Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite
pse_438.001
III pse_438.002
DIE DIDAKTIK
pse_438.003
Einführung

pse_438.004
Es ist ein Wagnis, in einer modernen Poetik der Lehrdichtung pse_438.005
neben den drei anderen Gattungen, die sich nun schon pse_438.006
langsam als die drei einzigen und einzig möglichen in der pse_438.007
deutschen Poetik eingebürgert haben, einen selbständigen pse_438.008
Platz einzuräumen. Wir werden uns auch der Problematik pse_438.009
der Lehrdichtung im Laufe dieser Betrachtung immer wieder pse_438.010
bewußt werden. Aber die Einführung soll zeigen, daß doch pse_438.011
eine gewisse Berechtigung besteht, diese Gattung gesondert pse_438.012
zu betrachten.

pse_438.013
Lehren treffen wir auch in den anderen Gattungen an. Wir pse_438.014
denken an das Tendenzdrama, an die Fabel, Parabel, Legende, pse_438.015
an viele Sprüche. Zugleich ist die Lehrhaftigkeit der Dichtung pse_438.016
oft geradezu als eine unter anderen Aufgaben angesehen worden. pse_438.017
Delectare und prodesse hat schon Horaz als die Doppelaufgabe pse_438.018
bezeichnet, genauer: mit Unterhaltung, mit Vergnügen pse_438.019
die Weisheitslehre verbinden. Jedenfalls wurde diese pse_438.020
Lehrhaftigkeit früher nicht verurteilt, sondern als wesentlich pse_438.021
angesehen. Noch Goethe sagt in seinem Aufsatz "Über das pse_438.022
Lehrgedicht" (1827), den wir noch öfter heranziehen werden: pse_438.023
"Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich; sie soll den pse_438.024
Menschen aufmerksam machen, wovon sich zu belehren wert pse_438.025
wäre; er muß die Lehre selbst daraus ziehen wie aus dem pse_438.026
Leben."

pse_438.027
Die Grenzen zu den anderen Gattungen sind oft fließend, pse_438.028
wie wir noch darzulegen haben. Aber vieles geht nicht rein pse_438.029
in die drei üblichen Gattungen auf, was tatsächlich an Dichtungen pse_438.030
geschaffen wurde. Schon im Altertum gehören große pse_438.031
Werke der didaktischen Gattung an: Hesiods "Werke und pse_438.032
Tage", vor allem aber Vergils "Georgica". Man bezeichnet es pse_438.033
als das schönste römische Dichtwerk und von reiner Klassizität.

pse_438.001
III pse_438.002
DIE DIDAKTIK
pse_438.003
Einführung

pse_438.004
Es ist ein Wagnis, in einer modernen Poetik der Lehrdichtung pse_438.005
neben den drei anderen Gattungen, die sich nun schon pse_438.006
langsam als die drei einzigen und einzig möglichen in der pse_438.007
deutschen Poetik eingebürgert haben, einen selbständigen pse_438.008
Platz einzuräumen. Wir werden uns auch der Problematik pse_438.009
der Lehrdichtung im Laufe dieser Betrachtung immer wieder pse_438.010
bewußt werden. Aber die Einführung soll zeigen, daß doch pse_438.011
eine gewisse Berechtigung besteht, diese Gattung gesondert pse_438.012
zu betrachten.

pse_438.013
Lehren treffen wir auch in den anderen Gattungen an. Wir pse_438.014
denken an das Tendenzdrama, an die Fabel, Parabel, Legende, pse_438.015
an viele Sprüche. Zugleich ist die Lehrhaftigkeit der Dichtung pse_438.016
oft geradezu als eine unter anderen Aufgaben angesehen worden. pse_438.017
Delectare und prodesse hat schon Horaz als die Doppelaufgabe pse_438.018
bezeichnet, genauer: mit Unterhaltung, mit Vergnügen pse_438.019
die Weisheitslehre verbinden. Jedenfalls wurde diese pse_438.020
Lehrhaftigkeit früher nicht verurteilt, sondern als wesentlich pse_438.021
angesehen. Noch Goethe sagt in seinem Aufsatz Ȇber das pse_438.022
Lehrgedicht« (1827), den wir noch öfter heranziehen werden: pse_438.023
»Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich; sie soll den pse_438.024
Menschen aufmerksam machen, wovon sich zu belehren wert pse_438.025
wäre; er muß die Lehre selbst daraus ziehen wie aus dem pse_438.026
Leben.«

