pse_476.001 von einem Sachbericht unterscheidet. Goethes Selbstbiographie pse_476.002 ist zwar sprachkünstlerisch durchgebildet, weist aber pse_476.003 im Gesamten und in den Einzelheiten immer deutlich und pse_476.004 bewußt auf eine außersprachliche Wirklichkeit. Die Lektüre pse_476.005 würde den Sinn verfehlen, wenn man diese nicht im Auge pse_476.006 hätte. Der "Nachsommer" aber ist in sich sprachgeschlossen. pse_476.007 Die Wirklichkeit haben wir nirgends anders als im Werk selber pse_476.008 zu sehen. Das erreicht der Dichter durch die sprachkünstlerische pse_476.009 Gestaltung, durch den kunstvollen Aufbau, der von pse_476.010 vornherein nicht außer sich weist, und auch dadurch, daß genaue pse_476.011 geographische und zeitliche Angaben fehlen. Aber auch pse_476.012 wenn diese da wären, könnten sie nichts gegen eine eindringliche pse_476.013 Sprachkunst ausrichten, die in sich eine Welt aufbaut. pse_476.014 Das Eigenartige der Ich-Erzählung gegenüber dem auktorialen pse_476.015 Erzählen liegt künstlerisch vor allem in der stilhaften pse_476.016 Wirkung des Ich: wo ein Ich vernehmbar wird, ist immer der pse_476.017 unmittelbarste menschliche Ausdruck erlebbar. Damit rückt pse_476.018 hier der Erzähler menschlich in ein helleres Licht, er wird pse_476.019 greifbarer, man erlebt immer wieder, daß ein Mensch hier pse_476.020 zu uns spricht. Die Verbindung einer sprachgestalteten Wirklichkeit pse_476.021 mit dem Eindruck eines erzählenden Menschen ist pse_476.022 wieder nur eine Form und ein Beweis für die Menschlichkeit pse_476.023 jedes dichterischen Kunstwerks. Innerhalb der Form der Ich- pse_476.024 Erzählung gibt es wieder verschiedene Schattierungen. In pse_476.025 einem Briefroman etwa erscheint das Ich als besonders greifbare pse_476.026 Gestalt. Im "Grünen Heinrich" wird der Held auch noch pse_476.027 als deutliche Person gefühlt. Anders ist es schon im Erzähler pse_476.028 in "Moby Dick" von H. Melville. Im "Dr. Faustus" wieder ist pse_476.029 Zeitbloom geradezu als eine Gegengestalt zu Leverkühn klar pse_476.030 umrissen. Man kann also wohl nicht sagen, daß das Ich hier pse_476.031 schon auf dem Wege sei, eine bloße Erzählfunktion zu werden. pse_476.032 Das Ich in "Moby Dick" aber führt uns auf eine besonders pse_476.033 eigenartige Struktur des Erzähler-Ich. Erstens einmal ist pse_476.034 der Erzähler nicht die Hauptgestalt, diese ist unstreitig der pse_476.035 Kapitän Ahab. Dann aber gliedert sich dieses Erzähler-Ich pse_476.036 streng genommen in zwei Personen auf: in eine erlebende, pse_476.037 eben Ismael auf der Fahrt mit Kapitän Ahab, und in eine erzählende, pse_476.038 den alten Ismael in der Rückschau. Diese Spaltung
pse_476.001 von einem Sachbericht unterscheidet. Goethes Selbstbiographie pse_476.002 ist zwar sprachkünstlerisch durchgebildet, weist aber pse_476.003 im Gesamten und in den Einzelheiten immer deutlich und pse_476.004 bewußt auf eine außersprachliche Wirklichkeit. Die Lektüre pse_476.005 würde den Sinn verfehlen, wenn man diese nicht im Auge pse_476.006 hätte. Der »Nachsommer« aber ist in sich sprachgeschlossen. pse_476.007 Die Wirklichkeit haben wir nirgends anders als im Werk selber pse_476.008 zu sehen. Das erreicht der Dichter durch die sprachkünstlerische pse_476.009 Gestaltung, durch den kunstvollen Aufbau, der von pse_476.010 vornherein nicht außer sich weist, und auch dadurch, daß genaue pse_476.011 geographische und zeitliche Angaben fehlen. Aber auch pse_476.012 wenn diese da wären, könnten sie nichts gegen eine