Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_033.001
Sprache durch die Vollentfaltung ihrer Kräfte eine Welt für pse_033.002
sich aufgebaut, die nur in diesem Sprachwerk da ist und nicht pse_033.003
außerhalb, dann ist es Sprachkunst. Da können theoretische pse_033.004
und soziale und politische und religiöse Werte auch mitklingen. pse_033.005
Sie alle aber sind eingefügt in ein ästhetisches Gebilde, pse_033.006
eben ins Sprachkunstwerk.

pse_033.007
Sprachkunst und Dichtung

pse_033.008
Unsere Betrachtung hat uns im Augenblick, wo wir die pse_033.009
Bedeutung der Sprache für die Dichtung und für ihre Sonderstellung pse_033.010
im Rahmen der Künste erkannt haben, von den pse_033.011
Grundfragen der menschlichen Sprache bereits bis zu einem pse_033.012
so reinen Gedicht geführt, wie es das betrachtete war. Nun pse_033.013
aber müssen wir die beiden Begriffe Sprachkunst und Dichtung pse_033.014
beleuchten. Die Sprachkunst ist die Grundlage für die pse_033.015
Dichtung, nur in dieser Struktur gründet die Dichtung. Es pse_033.016
gibt keine Dichtung, die nicht Sprachkunst ist. Aber, wie wir pse_033.017
bald sehen werden, es gibt außer der Dichtung auch noch pse_033.018
andere Sprachkunstwerke. Und die Sonderstellung der Dichtung pse_033.019
innerhalb der Sprachkunstwerke ist theoretisch nicht pse_033.020
ganz einfach, so sehr wir uns im bestimmten Einzelfall meist pse_033.021
klar darüber sind. Auf alle Fälle können wir sagen: Dichtungen pse_033.022
sind die intensivsten Sprachkunstwerke. In ihnen ist pse_033.023
die Struktur der Sprachkunst am reinsten vorhanden und am pse_033.024
entschiedensten. Dichtungen offenbaren etwas Seiendes, teilen pse_033.025
nicht etwas mit, was brauchbar wäre.

pse_033.026
Die Einsicht wird noch deutlicher, wenn wir die Struktur pse_033.027
des Sprachkunstwerks noch genauer beleuchten. Vor allem pse_033.028
sind hier drei wichtige Sprachkräfte am Werk: 1. Das pse_033.029
Schöpferische. Es liegt ja an sich schon im Wesen der Sprache pse_033.030
begründet, denn ursprünglich ist eben Sprache Gestaltung pse_033.031
der Welt in geistiger Fassung. Erst später, im Ökonomisierungsvorgang, pse_033.032
verarmt die Sprache zur bloßen Mitteilungsfunktion. pse_033.033
Aber im Sprachkunstwerk wird die Sprache selbst pse_033.034
wieder schöpferisch. Aus ihren Kräften heraus baut sie eine pse_033.035
geistige Welt auf. 2. Die Fülligkeit. In der Sprachkunst

pse_033.001
Sprache durch die Vollentfaltung ihrer Kräfte eine Welt für pse_033.002
sich aufgebaut, die nur in diesem Sprachwerk da ist und nicht pse_033.003
außerhalb, dann ist es Sprachkunst. Da können theoretische pse_033.004
und soziale und politische und religiöse Werte auch mitklingen. pse_033.005
Sie alle aber sind eingefügt in ein ästhetisches Gebilde, pse_033.006
eben ins Sprachkunstwerk.