pse_438.027
Die Grenzen zu den anderen Gattungen sind oft fließend, pse_438.028
wie wir noch darzulegen haben. Aber vieles geht nicht rein pse_438.029
in die drei üblichen Gattungen auf, was tatsächlich an Dichtungen pse_438.030
geschaffen wurde. Schon im Altertum gehören große pse_438.031
Werke der didaktischen Gattung an: Hesiods »Werke und pse_438.032
Tage«, vor allem aber Vergils »Georgica«. Man bezeichnet es pse_438.033
als das schönste römische Dichtwerk und von reiner Klassizität.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0454" n="E438"/>
        <div n="2">
          <lb n="pse_438.001"/>
          <head> <hi rendition="#c">III <lb n="pse_438.002"/> <hi rendition="#g">DIE DIDAKTIK</hi></hi> </head>
          <div n="3">
            <lb n="pse_438.003"/>
            <head> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#i">Einführung</hi> </hi> </head>
            <p><lb n="pse_438.004"/>
Es ist ein Wagnis, in einer modernen Poetik der Lehrdichtung <lb n="pse_438.005"/>
neben den drei anderen Gattungen, die sich nun schon <lb n="pse_438.006"/>
langsam als die drei einzigen und einzig möglichen in der <lb n="pse_438.007"/>
deutschen Poetik eingebürgert haben, einen selbständigen <lb n="pse_438.008"/>
Platz einzuräumen. Wir werden uns auch der Problematik <lb n="pse_438.009"/>
der Lehrdichtung im Laufe dieser Betrachtung immer wieder <lb n="pse_438.010"/>
bewußt werden. Aber die Einführung soll zeigen, daß doch <lb n="pse_438.011"/>
eine gewisse Berechtigung besteht, diese Gattung gesondert <lb n="pse_438.012"/>
zu betrachten.</p>
            <p><lb n="pse_438.013"/>
Lehren treffen wir auch in den anderen Gattungen an. Wir <lb n="pse_438.014"/>
denken an das Tendenzdrama, an die Fabel, Parabel, Legende, <lb n="pse_438.015"/>
an viele Sprüche. Zugleich ist die Lehrhaftigkeit der Dichtung <lb n="pse_438.016"/>
oft geradezu als eine unter anderen Aufgaben angesehen worden. <lb n="pse_438.017"/>
Delectare und prodesse hat schon Horaz als die Doppelaufgabe <lb n="pse_438.018"/>
bezeichnet, genauer: mit Unterhaltung, mit Vergnügen <lb n="pse_438.019"/>
die Weisheitslehre verbinden. Jedenfalls wurde diese <lb n="pse_438.020"/>
Lehrhaftigkeit früher nicht verurteilt, sondern als wesentlich <lb n="pse_438.021"/>
angesehen. Noch Goethe sagt in seinem Aufsatz Ȇber das <lb n="pse_438.022"/>
Lehrgedicht« (1827), den wir noch öfter heranziehen werden: <lb n="pse_438.023"/>
»Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich; sie soll den <lb n="pse_438.024"/>
Menschen aufmerksam machen, wovon sich zu belehren wert <lb n="pse_438.025"/>
wäre; er muß die Lehre selbst daraus ziehen wie aus dem <lb n="pse_438.026"/>
Leben.«</p>
            <p><lb n="pse_438.027"/>
Die Grenzen zu den anderen Gattungen sind oft fließend, <lb n="pse_438.028"/>
wie wir noch darzulegen haben. Aber vieles geht nicht rein <lb n="pse_438.029"/>
in die drei üblichen Gattungen auf, was tatsächlich an Dichtungen <lb n="pse_438.030"/>
geschaffen wurde. Schon im Altertum gehören große <lb n="pse_438.031"/>
Werke der didaktischen Gattung an: Hesiods »Werke und <lb n="pse_438.032"/>
Tage«, vor allem aber Vergils »Georgica«. Man bezeichnet es <lb n="pse_438.033"/>
als das schönste römische Dichtwerk und von reiner Klassizität.
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[E438/0454] pse_438.001 III pse_438.002 DIE DIDAKTIK pse_438.003 Einführung pse_438.004 Es ist ein Wagnis, in einer modernen Poetik der Lehrdichtung pse_438.005 neben den drei anderen Gattungen, die sich nun schon pse_438.006 langsam als die drei einzigen und einzig möglichen in der pse_438.007 deutschen Poetik eingebürgert haben, einen selbständigen pse_438.008 Platz einzuräumen. Wir werden uns auch der Problematik pse_438.009 der Lehrdichtung im Laufe dieser Betrachtung immer wieder pse_438.010 bewußt werden. Aber die Einführung soll zeigen, daß doch pse_438.011 eine gewisse Berechtigung besteht, diese Gattung gesondert pse_438.012 zu betrachten. pse_438.013 Lehren treffen wir auch in den anderen Gattungen an. Wir pse_438.014 denken an das Tendenzdrama, an die Fabel, Parabel, Legende, pse_438.015 an viele Sprüche. Zugleich ist die Lehrhaftigkeit der Dichtung pse_438.016 oft geradezu als eine unter anderen Aufgaben angesehen worden. pse_438.017 Delectare und prodesse hat schon Horaz als die Doppelaufgabe pse_438.018 bezeichnet, genauer: mit Unterhaltung, mit Vergnügen pse_438.019 die Weisheitslehre verbinden. Jedenfalls wurde diese pse_438.020 Lehrhaftigkeit früher nicht verurteilt, sondern als wesentlich pse_438.021 angesehen. Noch Goethe sagt in seinem Aufsatz »Über das pse_438.022 Lehrgedicht« (1827), den wir noch öfter heranziehen werden: pse_438.023 »Alle Poesie soll belehrend sein, aber unmerklich; sie soll den pse_438.024 Menschen aufmerksam machen, wovon sich zu belehren wert pse_438.025 wäre; er muß die Lehre selbst daraus ziehen wie aus dem pse_438.026 Leben.« pse_438.027 Die Grenzen zu den anderen Gattungen sind oft fließend, pse_438.028 wie wir noch darzulegen haben. Aber vieles geht nicht rein pse_438.029 in die drei üblichen Gattungen auf, was tatsächlich an Dichtungen pse_438.030 geschaffen wurde. Schon im Altertum gehören große pse_438.031 Werke der didaktischen Gattung an: Hesiods »Werke und pse_438.032 Tage«, vor allem aber Vergils »Georgica«. Man bezeichnet es pse_438.033 als das schönste römische Dichtwerk und von reiner Klassizität.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/454
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/454>, abgerufen am 22.11.2024.