pse_475.001 könnte, bleibe dahingestellt. Wir bezeichnen die drei Standpunkte pse_475.002 mit F. Stanzel ("Die typischen Erzählsituationen im pse_475.003 Roman").
pse_475.004 1. Wenn das Jetzt und Hier des Erzählers der Ausgangspunkt pse_475.005 des Erzählens ist, wenn sich in der Gestalt der Erzählung alles pse_475.006 von hier aus fügt, orientiert und gruppiert, sprechen wir vom pse_475.007 auktorialen Erzählen. Solche Art blüht vor allem im 18. Jahrhundert. pse_475.008 Das zeigt sich schon, wenn der Erzähler am Anfang pse_475.009 berichtet, wie er sich um die richtige Quelle bemüht. Oft pse_475.010 kommen Einmengungen des Erzählers vor. Aber auch dadurch pse_475.011 wirkt er sich aus, daß er den Gang der Handlung in pse_475.012 bestimmter Weise bewertet und erlebt. Er spricht sogar eine pse_475.013 Person der Erzählung oder eine fingierte Gestalt an. Besonders pse_475.014 deutlich macht sich auch der Erzähler als greifbare Persönlichkeit pse_475.015 bemerkbar in der Art, wie die Personen der Erzählung pse_475.016 charakterisiert werden. Bei knappen Zusammenfassungen pse_475.017 kann er sich deutlich zu Wort melden. Auffällig und bekannt pse_475.018 ist der Anfang der "Wahlverwandtschaften": "Eduard -- pse_475.019 so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter -- pse_475.020 ..." Hier ist das Mitwirken des Erzählers von Anfang an pse_475.021 deutlich. Das ist keine Illusionsstörung. Denn ein episches pse_475.022 Kunstwerk baut das Erzählen selbst ins Gesamtgefüge ein.
pse_475.023 2. Eine bedeutende und eigenartige Erzählweise ist die in pse_475.024 der Ich-Form. Sie steht nicht im reinen Gegensatz zum auktorialen pse_475.025 Erzählen, sondern ist im ganzen gesehen eine von vielen pse_475.026 Formen, ein Übergang zur dritten. Die Grundlage besteht pse_475.027 darin: die Seinsbereiche des Erzählers und der dargestellten pse_475.028 Wirklichkeit, die in der auktorialen Erzählweise getrennte pse_475.029 Welten sind, fallen hier in eins zusammen. Es ist neuerdings pse_475.030 versucht worden, das Ich als einen strukturellen Fremdling pse_475.031 im epischen Raum zu sehen. Das scheint schon angesichts der pse_475.032 vielen großen Ichromane der Weltliteratur bedenklich. Der pse_475.033 Ichroman sei die Gestaltung einer dokumentierbaren Wirklichkeit pse_475.034 und keine Fiktion. Aber die dichterische Eigenwelt pse_475.035 des Erzählten wird ja vor allem durch die Sprachkunst geschaffen, pse_475.036 und dann durch die Gesamtanlage. Man fragt, worin pse_475.037 der Unterschied zwischen einer Ich-Erzählung und einer pse_475.038 Selbstbiographie bestehe. Genau in dem, was eine Erzählung
pse_475.001 könnte, bleibe dahingestellt. Wir bezeichnen die drei Standpunkte pse_475.002 mit F. Stanzel (»Die typischen Erzählsituationen im pse_475.003 Roman«).
pse_475.004 1. Wenn das Jetzt und Hier des Erzählers der Ausgangspunkt pse_475.005 des Erzählens ist, wenn sich in der Gestalt der Erzählung alles pse_475.006 von hier aus fügt, orientiert und gruppiert, sprechen wir vom pse_475.007 auktorialen Erzählen. Solche Art blüht vor allem im 18. Jahrhundert. pse_475.008 Das zeigt sich schon, wenn der Erzähler am Anfang pse_475.009 berichtet, wie er sich um die richtige Quelle bemüht. Oft pse_475.010 kommen Einmengungen des Erzählers vor. Aber auch dadurch pse_475.011 wirkt er sich aus, daß er den Gang der Handlung in pse_475.012 bestimmter Weise bewertet und erlebt. Er spricht sogar eine pse_475.013 Person der Erzählung oder eine fingierte Gestalt an. Besonders pse_475.014 deutlich macht sich auch der Erzähler als greifbare Persönlichkeit pse_475.015 bemerkbar in der Art, wie die Personen der Erzählung pse_475.016 charakterisiert werden. Bei knappen Zusammenfassungen pse_475.017 kann er sich deutlich zu Wort melden. Auffällig und bekannt pse_475.018 ist der Anfang der »Wahlverwandtschaften«: »Eduard — pse_475.019 so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter — pse_475.020 ...« Hier ist das Mitwirken des Erzählers von Anfang an pse_475.021 deutlich. Das ist keine Illusionsstörung. Denn ein episches pse_475.022 Kunstwerk baut das Erzählen selbst ins Gesamtgefüge ein.
