Schon in dieser Form liegt eine Pointe. Sie vollendet sich pse_437.002 aber erst, wenn das Gedicht von seinem Titel her gelesen pse_437.003 wird: Der Literarhistoriker. Damit wird sofort das Ganze pse_437.004 vom Ochsen und vom Fressen an in eine bissige Stimmung pse_437.005 getaucht, die am Schluß in einer scharfen aburteilenden Spitze pse_437.006 endet.
pse_437.007 Für diese scharfe Form der Epigramme hat sich das antike pse_437.008 Distichon als besonders günstig erwiesen, denn es schafft im pse_437.009 Pentameter wirklich einen markanten Abschluß. So sind pse_437.010 denn eine Großzahl aller Epigramme in dieser Strophenform pse_437.011 geschrieben. Aber nicht alle Distichen müssen Epigramme pse_437.012 in diesem Sinne sein. Auch Sprüche der ruhigen ernsten Art pse_437.013 wirken in solcher Form. Aber eines verbindet sie: die klare pse_437.014 Bauweise mit dem deutlichen Abschluß. Zwei Gegenbeispiele:
pse_437.015 pse_437.016
Schmeichelnd locke das Tor den Wilden herein zum Gesetze,pse_437.017 Froh in die freie Natur führ es den Bürger hinaus.
(Schiller)
pse_437.018 Nicolai reiset noch immer, noch lang wird er reisen,pse_437.019 Aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg.
(Xenion)
pse_437.020 Vom schlichten Lied über die hohen Formen der Oden pse_437.021 und Hymnen bis zum scharfen Spruch hat uns die sogenannte pse_437.022 Lyrik geführt. Ein unendlicher Reichtum an Möglichkeiten, pse_437.023 so daß wirklich die Frage nicht unberechtigt ist, ob da noch pse_437.024 eine Einheit zu finden sei, die alles zusammenhalte. Sie scheint pse_437.025 mir einzig in der Tatsache zu liegen, die wir als den Grundzug pse_437.026 dieser Gattung angegeben haben: Gestaltung einer unmittelbar pse_437.027 erlebten Wirklichkeit.
pse_437.001
Schon in dieser Form liegt eine Pointe. Sie vollendet sich pse_437.002 aber erst, wenn das Gedicht von seinem Titel her gelesen pse_437.003 wird: Der Literarhistoriker. Damit wird sofort das Ganze pse_437.004 vom Ochsen und vom Fressen an in eine bissige Stimmung pse_437.005 getaucht, die am Schluß in einer scharfen aburteilenden Spitze pse_437.006 endet.
pse_437.007 Für diese scharfe Form der Epigramme hat sich das antike pse_437.008 Distichon als besonders günstig erwiesen, denn es schafft im pse_437.009 Pentameter wirklich einen markanten Abschluß. So sind pse_437.010 denn eine Großzahl aller Epigramme in dieser Strophenform pse_437.011 geschrieben. Aber nicht alle Distichen müssen Epigramme pse_437.012 in diesem Sinne sein. Auch Sprüche der ruhigen ernsten Art pse_437.013 wirken in solcher Form. Aber eines verbindet sie: die klare pse_437.014 Bauweise mit dem deutlichen Abschluß. Zwei Gegenbeispiele:
pse_437.015 pse_437.016
Schmeichelnd locke das Tor den Wilden herein zum Gesetze,pse_437.017 Froh in die freie Natur führ es den Bürger hinaus.
(Schiller)
pse_437.018 Nicolai reiset noch immer, noch lang wird er reisen,pse_437.019 Aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg.
