pse_453.001 englischen Lehrdichtungen finden wir dichterische Darstellungen pse_453.002 der Geologie, des Vulkanismus, der Wetterkunde usw. pse_453.003 Mit anderen Worten: Zustände und Vorgänge in der großen pse_453.004 Natur können so tief erlebt werden, daß sie aus diesem Erleben pse_453.005 heraus in dichterischer Form neu geschaffen werden. pse_453.006 Dann kann echte Dichtung entstehen. Wenn es dem Gelehrten pse_453.007 allerdings nur darauf ankäme, in angenehmer Versform pse_453.008 Wissen zu vermitteln, dann würde der dichterische Wert pse_453.009 eines solchen Gebildes wohl fraglich sein.
pse_453.010 Schon die Verse Hallers haben gezeigt, daß hier keine bloße pse_453.011 Beschreibung vorliegt, sondern Deutung und Vertiefung des pse_453.012 Gesehenen in der sprachlichen Neugestaltung. Von hier geht pse_453.013 es hinüber zu einer Form der Lehrdichtung, in der nun eindringlich pse_453.014 hinter dem Betrachteten und Gezeigten im Aufbau pse_453.015 einer Ordnung ein Weltbild sichtbar wird; die ewigen Gesetze pse_453.016 der Schöpfung wirken sich im Vordergründigen aus, aber pse_453.017 alles in der Sicht eines Menschen. Wir können von Weltbildöffnung pse_453.018 in solcher Dichtung sprechen. Der Blick kann sich pse_453.019 dabei auf verschiedene Bereiche der Wirklichkeit um uns pse_453.020 richten. Vielleicht darf man schon Platons Dialoge in ihrer pse_453.021 künstlerischen Vollendung unter diese Gruppe von Lehrdichtungen pse_453.022 rechnen. In ihnen scheint die Verschmelzung pse_453.023 theoretischer Schau und dichterischer Gestaltung einmal gelungen. pse_453.024 Wohl auch deshalb, weil ja sein Weltbild mit dem pse_453.025 Blick auf die ewigen Ideen an sich schon im Bereich des pse_453.026 Ästhetischen liegt. Eine ganz andere Form bieten die berühmten pse_453.027 politischen Sprüche Walthers, vor allem die drei Reichstöne. pse_453.028 Auf dem Hintergrund eines weiten und eindringlichen pse_453.029 Naturbildes ersteht ihm die Not und Unordnung des deutschen pse_453.030 Volkes. So wirkt der zweite Reichston; es ist ein lauter pse_453.031 Ruf um Rettung, also stark lyrisch gebaut. Aus diesem Ruf pse_453.032 aber ersteht eine Lehre: die Notwendigkeit der Ordnung, der pse_453.033 Lenkung, des Herrschertums. Hier gelingt es also Walther aus pse_453.034 tiefem inneren Erleben, das bis zur Erschütterung führt, eine pse_453.035 neue Ordnung als wünschenswert aufzubauen, aus den Kräften pse_453.036 der Sprache und Dichtung.
pse_453.037 Während in Walthers Sprüchen die politische Ordnung der pse_453.038 Menschenwelt in knappen Bildern gestaltet wird als mangelhafte
pse_453.001 englischen Lehrdichtungen finden wir dichterische Darstellungen pse_453.002 der Geologie, des Vulkanismus, der Wetterkunde usw. pse_453.003 Mit anderen Worten: Zustände und Vorgänge in der großen pse_453.004 Natur können so tief erlebt werden, daß sie aus diesem Erleben pse_453.005 heraus in dichterischer Form neu geschaffen werden. pse_453.006 Dann kann echte Dichtung entstehen. Wenn es dem Gelehrten pse_453.007 allerdings nur darauf ankäme, in angenehmer Versform pse_453.008 Wissen zu vermitteln, dann würde der dichterische Wert pse_453.009 eines solchen Gebildes wohl fraglich sein.