pse_033.007
Sprachkunst und Dichtung

pse_033.008
Unsere Betrachtung hat uns im Augenblick, wo wir die pse_033.009
Bedeutung der Sprache für die Dichtung und für ihre Sonderstellung pse_033.010
im Rahmen der Künste erkannt haben, von den pse_033.011
Grundfragen der menschlichen Sprache bereits bis zu einem pse_033.012
so reinen Gedicht geführt, wie es das betrachtete war. Nun pse_033.013
aber müssen wir die beiden Begriffe Sprachkunst und Dichtung pse_033.014
beleuchten. Die Sprachkunst ist die Grundlage für die pse_033.015
Dichtung, nur in dieser Struktur gründet die Dichtung. Es pse_033.016
gibt keine Dichtung, die nicht Sprachkunst ist. Aber, wie wir pse_033.017
bald sehen werden, es gibt außer der Dichtung auch noch pse_033.018
andere Sprachkunstwerke. Und die Sonderstellung der Dichtung pse_033.019
innerhalb der Sprachkunstwerke ist theoretisch nicht pse_033.020
ganz einfach, so sehr wir uns im bestimmten Einzelfall meist pse_033.021
klar darüber sind. Auf alle Fälle können wir sagen: Dichtungen pse_033.022
sind die intensivsten Sprachkunstwerke. In ihnen ist pse_033.023
die Struktur der Sprachkunst am reinsten vorhanden und am pse_033.024
entschiedensten. Dichtungen offenbaren etwas Seiendes, teilen pse_033.025
nicht etwas mit, was brauchbar wäre.

pse_033.026
Die Einsicht wird noch deutlicher, wenn wir die Struktur pse_033.027
des Sprachkunstwerks noch genauer beleuchten. Vor allem pse_033.028
sind hier drei wichtige Sprachkräfte am Werk: 1. Das pse_033.029
Schöpferische. Es liegt ja an sich schon im Wesen der Sprache pse_033.030
begründet, denn ursprünglich ist eben Sprache Gestaltung pse_033.031
der Welt in geistiger Fassung. Erst später, im Ökonomisierungsvorgang, pse_033.032
verarmt die Sprache zur bloßen Mitteilungsfunktion. pse_033.033
Aber im Sprachkunstwerk wird die Sprache selbst pse_033.034
wieder schöpferisch. Aus ihren Kräften heraus baut sie eine pse_033.035
geistige Welt auf. 2. Die Fülligkeit. In der Sprachkunst

