pse_445.001 so getrennt und ausgegliedert wie in Spätzeiten einer Kultur. pse_445.002 Wissensvermittlung und -darstellung konnte da ohne weiteres pse_445.003 mit tiefem Erleben einer sprachgestalteten Welt verbunden pse_445.004 werden, denn die Sprache hat in solchen Perioden noch nicht pse_445.005 zu sehr unter dem Ökonomisierungsvorgang gelitten, sie entfaltet pse_445.006 in jedem Sprachwerk alle ihre Kräfte, auch die ästhetischen. pse_445.007 Wissensdarstellung, Erleben und Sprachgestaltung pse_445.008 können zu einer höheren Einheit noch verschmolzen, besser: pse_445.009 noch gar nicht auseinandergetreten sein. In Spätzeiten gliedert pse_445.010 sich alle kulturelle Leistung in mannigfacher Weise aus. pse_445.011 Theoretisches Tun trennt sich vom praktischen und von pse_445.012 ästhetischer Schau, und endlich sondern sich die einzelnen pse_445.013 Wissensgebiete bis zur Spezialisierung, die heute ein ernstes pse_445.014 Kulturproblem darstellt. Daher mag es auch kommen, daß pse_445.015 in jungen Epochen Lehrdichtung häufiger und selbstverständlicher pse_445.016 ist als in späten, daß also heute diese Gattung pse_445.017 vielfach abgelehnt wird. Was gleichsam von der ehemaligen pse_445.018 höheren Einheit übriggeblieben ist, ist die künstlerisch wertvolle pse_445.019 Sachprosa, wie wir sie in stilistisch meisterhaften Vorträgen, pse_445.020 in manchen Geschichtswerken und philosophischen pse_445.021 Schriften finden können.
pse_445.022 Vom modernen Standpunkt aus wird man also wohl kaum pse_445.023 genötigt sein, in der Poetik eine eigene Gattung Didaktik aufzustellen, pse_445.024 weil sie eben in der tatsächlichen dichterischen Produktion pse_445.025 als eigengesetzliches Gebilde nicht mehr vorkommt. pse_445.026 Überblickt man aber, so gut es gehen mag, die gesamten pse_445.027 Möglichkeiten dichterischen Schaffens, wie sie sich in den pse_445.028 einzelnen geschichtlichen Epochen zeigen, aber so, daß man pse_445.029 eben die wesentlichen Formen herausarbeitet, dann dürfte die pse_445.030 Didaktik doch einen Platz in der Poetik beanspruchen. Hier pse_445.031 erkennen wir klar, daß die Frage der Gattungen sehr verwickelt pse_445.032 ist, daß es sogar möglich ist, daß ganze Gattungen pse_445.033 aussterben. Das scheint weitgehend bei der Lehrdichtung der pse_445.034 Fall zu sein. Man hat es auch manchmal bei der Lyrik behauptet, pse_445.035 wohl kaum mit Recht. Zugleich ergibt eine solche pse_445.036 Feststellung aber auch, daß die allmähliche Ausbildung neuer pse_445.037 Gattungen durchaus möglich ist: entweder durch Aussonderung pse_445.038 und Verselbständigung mancher Sonderformen oder
pse_445.001 so getrennt und ausgegliedert wie in Spätzeiten einer Kultur. pse_445.002 Wissensvermittlung und -darstellung konnte da ohne weiteres pse_445.003 mit tiefem Erleben einer sprachgestalteten Welt verbunden pse_445.004 werden, denn die Sprache hat in solchen Perioden noch nicht pse_445.005 zu sehr unter dem Ökonomisierungsvorgang gelitten, sie entfaltet pse_445.006 in jedem Sprachwerk alle ihre Kräfte, auch die ästhetischen. pse_445.007 Wissensdarstellung, Erleben und Sprachgestaltung pse_445.008 können zu einer höheren Einheit noch verschmolzen, besser: pse_445.009 noch gar nicht auseinandergetreten sein. In Spätzeiten gliedert pse_445.010 sich alle kulturelle Leistung in mannigfacher Weise aus. pse_445.011 Theoretisches Tun trennt sich vom praktischen und von pse_445.012 ästhetischer Schau, und endlich sondern sich die einzelnen pse_445.013 Wissensgebiete bis zur Spezialisierung, die heute ein ernstes pse_445.014 Kulturproblem darstellt. Daher mag es auch kommen, daß pse_445.015 in jungen Epochen Lehrdichtung häufiger und selbstverständlicher pse_445.016 ist als in späten, daß also heute diese Gattung pse_445.017 vielfach abgelehnt wird. Was gleichsam von der ehemaligen pse_445.018 höheren Einheit übriggeblieben ist, ist die künstlerisch wertvolle pse_445.019 Sachprosa, wie wir sie in stilistisch meisterhaften Vorträgen, pse_445.020 in manchen Geschichtswerken und philosophischen pse_445.021 Schriften finden können.
