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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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dichterische Art herausgestellt. Als eine Form, die pse_435.002
sich in reiner Entfaltung immer und an jedem Ort finden pse_435.003
kann, als einen reinen Typus dichterischer Prägung. Aber in pse_435.004
der geschichtlichen Entfaltung gibt es nun verschiedene Formen. pse_435.005
In der mittelalterlichen Literatur spielt er eine große pse_435.006
Rolle, man weiß um die bedeutende Spruchdichtung eines pse_435.007
Walther, des jüngeren Reimar, des Freidank, Teichner, pse_435.008
Suchenwirt usw. Aber die mittelalterliche Form ist nicht eindeutig. pse_435.009
Es handelt sich wohl um zwei verschiedene Arten, die pse_435.010
eine, knapp und lehrhaft, die wirklich bloß gesprochen wurde, pse_435.011
und eine andere, allgemeineren und tieferen Gehalts, die nach pse_435.012
heutiger Ansicht auch gesungen wurde.

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Man kann vielleicht am besten zwei Arten der Spruchdichtung pse_435.014
unterscheiden, wieder mehr Grenzfälle mit Übergängen pse_435.015
als gegensätzliche Typen. In der einen wird eine Lebensweisheit pse_435.016
in einem schönen, gerundeten Bild nahegebracht und pse_435.017
dauernd geprägt. Goethe ist ihr großer Meister:

pse_435.018
Gedichte sind gemalte Fensterscheiben! pse_435.019
Sieht man vom Markt in die Kirche hinein, pse_435.020
Da ist alles dunkel und düster; pse_435.021
Und so sieht's auch der Herr Philister. pse_435.022
Der mag denn wohl verdrießlich sein pse_435.023
Und lebenslang verdrießlich bleiben.
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Kommt aber nur einmal herein, pse_435.025
Begrüßt die heilige Kapelle! pse_435.026
Da ist's auf einmal farbig helle: pse_435.027
Geschicht und Zierat glänzt in Schnelle, pse_435.028
Bedeutend wirkt ein edler Schein. pse_435.029
Das wir euch Kindern Gottes taugen, pse_435.030
Erbaut euch und ergetzt die Augen.
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Ein zweistrophiger Spruch, wobei jede Strophe eine andere, pse_435.032
aber sehr kunst- und sinnvolle Reimbindung hat. Zwei Kennzeichen pse_435.033
drängen sich auf: die klare und eindringliche Bildprägung, pse_435.034
die mit dem ersten Vers festgelegt ist: von hier aus pse_435.035
wird alles entfaltet und in eine Tiefe geführt, die wirklich eine pse_435.036
ganze Ästhetik in nuce gibt. Dann die liebenswürdige Art, pse_435.037
die besonders im zweiten Teil durchklingt, aber auch den pse_435.038
Herrn Philister nicht verspottet oder tadelt, sondern sein läßt, pse_435.039
was er eben ist, Lebensweisheit in abgeklärter Form, verdichtet

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dichterische Art herausgestellt. Als eine Form, die pse_435.002
sich in reiner Entfaltung immer und an jedem Ort finden pse_435.003
kann, als einen reinen Typus dichterischer Prägung. Aber in pse_435.004
der geschichtlichen Entfaltung gibt es nun verschiedene Formen. pse_435.005
In der mittelalterlichen Literatur spielt er eine große pse_435.006
Rolle, man weiß um die bedeutende Spruchdichtung eines pse_435.007
Walther, des jüngeren Reimar, des Freidank, Teichner, pse_435.008
Suchenwirt usw. Aber die mittelalterliche Form ist nicht eindeutig. pse_435.009
Es handelt sich wohl um zwei verschiedene Arten, die pse_435.010
eine, knapp und lehrhaft, die wirklich bloß gesprochen wurde, pse_435.011
und eine andere, allgemeineren und tieferen Gehalts, die nach pse_435.012
heutiger Ansicht auch gesungen wurde.