pse_453.010 Schon die Verse Hallers haben gezeigt, daß hier keine bloße pse_453.011 Beschreibung vorliegt, sondern Deutung und Vertiefung des pse_453.012 Gesehenen in der sprachlichen Neugestaltung. Von hier geht pse_453.013 es hinüber zu einer Form der Lehrdichtung, in der nun eindringlich pse_453.014 hinter dem Betrachteten und Gezeigten im Aufbau pse_453.015 einer Ordnung ein Weltbild sichtbar wird; die ewigen Gesetze pse_453.016 der Schöpfung wirken sich im Vordergründigen aus, aber pse_453.017 alles in der Sicht eines Menschen. Wir können von Weltbildöffnung pse_453.018 in solcher Dichtung sprechen. Der Blick kann sich pse_453.019 dabei auf verschiedene Bereiche der Wirklichkeit um uns pse_453.020 richten. Vielleicht darf man schon Platons Dialoge in ihrer pse_453.021 künstlerischen Vollendung unter diese Gruppe von Lehrdichtungen pse_453.022 rechnen. In ihnen scheint die Verschmelzung pse_453.023 theoretischer Schau und dichterischer Gestaltung einmal gelungen. pse_453.024 Wohl auch deshalb, weil ja sein Weltbild mit dem pse_453.025 Blick auf die ewigen Ideen an sich schon im Bereich des pse_453.026 Ästhetischen liegt. Eine ganz andere Form bieten die berühmten pse_453.027 politischen Sprüche Walthers, vor allem die drei Reichstöne. pse_453.028 Auf dem Hintergrund eines weiten und eindringlichen pse_453.029 Naturbildes ersteht ihm die Not und Unordnung des deutschen pse_453.030 Volkes. So wirkt der zweite Reichston; es ist ein lauter pse_453.031 Ruf um Rettung, also stark lyrisch gebaut. Aus diesem Ruf pse_453.032 aber ersteht eine Lehre: die Notwendigkeit der Ordnung, der pse_453.033 Lenkung, des Herrschertums. Hier gelingt es also Walther aus pse_453.034 tiefem inneren Erleben, das bis zur Erschütterung führt, eine pse_453.035 neue Ordnung als wünschenswert aufzubauen, aus den Kräften pse_453.036 der Sprache und Dichtung.
pse_453.037 Während in Walthers Sprüchen die politische Ordnung der pse_453.038 Menschenwelt in knappen Bildern gestaltet wird als mangelhafte
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0469"n="453"/><lbn="pse_453.001"/>
englischen Lehrdichtungen finden wir dichterische Darstellungen <lbn="pse_453.002"/>
der Geologie, des Vulkanismus, der Wetterkunde usw. <lbn="pse_453.003"/>
Mit anderen Worten: Zustände und Vorgänge in der großen <lbn="pse_453.004"/>
Natur können so tief erlebt werden, daß sie aus diesem Erleben <lbn="pse_453.005"/>
heraus in dichterischer Form neu geschaffen werden. <lbn="pse_453.006"/>
Dann kann echte Dichtung entstehen. Wenn es dem Gelehrten <lbn="pse_453.007"/>
allerdings nur darauf ankäme, in angenehmer Versform <lbn="pse_453.008"/>
Wissen zu vermitteln, dann würde der dichterische Wert <lbn="pse_453.009"/>
eines solchen Gebildes wohl fraglich sein.</p><p><lbn="pse_453.010"/>
Schon die Verse Hallers haben gezeigt, daß hier keine bloße <lbn="pse_453.011"/>
Beschreibung vorliegt, sondern Deutung und Vertiefung des <lbn="pse_453.012"/>
Gesehenen in der sprachlichen Neugestaltung. Von hier geht <lbn="pse_453.013"/>
es hinüber zu einer Form der Lehrdichtung, in der nun eindringlich <lbn="pse_453.014"/>
hinter dem Betrachteten und Gezeigten im Aufbau <lbn="pse_453.015"/>
einer Ordnung ein Weltbild sichtbar wird; die ewigen Gesetze <lbn="pse_453.016"/>
der Schöpfung wirken sich im Vordergründigen aus, aber <lbn="pse_453.017"/>
alles in der Sicht eines Menschen. Wir können von Weltbildöffnung <lbn="pse_453.018"/>
in solcher Dichtung sprechen. Der Blick kann sich <lbn="pse_453.019"/>
dabei auf verschiedene Bereiche der Wirklichkeit um uns <lbn="pse_453.020"/>
richten. Vielleicht darf man schon Platons Dialoge in ihrer <lbn="pse_453.021"/>
künstlerischen Vollendung unter diese Gruppe von Lehrdichtungen <lbn="pse_453.022"/>
rechnen. In ihnen scheint die Verschmelzung <lbn="pse_453.023"/>
theoretischer Schau und dichterischer Gestaltung einmal gelungen. <lbn="pse_453.024"/>