(Xenion)
pse_437.020 Vom schlichten Lied über die hohen Formen der Oden pse_437.021 und Hymnen bis zum scharfen Spruch hat uns die sogenannte pse_437.022 Lyrik geführt. Ein unendlicher Reichtum an Möglichkeiten, pse_437.023 so daß wirklich die Frage nicht unberechtigt ist, ob da noch pse_437.024 eine Einheit zu finden sei, die alles zusammenhalte. Sie scheint pse_437.025 mir einzig in der Tatsache zu liegen, die wir als den Grundzug pse_437.026 dieser Gattung angegeben haben: Gestaltung einer unmittelbar pse_437.027 erlebten Wirklichkeit.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0453"n="437"/><lbn="pse_437.001"/><p>Schon in dieser Form liegt eine Pointe. Sie vollendet sich <lbn="pse_437.002"/>
aber erst, wenn das Gedicht von seinem Titel her gelesen <lbn="pse_437.003"/>
wird: Der Literarhistoriker. Damit wird sofort das Ganze <lbn="pse_437.004"/>
vom Ochsen und vom Fressen an in eine bissige Stimmung <lbn="pse_437.005"/>
getaucht, die am Schluß in einer scharfen aburteilenden Spitze <lbn="pse_437.006"/>
endet.</p><p><lbn="pse_437.007"/>
Für diese scharfe Form der Epigramme hat sich das antike <lbn="pse_437.008"/>
Distichon als besonders günstig erwiesen, denn es schafft im <lbn="pse_437.009"/>
Pentameter wirklich einen markanten Abschluß. So sind <lbn="pse_437.010"/>
denn eine Großzahl aller Epigramme in dieser Strophenform <lbn="pse_437.011"/>
geschrieben. Aber nicht alle Distichen müssen Epigramme <lbn="pse_437.012"/>
in diesem Sinne sein. Auch Sprüche der ruhigen ernsten Art <lbn="pse_437.013"/>
wirken in solcher Form. Aber eines verbindet sie: die klare <lbn="pse_437.014"/>
Bauweise mit dem deutlichen Abschluß. Zwei Gegenbeispiele:</p><lbn="pse_437.015"/><lbn="pse_437.016"/><p><hirendition="#aq"><lg><l>Schmeichelnd locke das Tor den Wilden herein zum Gesetze,</l><lbn="pse_437.017"/><l> Froh in die freie Natur führ es den Bürger hinaus.</l></lg> (Schiller) <lg><lbn="pse_437.018"/><l>Nicolai reiset noch immer, noch lang wird er reisen,</l><lbn="pse_437.019"/><l> Aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg.</l></lg> (Xenion)</hi></p><p><lbn="pse_437.020"/>
Vom schlichten Lied über die hohen Formen der Oden <lbn="pse_437.021"/>
und Hymnen bis zum scharfen Spruch hat uns die sogenannte <lbn="pse_437.022"/>
Lyrik geführt. Ein unendlicher Reichtum an Möglichkeiten, <lbn="pse_437.023"/>
so daß wirklich die Frage nicht unberechtigt ist, ob da noch <lbn="pse_437.024"/>
eine Einheit zu finden sei, die alles zusammenhalte. Sie scheint <lbn="pse_437.025"/>
mir einzig in der Tatsache zu liegen, die wir als den Grundzug <lbn="pse_437.026"/>
dieser Gattung angegeben haben: Gestaltung einer unmittelbar <lbn="pse_437.027"/>
erlebten Wirklichkeit.</p></div></div></div></body></text></TEI>
[437/0453]
pse_437.001
Schon in dieser Form liegt eine Pointe. Sie vollendet sich pse_437.002
aber erst, wenn das Gedicht von seinem Titel her gelesen pse_437.003
wird: Der Literarhistoriker. Damit wird sofort das Ganze pse_437.004
vom Ochsen und vom Fressen an in eine bissige Stimmung pse_437.005
getaucht, die am Schluß in einer scharfen aburteilenden Spitze pse_437.006
endet.
pse_437.007
Für diese scharfe Form der Epigramme hat sich das antike pse_437.008
Distichon als besonders günstig erwiesen, denn es schafft im pse_437.009
Pentameter wirklich einen markanten Abschluß. So sind pse_437.010
denn eine Großzahl aller Epigramme in dieser Strophenform pse_437.011
geschrieben. Aber nicht alle Distichen müssen Epigramme pse_437.012
in diesem Sinne sein. Auch Sprüche der ruhigen ernsten Art pse_437.013
wirken in solcher Form. Aber eines verbindet sie: die klare pse_437.014
Bauweise mit dem deutlichen Abschluß. Zwei Gegenbeispiele:
pse_437.015
pse_437.016
Schmeichelnd locke das Tor den Wilden herein zum Gesetze, pse_437.017
Froh in die freie Natur führ es den Bürger hinaus.
(Schiller) pse_437.018
Nicolai reiset noch immer, noch lang wird er reisen, pse_437.019
Aber ins Land der Vernunft findet er nimmer den Weg.
(Xenion)
pse_437.020
Vom schlichten Lied über die hohen Formen der Oden pse_437.021
und Hymnen bis zum scharfen Spruch hat uns die sogenannte pse_437.022
Lyrik geführt. Ein unendlicher Reichtum an Möglichkeiten, pse_437.023
so daß wirklich die Frage nicht unberechtigt ist, ob da noch pse_437.024
eine Einheit zu finden sei, die alles zusammenhalte. Sie scheint pse_437.025
mir einzig in der Tatsache zu liegen, die wir als den Grundzug pse_437.026
dieser Gattung angegeben haben: Gestaltung einer unmittelbar pse_437.027
erlebten Wirklichkeit.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 437. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/453>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.