pse_475.023 2. Eine bedeutende und eigenartige Erzählweise ist die in pse_475.024 der Ich-Form. Sie steht nicht im reinen Gegensatz zum auktorialen pse_475.025 Erzählen, sondern ist im ganzen gesehen eine von vielen pse_475.026 Formen, ein Übergang zur dritten. Die Grundlage besteht pse_475.027 darin: die Seinsbereiche des Erzählers und der dargestellten pse_475.028 Wirklichkeit, die in der auktorialen Erzählweise getrennte pse_475.029 Welten sind, fallen hier in eins zusammen. Es ist neuerdings pse_475.030 versucht worden, das Ich als einen strukturellen Fremdling pse_475.031 im epischen Raum zu sehen. Das scheint schon angesichts der pse_475.032 vielen großen Ichromane der Weltliteratur bedenklich. Der pse_475.033 Ichroman sei die Gestaltung einer dokumentierbaren Wirklichkeit pse_475.034 und keine Fiktion. Aber die dichterische Eigenwelt pse_475.035 des Erzählten wird ja vor allem durch die Sprachkunst geschaffen, pse_475.036 und dann durch die Gesamtanlage. Man fragt, worin pse_475.037 der Unterschied zwischen einer Ich-Erzählung und einer pse_475.038 Selbstbiographie bestehe. Genau in dem, was eine Erzählung
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könnte, bleibe dahingestellt. Wir bezeichnen die drei Standpunkte pse_475.002
mit F. Stanzel (»Die typischen Erzählsituationen im pse_475.003
Roman«).
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1. Wenn das Jetzt und Hier des Erzählers der Ausgangspunkt pse_475.005
des Erzählens ist, wenn sich in der Gestalt der Erzählung alles pse_475.006
von hier aus fügt, orientiert und gruppiert, sprechen wir vom pse_475.007
auktorialen Erzählen. Solche Art blüht vor allem im 18. Jahrhundert. pse_475.008
Das zeigt sich schon, wenn der Erzähler am Anfang pse_475.009
berichtet, wie er sich um die richtige Quelle bemüht. Oft pse_475.010
kommen Einmengungen des Erzählers vor. Aber auch dadurch pse_475.011
wirkt er sich aus, daß er den Gang der Handlung in pse_475.012
bestimmter Weise bewertet und erlebt. Er spricht sogar eine pse_475.013
Person der Erzählung oder eine fingierte Gestalt an. Besonders pse_475.014
deutlich macht sich auch der Erzähler als greifbare Persönlichkeit pse_475.015
bemerkbar in der Art, wie die Personen der Erzählung pse_475.016
charakterisiert werden. Bei knappen Zusammenfassungen pse_475.017
kann er sich deutlich zu Wort melden. Auffällig und bekannt pse_475.018
ist der Anfang der »Wahlverwandtschaften«: »Eduard — pse_475.019
so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter — pse_475.020
...« Hier ist das Mitwirken des Erzählers von Anfang an pse_475.021
deutlich. Das ist keine Illusionsstörung. Denn ein episches pse_475.022
Kunstwerk baut das Erzählen selbst ins Gesamtgefüge ein.
pse_475.023
2. Eine bedeutende und eigenartige Erzählweise ist die in pse_475.024
der Ich-Form. Sie steht nicht im reinen Gegensatz zum auktorialen pse_475.025
Erzählen, sondern ist im ganzen gesehen eine von vielen pse_475.026
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darin: die Seinsbereiche des Erzählers und der dargestellten pse_475.028
Wirklichkeit, die in der auktorialen Erzählweise getrennte pse_475.029
Welten sind, fallen hier in eins zusammen. Es ist neuerdings pse_475.030
versucht worden, das Ich als einen strukturellen Fremdling pse_475.031
im epischen Raum zu sehen. Das scheint schon angesichts der pse_475.032
vielen großen Ichromane der Weltliteratur bedenklich. Der pse_475.033
Ichroman sei die Gestaltung einer dokumentierbaren Wirklichkeit pse_475.034
und keine Fiktion. Aber die dichterische Eigenwelt pse_475.035
des Erzählten wird ja vor allem durch die Sprachkunst geschaffen, pse_475.036
und dann durch die Gesamtanlage. Man fragt, worin pse_475.037
der Unterschied zwischen einer Ich-Erzählung und einer pse_475.038
Selbstbiographie bestehe. Genau in dem, was eine Erzählung
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/491>, abgerufen am 22.11.2024.
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