Wohl auch deshalb, weil ja sein Weltbild mit dem <lbn="pse_453.025"/>
Blick auf die ewigen Ideen an sich schon im Bereich des <lbn="pse_453.026"/>
Ästhetischen liegt. Eine ganz andere Form bieten die berühmten <lbn="pse_453.027"/>
politischen Sprüche Walthers, vor allem die drei Reichstöne. <lbn="pse_453.028"/>
Auf dem Hintergrund eines weiten und eindringlichen <lbn="pse_453.029"/>
Naturbildes ersteht ihm die Not und Unordnung des deutschen <lbn="pse_453.030"/>
Volkes. So wirkt der zweite Reichston; es ist ein lauter <lbn="pse_453.031"/>
Ruf um Rettung, also stark lyrisch gebaut. Aus diesem Ruf <lbn="pse_453.032"/>
aber ersteht eine Lehre: die Notwendigkeit der Ordnung, der <lbn="pse_453.033"/>
Lenkung, des Herrschertums. Hier gelingt es also Walther aus <lbn="pse_453.034"/>
tiefem inneren Erleben, das bis zur Erschütterung führt, eine <lbn="pse_453.035"/>
neue Ordnung als wünschenswert aufzubauen, aus den Kräften <lbn="pse_453.036"/>
der Sprache und Dichtung.</p><p><lbn="pse_453.037"/>
Während in Walthers Sprüchen die politische Ordnung der <lbn="pse_453.038"/>
Menschenwelt in knappen Bildern gestaltet wird als mangelhafte
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[453/0469]
pse_453.001
englischen Lehrdichtungen finden wir dichterische Darstellungen pse_453.002
der Geologie, des Vulkanismus, der Wetterkunde usw. pse_453.003
Mit anderen Worten: Zustände und Vorgänge in der großen pse_453.004
Natur können so tief erlebt werden, daß sie aus diesem Erleben pse_453.005
heraus in dichterischer Form neu geschaffen werden. pse_453.006
Dann kann echte Dichtung entstehen. Wenn es dem Gelehrten pse_453.007
allerdings nur darauf ankäme, in angenehmer Versform pse_453.008
Wissen zu vermitteln, dann würde der dichterische Wert pse_453.009
eines solchen Gebildes wohl fraglich sein.
pse_453.010
Schon die Verse Hallers haben gezeigt, daß hier keine bloße pse_453.011
Beschreibung vorliegt, sondern Deutung und Vertiefung des pse_453.012
Gesehenen in der sprachlichen Neugestaltung. Von hier geht pse_453.013
es hinüber zu einer Form der Lehrdichtung, in der nun eindringlich pse_453.014
hinter dem Betrachteten und Gezeigten im Aufbau pse_453.015
einer Ordnung ein Weltbild sichtbar wird; die ewigen Gesetze pse_453.016
der Schöpfung wirken sich im Vordergründigen aus, aber pse_453.017
alles in der Sicht eines Menschen. Wir können von Weltbildöffnung pse_453.018
in solcher Dichtung sprechen. Der Blick kann sich pse_453.019
dabei auf verschiedene Bereiche der Wirklichkeit um uns pse_453.020
richten. Vielleicht darf man schon Platons Dialoge in ihrer pse_453.021
künstlerischen Vollendung unter diese Gruppe von Lehrdichtungen pse_453.022
rechnen. In ihnen scheint die Verschmelzung pse_453.023
theoretischer Schau und dichterischer Gestaltung einmal gelungen. pse_453.024
Wohl auch deshalb, weil ja sein Weltbild mit dem pse_453.025
Blick auf die ewigen Ideen an sich schon im Bereich des pse_453.026
Ästhetischen liegt. Eine ganz andere Form bieten die berühmten pse_453.027
politischen Sprüche Walthers, vor allem die drei Reichstöne. pse_453.028
Auf dem Hintergrund eines weiten und eindringlichen pse_453.029
Naturbildes ersteht ihm die Not und Unordnung des deutschen pse_453.030
Volkes. So wirkt der zweite Reichston; es ist ein lauter pse_453.031
Ruf um Rettung, also stark lyrisch gebaut. Aus diesem Ruf pse_453.032
aber ersteht eine Lehre: die Notwendigkeit der Ordnung, der pse_453.033
Lenkung, des Herrschertums. Hier gelingt es also Walther aus pse_453.034
tiefem inneren Erleben, das bis zur Erschütterung führt, eine pse_453.035
neue Ordnung als wünschenswert aufzubauen, aus den Kräften pse_453.036
der Sprache und Dichtung.
pse_453.037
Während in Walthers Sprüchen die politische Ordnung der pse_453.038
Menschenwelt in knappen Bildern gestaltet wird als mangelhafte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/469>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.