eindringliche pse_476.013 Sprachkunst ausrichten, die in sich eine Welt aufbaut. pse_476.014 Das Eigenartige der Ich-Erzählung gegenüber dem auktorialen pse_476.015 Erzählen liegt künstlerisch vor allem in der stilhaften pse_476.016 Wirkung des Ich: wo ein Ich vernehmbar wird, ist immer der pse_476.017 unmittelbarste menschliche Ausdruck erlebbar. Damit rückt pse_476.018 hier der Erzähler menschlich in ein helleres Licht, er wird pse_476.019 greifbarer, man erlebt immer wieder, daß ein Mensch hier pse_476.020 zu uns spricht. Die Verbindung einer sprachgestalteten Wirklichkeit pse_476.021 mit dem Eindruck eines erzählenden Menschen ist pse_476.022 wieder nur eine Form und ein Beweis für die Menschlichkeit pse_476.023 jedes dichterischen Kunstwerks. Innerhalb der Form der Ich- pse_476.024 Erzählung gibt es wieder verschiedene Schattierungen. In pse_476.025 einem Briefroman etwa erscheint das Ich als besonders greifbare pse_476.026 Gestalt. Im »Grünen Heinrich« wird der Held auch noch pse_476.027 als deutliche Person gefühlt. Anders ist es schon im Erzähler pse_476.028 in »Moby Dick« von H. Melville. Im »Dr. Faustus« wieder ist pse_476.029 Zeitbloom geradezu als eine Gegengestalt zu Leverkühn klar pse_476.030 umrissen. Man kann also wohl nicht sagen, daß das Ich hier pse_476.031 schon auf dem Wege sei, eine bloße Erzählfunktion zu werden. pse_476.032 Das Ich in »Moby Dick« aber führt uns auf eine besonders pse_476.033 eigenartige Struktur des Erzähler-Ich. Erstens einmal ist pse_476.034 der Erzähler nicht die Hauptgestalt, diese ist unstreitig der pse_476.035 Kapitän Ahab. Dann aber gliedert sich dieses Erzähler-Ich pse_476.036 streng genommen in zwei Personen auf: in eine erlebende, pse_476.037 eben Ismael auf der Fahrt mit Kapitän Ahab, und in eine erzählende, pse_476.038 den alten Ismael in der Rückschau. Diese Spaltung
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ist zwar sprachkünstlerisch durchgebildet, weist aber pse_476.003
im Gesamten und in den Einzelheiten immer deutlich und pse_476.004
bewußt auf eine außersprachliche Wirklichkeit. Die Lektüre pse_476.005
würde den Sinn verfehlen, wenn man diese nicht im Auge pse_476.006
hätte. Der »Nachsommer« aber ist in sich sprachgeschlossen. pse_476.007
Die Wirklichkeit haben wir nirgends anders als im Werk selber pse_476.008
zu sehen. Das erreicht der Dichter durch die sprachkünstlerische pse_476.009
Gestaltung, durch den kunstvollen Aufbau, der von pse_476.010
vornherein nicht außer sich weist, und auch dadurch, daß genaue pse_476.011
geographische und zeitliche Angaben fehlen. Aber auch pse_476.012
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einem Briefroman etwa erscheint das Ich als besonders greifbare pse_476.026
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als deutliche Person gefühlt. Anders ist es schon im Erzähler pse_476.028
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Zeitbloom geradezu als eine Gegengestalt zu Leverkühn klar pse_476.030
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schon auf dem Wege sei, eine bloße Erzählfunktion zu werden. pse_476.032
Das Ich in »Moby Dick« aber führt uns auf eine besonders pse_476.033
eigenartige Struktur des Erzähler-Ich. Erstens einmal ist pse_476.034
der Erzähler nicht die Hauptgestalt, diese ist unstreitig der pse_476.035
Kapitän Ahab. Dann aber gliedert sich dieses Erzähler-Ich pse_476.036
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/492>, abgerufen am 22.11.2024.
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