pse_512.001 einfach kürzere Erzählungen. Man spürt aber doch, daß irgendein pse_512.002 Idealtypus zugrunde liegt. Wenn man ihn von einem bestimmten pse_512.003 geschichtlichen Bestand aus bestimmen will, wird pse_512.004 das einseitig. Nur so ist es möglich, daß man auch behauptet, pse_512.005 im 20. Jahrhundert sei die Novelle von anderen Arten abgelöst pse_512.006 worden. Solche können sich neu gebildet haben, können pse_512.007 hinzugetreten sein.
pse_512.008 Man kommt dem Wesen, so vorsichtig es umgriffen sein pse_512.009 muß, näher, wenn man es mit anderen Arten vergleicht. Man pse_512.010 kann sagen, daß der Roman eine große Entwicklung darstellt, pse_512.011 reich entfaltete Vorgänge gestaltet und formal eine große pse_512.012 Mannigfaltigkeit aufweist, während die Novelle ein bestimmtes pse_512.013 Geschehnis in geschlossener Form gestaltet. Genauer pse_512.014 müßte man sagen: daß sie einen Vorgang, der an sich breit pse_512.015 und lang sein könnte, in der Darstellung zu einem dichten pse_512.016 Geschehnis zusammenzieht. Darum ist der "Grüne Heinrich" pse_512.017 ein Roman, obwohl er nicht das ganze Leben der Hauptfigur pse_512.018 darstellt, und ist der "Schimmelreiter" eine Novelle, obwohl pse_512.019 das ganze Leben Hauke Haiens erzählt wird, aber als ein pse_512.020 geschlossenes Geschehnis, als eine bestimmt umgrenzbare pse_512.021 Phase des menschlichen Kampfes mit dem Meer, erwachsen pse_512.022 aus einem Apercu, wie Goethe sagen würde, nämlich der pse_512.023 neuen Deichform und dem Willensakt, sie zu verwirklichen. pse_512.024 Mit dem Drama hat die Novelle die strenge Form, damit die pse_512.025 Herausarbeitung des Wesentlichen gemeinsam. Wir erkennen pse_512.026 hier wieder den Zusammenhang der Kurzepik mit dem Drama: pse_512.027 Knappe Formung gestaltet Vorgänge immer wieder in pse_512.028 bestimmter Weise: sprunghaft, szenisch; damit treten Gegensätze pse_512.029 hervor, denn gerade sie lassen sich in solcher Gestalt pse_512.030 besonders einprägsam herausarbeiten. Spannung wird wach. pse_512.031 Damit nähern wir uns einem Weltbild, das vor allem die pse_512.032 Polarität und Gespanntheit der Welt hervorkehrt. All das sind pse_512.033 Züge, die auch dem Dramatischen eignen.
pse_512.034 So lösen sich aus dieser Besinnung schon gewisse Züge pse_512.035 heraus: Konzentration der Geschehnisdarstellung, Herausarbeitung pse_512.036 von entscheidenden Situationen, Gruppierung des pse_512.037 Ganzen um ein zentrales Ereignis. Es gibt ein novellistisches pse_512.038 Erzählen: Verdichtung einer einzelnen Begebenheit in einer
pse_512.001 einfach kürzere Erzählungen. Man spürt aber doch, daß irgendein pse_512.002 Idealtypus zugrunde liegt. Wenn man ihn von einem bestimmten pse_512.003 geschichtlichen Bestand aus bestimmen will, wird pse_512.004 das einseitig. Nur so ist es möglich, daß man auch behauptet, pse_512.005 im 20. Jahrhundert sei die Novelle von anderen Arten abgelöst pse_512.006 worden. Solche können sich neu gebildet haben, können pse_512.007 hinzugetreten sein.