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0049" n="33"/><lb n="pse_033.001"/>
Sprache durch die Vollentfaltung ihrer Kräfte eine Welt für <lb n="pse_033.002"/>
sich aufgebaut, die nur in diesem Sprachwerk da ist und nicht <lb n="pse_033.003"/>
außerhalb, dann ist es Sprachkunst. Da können theoretische <lb n="pse_033.004"/>
und soziale und politische und religiöse Werte auch mitklingen. <lb n="pse_033.005"/>
Sie alle aber sind eingefügt in ein ästhetisches Gebilde, <lb n="pse_033.006"/>
eben ins Sprachkunstwerk.</p>
          </div>
          <div n="3">
            <lb n="pse_033.007"/>
            <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Sprachkunst und Dichtung</hi> </hi> </head>
            <p><lb n="pse_033.008"/>
Unsere Betrachtung hat uns im Augenblick, wo wir die <lb n="pse_033.009"/>
Bedeutung der Sprache für die Dichtung und für ihre Sonderstellung <lb n="pse_033.010"/>
im Rahmen der Künste erkannt haben, von den <lb n="pse_033.011"/>
Grundfragen der menschlichen Sprache bereits bis zu einem <lb n="pse_033.012"/>
so reinen Gedicht geführt, wie es das betrachtete war. Nun <lb n="pse_033.013"/>
aber müssen wir die beiden Begriffe Sprachkunst und Dichtung <lb n="pse_033.014"/>
beleuchten. Die Sprachkunst ist die Grundlage für die <lb n="pse_033.015"/>
Dichtung, nur in dieser Struktur gründet die Dichtung. Es <lb n="pse_033.016"/>
gibt keine Dichtung, die nicht Sprachkunst ist. Aber, wie wir <lb n="pse_033.017"/>
bald sehen werden, es gibt außer der Dichtung auch noch <lb n="pse_033.018"/>
andere Sprachkunstwerke. Und die Sonderstellung der Dichtung <lb n="pse_033.019"/>
innerhalb der Sprachkunstwerke ist theoretisch nicht <lb n="pse_033.020"/>
ganz einfach, so sehr wir uns im bestimmten Einzelfall meist <lb n="pse_033.021"/>
klar darüber sind. Auf alle Fälle können wir sagen: Dichtungen <lb n="pse_033.022"/>
sind die intensivsten Sprachkunstwerke. In ihnen ist <lb n="pse_033.023"/>
die Struktur der Sprachkunst am reinsten vorhanden und am <lb n="pse_033.024"/>
entschiedensten. Dichtungen offenbaren etwas Seiendes, teilen <lb n="pse_033.025"/>
nicht etwas mit, was brauchbar wäre.</p>
            <p><lb n="pse_033.026"/>
Die Einsicht wird noch deutlicher, wenn wir die Struktur <lb n="pse_033.027"/>
des Sprachkunstwerks noch genauer beleuchten. Vor allem <lb n="pse_033.028"/>
sind hier drei wichtige Sprachkräfte am Werk: 1. Das <lb n="pse_033.029"/>
Schöpferische. Es liegt ja an sich schon im Wesen der Sprache <lb n="pse_033.030"/>
begründet, denn ursprünglich ist eben Sprache Gestaltung <lb n="pse_033.031"/>
der Welt in geistiger Fassung. Erst später, im Ökonomisierungsvorgang, <lb n="pse_033.032"/>
verarmt die Sprache zur bloßen Mitteilungsfunktion. <lb n="pse_033.033"/>
Aber im Sprachkunstwerk wird die Sprache selbst <lb n="pse_033.034"/>
wieder schöpferisch. Aus ihren Kräften heraus baut sie eine <lb n="pse_033.035"/>
geistige Welt auf. 2. Die Fülligkeit. In der Sprachkunst
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[33/0049] pse_033.001 Sprache durch die Vollentfaltung ihrer Kräfte eine Welt für pse_033.002 sich aufgebaut, die nur in diesem Sprachwerk da ist und nicht pse_033.003 außerhalb, dann ist es Sprachkunst. Da können theoretische pse_033.004 und soziale und politische und religiöse Werte auch mitklingen. pse_033.005 Sie alle aber sind eingefügt in ein ästhetisches Gebilde, pse_033.006 eben ins Sprachkunstwerk. pse_033.007 Sprachkunst und Dichtung pse_033.008 Unsere Betrachtung hat uns im Augenblick, wo wir die pse_033.009 Bedeutung der Sprache für die Dichtung und für ihre Sonderstellung pse_033.010 im Rahmen der Künste erkannt haben, von den pse_033.011 Grundfragen der menschlichen Sprache bereits bis zu einem pse_033.012 so reinen Gedicht geführt, wie es das betrachtete war. Nun pse_033.013 aber müssen wir die beiden Begriffe Sprachkunst und Dichtung pse_033.014 beleuchten. Die Sprachkunst ist die Grundlage für die pse_033.015 Dichtung, nur in dieser Struktur gründet die Dichtung. Es pse_033.016 gibt keine Dichtung, die nicht Sprachkunst ist. Aber, wie wir pse_033.017 bald sehen werden, es gibt außer der Dichtung auch noch pse_033.018 andere Sprachkunstwerke. Und die Sonderstellung der Dichtung pse_033.019 innerhalb der Sprachkunstwerke ist theoretisch nicht pse_033.020 ganz einfach, so sehr wir uns im bestimmten Einzelfall meist pse_033.021 klar darüber sind. Auf alle Fälle können wir sagen: Dichtungen pse_033.022 sind die intensivsten Sprachkunstwerke. In ihnen ist pse_033.023 die Struktur der Sprachkunst am reinsten vorhanden und am pse_033.024 entschiedensten. Dichtungen offenbaren etwas Seiendes, teilen pse_033.025 nicht etwas mit, was brauchbar wäre. pse_033.026 Die Einsicht wird noch deutlicher, wenn wir die Struktur pse_033.027 des Sprachkunstwerks noch genauer beleuchten. Vor allem pse_033.028 sind hier drei wichtige Sprachkräfte am Werk: 1. Das pse_033.029 Schöpferische. Es liegt ja an sich schon im Wesen der Sprache pse_033.030 begründet, denn ursprünglich ist eben Sprache Gestaltung pse_033.031 der Welt in geistiger Fassung. Erst später, im Ökonomisierungsvorgang, pse_033.032 verarmt die Sprache zur bloßen Mitteilungsfunktion. pse_033.033 Aber im Sprachkunstwerk wird die Sprache selbst pse_033.034 wieder schöpferisch. Aus ihren Kräften heraus baut sie eine pse_033.035 geistige Welt auf. 2. Die Fülligkeit. In der Sprachkunst

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/49
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/49>, abgerufen am 21.11.2024.