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Man kann vielleicht am besten zwei Arten der Spruchdichtung pse_435.014
unterscheiden, wieder mehr Grenzfälle mit Übergängen pse_435.015
als gegensätzliche Typen. In der einen wird eine Lebensweisheit pse_435.016
in einem schönen, gerundeten Bild nahegebracht und pse_435.017
dauernd geprägt. Goethe ist ihr großer Meister:

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Gedichte sind gemalte Fensterscheiben! pse_435.019
Sieht man vom Markt in die Kirche hinein, pse_435.020
Da ist alles dunkel und düster; pse_435.021
Und so sieht's auch der Herr Philister. pse_435.022
Der mag denn wohl verdrießlich sein pse_435.023
Und lebenslang verdrießlich bleiben.
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Kommt aber nur einmal herein, pse_435.025
Begrüßt die heilige Kapelle! pse_435.026
Da ist's auf einmal farbig helle: pse_435.027
Geschicht und Zierat glänzt in Schnelle, pse_435.028
Bedeutend wirkt ein edler Schein. pse_435.029
Das wir euch Kindern Gottes taugen, pse_435.030
Erbaut euch und ergetzt die Augen.
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Ein zweistrophiger Spruch, wobei jede Strophe eine andere, pse_435.032
aber sehr kunst- und sinnvolle Reimbindung hat. Zwei Kennzeichen pse_435.033
drängen sich auf: die klare und eindringliche Bildprägung, pse_435.034
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wird alles entfaltet und in eine Tiefe geführt, die wirklich eine pse_435.036
ganze Ästhetik in nuce gibt. Dann die liebenswürdige Art, pse_435.037
die besonders im zweiten Teil durchklingt, aber auch den pse_435.038
Herrn Philister nicht verspottet oder tadelt, sondern sein läßt, pse_435.039
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[435/0451] pse_435.001 dichterische Art herausgestellt. Als eine Form, die pse_435.002 sich in reiner Entfaltung immer und an jedem Ort finden pse_435.003 kann, als einen reinen Typus dichterischer Prägung. Aber in pse_435.004 der geschichtlichen Entfaltung gibt es nun verschiedene Formen. pse_435.005 In der mittelalterlichen Literatur spielt er eine große pse_435.006 Rolle, man weiß um die bedeutende Spruchdichtung eines pse_435.007 Walther, des jüngeren Reimar, des Freidank, Teichner, pse_435.008 Suchenwirt usw. Aber die mittelalterliche Form ist nicht eindeutig. pse_435.009 Es handelt sich wohl um zwei verschiedene Arten, die pse_435.010 eine, knapp und lehrhaft, die wirklich bloß gesprochen wurde, pse_435.011 und eine andere, allgemeineren und tieferen Gehalts, die nach pse_435.012 heutiger Ansicht auch gesungen wurde. pse_435.013 Man kann vielleicht am besten zwei Arten der Spruchdichtung pse_435.014 unterscheiden, wieder mehr Grenzfälle mit Übergängen pse_435.015 als gegensätzliche Typen. In der einen wird eine Lebensweisheit pse_435.016 in einem schönen, gerundeten Bild nahegebracht und pse_435.017 dauernd geprägt. Goethe ist ihr großer Meister: pse_435.018 Gedichte sind gemalte Fensterscheiben! pse_435.019 Sieht man vom Markt in die Kirche hinein, pse_435.020 Da ist alles dunkel und düster; pse_435.021 Und so sieht's auch der Herr Philister. pse_435.022 Der mag denn wohl verdrießlich sein pse_435.023 Und lebenslang verdrießlich bleiben. pse_435.024 Kommt aber nur einmal herein, pse_435.025 Begrüßt die heilige Kapelle! pse_435.026 Da ist's auf einmal farbig helle: pse_435.027 Geschicht und Zierat glänzt in Schnelle, pse_435.028 Bedeutend wirkt ein edler Schein. pse_435.029 Das wir euch Kindern Gottes taugen, pse_435.030 Erbaut euch und ergetzt die Augen. pse_435.031 Ein zweistrophiger Spruch, wobei jede Strophe eine andere, pse_435.032 aber sehr kunst- und sinnvolle Reimbindung hat. Zwei Kennzeichen pse_435.033 drängen sich auf: die klare und eindringliche Bildprägung, pse_435.034 die mit dem ersten Vers festgelegt ist: von hier aus pse_435.035 wird alles entfaltet und in eine Tiefe geführt, die wirklich eine pse_435.036 ganze Ästhetik in nuce gibt. Dann die liebenswürdige Art, pse_435.037 die besonders im zweiten Teil durchklingt, aber auch den pse_435.038 Herrn Philister nicht verspottet oder tadelt, sondern sein läßt, pse_435.039 was er eben ist, Lebensweisheit in abgeklärter Form, verdichtet

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/451>, abgerufen am 22.11.2024.