pse_445.022 Vom modernen Standpunkt aus wird man also wohl kaum pse_445.023 genötigt sein, in der Poetik eine eigene Gattung Didaktik aufzustellen, pse_445.024 weil sie eben in der tatsächlichen dichterischen Produktion pse_445.025 als eigengesetzliches Gebilde nicht mehr vorkommt. pse_445.026 Überblickt man aber, so gut es gehen mag, die gesamten pse_445.027 Möglichkeiten dichterischen Schaffens, wie sie sich in den pse_445.028 einzelnen geschichtlichen Epochen zeigen, aber so, daß man pse_445.029 eben die wesentlichen Formen herausarbeitet, dann dürfte die pse_445.030 Didaktik doch einen Platz in der Poetik beanspruchen. Hier pse_445.031 erkennen wir klar, daß die Frage der Gattungen sehr verwickelt pse_445.032 ist, daß es sogar möglich ist, daß ganze Gattungen pse_445.033 aussterben. Das scheint weitgehend bei der Lehrdichtung der pse_445.034 Fall zu sein. Man hat es auch manchmal bei der Lyrik behauptet, pse_445.035 wohl kaum mit Recht. Zugleich ergibt eine solche pse_445.036 Feststellung aber auch, daß die allmähliche Ausbildung neuer pse_445.037 Gattungen durchaus möglich ist: entweder durch Aussonderung pse_445.038 und Verselbständigung mancher Sonderformen oder
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0461"n="445"/><lbn="pse_445.001"/>
so getrennt und ausgegliedert wie in Spätzeiten einer Kultur. <lbn="pse_445.002"/>
Wissensvermittlung und -darstellung konnte da ohne weiteres <lbn="pse_445.003"/>
mit tiefem Erleben einer sprachgestalteten Welt verbunden <lbn="pse_445.004"/>
werden, denn die Sprache hat in solchen Perioden noch nicht <lbn="pse_445.005"/>
zu sehr unter dem Ökonomisierungsvorgang gelitten, sie entfaltet <lbn="pse_445.006"/>
in jedem Sprachwerk alle ihre Kräfte, auch die ästhetischen. <lbn="pse_445.007"/>
Wissensdarstellung, Erleben und Sprachgestaltung <lbn="pse_445.008"/>
können zu einer höheren Einheit noch verschmolzen, besser: <lbn="pse_445.009"/>
noch gar nicht auseinandergetreten sein. In Spätzeiten gliedert <lbn="pse_445.010"/>
sich alle kulturelle Leistung in mannigfacher Weise aus. <lbn="pse_445.011"/>
Theoretisches Tun trennt sich vom praktischen und von <lbn="pse_445.012"/>
ästhetischer Schau, und endlich sondern sich die einzelnen <lbn="pse_445.013"/>
Wissensgebiete bis zur Spezialisierung, die heute ein ernstes <lbn="pse_445.014"/>
Kulturproblem darstellt. Daher mag es auch kommen, daß <lbn="pse_445.015"/>
in jungen Epochen Lehrdichtung häufiger und selbstverständlicher <lbn="pse_445.016"/>
ist als in späten, daß also heute diese Gattung <lbn="pse_445.017"/>
vielfach abgelehnt wird. Was gleichsam von der ehemaligen <lbn="pse_445.018"/>
höheren Einheit übriggeblieben ist, ist die künstlerisch wertvolle <lbn="pse_445.019"/>
Sachprosa, wie wir sie in stilistisch meisterhaften Vorträgen, <lbn="pse_445.020"/>
in manchen Geschichtswerken und philosophischen <lbn="pse_445.021"/>
Schriften finden können.</p><p><lbn="pse_445.022"/>
Vom modernen Standpunkt aus wird man also wohl kaum <lbn="pse_445.023"/>
genötigt sein, in der Poetik eine eigene Gattung Didaktik aufzustellen, <lbn="pse_445.024"/>
weil sie eben in der tatsächlichen dichterischen Produktion <lbn="pse_445.025"/>
als eigengesetzliches Gebilde nicht mehr vorkommt. <lbn="pse_445.026"/>
Überblickt man aber, so gut es gehen mag, die gesamten <lbn="pse_445.027"/>
Möglichkeiten dichterischen Schaffens, wie sie sich in den <lbn="pse_445.028"/>
einzelnen geschichtlichen Epochen zeigen, aber so, daß man <lbn="pse_445.029"/>
eben die wesentlichen Formen herausarbeitet, dann dürfte die <lbn="pse_445.030"/>