pse_512.008 Man kommt dem Wesen, so vorsichtig es umgriffen sein pse_512.009 muß, näher, wenn man es mit anderen Arten vergleicht. Man pse_512.010 kann sagen, daß der Roman eine große Entwicklung darstellt, pse_512.011 reich entfaltete Vorgänge gestaltet und formal eine große pse_512.012 Mannigfaltigkeit aufweist, während die Novelle ein bestimmtes pse_512.013 Geschehnis in geschlossener Form gestaltet. Genauer pse_512.014 müßte man sagen: daß sie einen Vorgang, der an sich breit pse_512.015 und lang sein könnte, in der Darstellung zu einem dichten pse_512.016 Geschehnis zusammenzieht. Darum ist der »Grüne Heinrich« pse_512.017 ein Roman, obwohl er nicht das ganze Leben der Hauptfigur pse_512.018 darstellt, und ist der »Schimmelreiter« eine Novelle, obwohl pse_512.019 das ganze Leben Hauke Haiens erzählt wird, aber als ein pse_512.020 geschlossenes Geschehnis, als eine bestimmt umgrenzbare pse_512.021 Phase des menschlichen Kampfes mit dem Meer, erwachsen pse_512.022 aus einem Aperçu, wie Goethe sagen würde, nämlich der pse_512.023 neuen Deichform und dem Willensakt, sie zu verwirklichen. pse_512.024 Mit dem Drama hat die Novelle die strenge Form, damit die pse_512.025 Herausarbeitung des Wesentlichen gemeinsam. Wir erkennen pse_512.026 hier wieder den Zusammenhang der Kurzepik mit dem Drama: pse_512.027 Knappe Formung gestaltet Vorgänge immer wieder in pse_512.028 bestimmter Weise: sprunghaft, szenisch; damit treten Gegensätze pse_512.029 hervor, denn gerade sie lassen sich in solcher Gestalt pse_512.030 besonders einprägsam herausarbeiten. Spannung wird wach. pse_512.031 Damit nähern wir uns einem Weltbild, das vor allem die pse_512.032 Polarität und Gespanntheit der Welt hervorkehrt. All das sind pse_512.033 Züge, die auch dem Dramatischen eignen.
pse_512.034 So lösen sich aus dieser Besinnung schon gewisse Züge pse_512.035 heraus: Konzentration der Geschehnisdarstellung, Herausarbeitung pse_512.036 von entscheidenden Situationen, Gruppierung des pse_512.037 Ganzen um ein zentrales Ereignis. Es gibt ein novellistisches pse_512.038 Erzählen: Verdichtung einer einzelnen Begebenheit in einer
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Idealtypus zugrunde liegt. Wenn man ihn von einem bestimmten pse_512.003
geschichtlichen Bestand aus bestimmen will, wird pse_512.004
das einseitig. Nur so ist es möglich, daß man auch behauptet, pse_512.005
im 20. Jahrhundert sei die Novelle von anderen Arten abgelöst pse_512.006
worden. Solche können sich neu gebildet haben, können pse_512.007
hinzugetreten sein.
pse_512.008
Man kommt dem Wesen, so vorsichtig es umgriffen sein pse_512.009
muß, näher, wenn man es mit anderen Arten vergleicht. Man pse_512.010
kann sagen, daß der Roman eine große Entwicklung darstellt, pse_512.011
reich entfaltete Vorgänge gestaltet und formal eine große pse_512.012
Mannigfaltigkeit aufweist, während die Novelle ein bestimmtes pse_512.013
Geschehnis in geschlossener Form gestaltet. Genauer pse_512.014
müßte man sagen: daß sie einen Vorgang, der an sich breit pse_512.015
und lang sein könnte, in der Darstellung zu einem dichten pse_512.016
Geschehnis zusammenzieht. Darum ist der »Grüne Heinrich« pse_512.017
ein Roman, obwohl er nicht das ganze Leben der Hauptfigur pse_512.018
darstellt, und ist der »Schimmelreiter« eine Novelle, obwohl pse_512.019
das ganze Leben Hauke Haiens erzählt wird, aber als ein pse_512.020
geschlossenes Geschehnis, als eine bestimmt umgrenzbare pse_512.021
Phase des menschlichen Kampfes mit dem Meer, erwachsen pse_512.022
aus einem Aperçu, wie Goethe sagen würde, nämlich der pse_512.023
neuen Deichform und dem Willensakt, sie zu verwirklichen. pse_512.024
Mit dem Drama hat die Novelle die strenge Form, damit die pse_512.025
Herausarbeitung des Wesentlichen gemeinsam. Wir erkennen pse_512.026
hier wieder den Zusammenhang der Kurzepik mit dem Drama: pse_512.027
Knappe Formung gestaltet Vorgänge immer wieder in pse_512.028
bestimmter Weise: sprunghaft, szenisch; damit treten Gegensätze pse_512.029
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besonders einprägsam herausarbeiten. Spannung wird wach. pse_512.031
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/528>, abgerufen am 24.11.2024.
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