvollen pse_513.038 Entschluß aus anfänglichem Schwanken und

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/529>, abgerufen am 24.11.2024.