Didaktik doch einen Platz in der Poetik beanspruchen. Hier <lbn="pse_445.031"/>
erkennen wir klar, daß die Frage der Gattungen sehr verwickelt <lbn="pse_445.032"/>
ist, daß es sogar möglich ist, daß ganze Gattungen <lbn="pse_445.033"/>
aussterben. Das scheint weitgehend bei der Lehrdichtung der <lbn="pse_445.034"/>
Fall zu sein. Man hat es auch manchmal bei der Lyrik behauptet, <lbn="pse_445.035"/>
wohl kaum mit Recht. Zugleich ergibt eine solche <lbn="pse_445.036"/>
Feststellung aber auch, daß die allmähliche Ausbildung neuer <lbn="pse_445.037"/>
Gattungen durchaus möglich ist: entweder durch Aussonderung <lbn="pse_445.038"/>
und Verselbständigung mancher Sonderformen oder
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[445/0461]
pse_445.001
so getrennt und ausgegliedert wie in Spätzeiten einer Kultur. pse_445.002
Wissensvermittlung und -darstellung konnte da ohne weiteres pse_445.003
mit tiefem Erleben einer sprachgestalteten Welt verbunden pse_445.004
werden, denn die Sprache hat in solchen Perioden noch nicht pse_445.005
zu sehr unter dem Ökonomisierungsvorgang gelitten, sie entfaltet pse_445.006
in jedem Sprachwerk alle ihre Kräfte, auch die ästhetischen. pse_445.007
Wissensdarstellung, Erleben und Sprachgestaltung pse_445.008
können zu einer höheren Einheit noch verschmolzen, besser: pse_445.009
noch gar nicht auseinandergetreten sein. In Spätzeiten gliedert pse_445.010
sich alle kulturelle Leistung in mannigfacher Weise aus. pse_445.011
Theoretisches Tun trennt sich vom praktischen und von pse_445.012
ästhetischer Schau, und endlich sondern sich die einzelnen pse_445.013
Wissensgebiete bis zur Spezialisierung, die heute ein ernstes pse_445.014
Kulturproblem darstellt. Daher mag es auch kommen, daß pse_445.015
in jungen Epochen Lehrdichtung häufiger und selbstverständlicher pse_445.016
ist als in späten, daß also heute diese Gattung pse_445.017
vielfach abgelehnt wird. Was gleichsam von der ehemaligen pse_445.018
höheren Einheit übriggeblieben ist, ist die künstlerisch wertvolle pse_445.019
Sachprosa, wie wir sie in stilistisch meisterhaften Vorträgen, pse_445.020
in manchen Geschichtswerken und philosophischen pse_445.021
Schriften finden können.
pse_445.022
Vom modernen Standpunkt aus wird man also wohl kaum pse_445.023
genötigt sein, in der Poetik eine eigene Gattung Didaktik aufzustellen, pse_445.024
weil sie eben in der tatsächlichen dichterischen Produktion pse_445.025
als eigengesetzliches Gebilde nicht mehr vorkommt. pse_445.026
Überblickt man aber, so gut es gehen mag, die gesamten pse_445.027
Möglichkeiten dichterischen Schaffens, wie sie sich in den pse_445.028
einzelnen geschichtlichen Epochen zeigen, aber so, daß man pse_445.029
eben die wesentlichen Formen herausarbeitet, dann dürfte die pse_445.030
Didaktik doch einen Platz in der Poetik beanspruchen. Hier pse_445.031
erkennen wir klar, daß die Frage der Gattungen sehr verwickelt pse_445.032
ist, daß es sogar möglich ist, daß ganze Gattungen pse_445.033
aussterben. Das scheint weitgehend bei der Lehrdichtung der pse_445.034
Fall zu sein. Man hat es auch manchmal bei der Lyrik behauptet, pse_445.035
wohl kaum mit Recht. Zugleich ergibt eine solche pse_445.036
Feststellung aber auch, daß die allmähliche Ausbildung neuer pse_445.037
Gattungen durchaus möglich ist: entweder durch Aussonderung pse_445.038
und Verselbständigung mancher Sonderformen oder
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/461>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.