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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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nun in starker Spannung zur durchgehenden Satzbewegung, pse_427.002
die über die Verse, oft über die Strophe hinausgeführt wird. pse_427.003
Dazu tritt eine Reihung der Worte, die dem Üblichen sich pse_427.004
fernhält, die jeden Ausschnitt der erlebten Welt immer wieder pse_427.005
neu unmittelbar aufgreift. Die Ode ist eine lyrische Art, pse_427.006
die durch alle Jahrhunderte seit den alten Griechen gepflegt pse_427.007
wurde. Sie steht im schärfsten Gegensatz zum Lied und stellt pse_427.008
so einen anderen Pol der Lyrik dar. Angespanntheit, Distanz pse_427.009
und wertendes Schauen neben tiefster Ergriffenheit vom Gewerteten pse_427.010
schaffen eine besondere seelische Höhenlage. Das pse_427.011
Gemeinsame aber zum Lied ist ebenso deutlich: unmittelbares, pse_427.012
in das tiefe Innere hineingreifendes Welterfassen.

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Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! pse_427.014
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, pse_427.015
Daß williger mein Herz, vom süßen pse_427.016
Spiele gesättiget, dann mir sterbe!
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Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht pse_427.018
Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht; pse_427.019
Doch ist mir einst das Heilge, das am pse_427.020
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen:
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Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! pse_427.022
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel pse_427.023
Mich nicht hinabgeleitet; einmal pse_427.024
Lebt' ich wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
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   (Hölderlin, An die Parzen)

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Die gesteigertste Form der Lyrik ist die Hymne. Man darf pse_427.027
bei diesem Namen nicht an die frühchristliche Hymnendichtung pse_427.028
denken, die vielmehr in ihrem Strophenbau und der pse_427.029
Durchführung des Endreims nach unserer Bezeichnung als pse_427.030
Gesang anzusehen ist. Eher sind die frühmittelalterlichen Sequenzen pse_427.031
und die mittelalterlichen Leiche in ihre Nähe zu pse_427.032
rücken. Ursprünglich waren die Hymnen Kultgesänge. Die pse_427.033
große Zeit der deutschen Hymnendichtung ist die Goethezeit. pse_427.034
Hier fehlt der Bezug zu einer Gemeinschaft, wie er in pse_427.035
der Kultdichtung vorhanden ist. Ein einzelner läßt sich aus pse_427.036
höchster Gehobenheit vernehmen. Die Grenzen zur Ode sind pse_427.037
nicht immer leicht anzugeben. Denn die Bereiche, die das

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nun in starker Spannung zur durchgehenden Satzbewegung, pse_427.002
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Gemeinsame aber zum Lied ist ebenso deutlich: unmittelbares, pse_427.012
in das tiefe Innere hineingreifendes Welterfassen.

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Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen! pse_427.014
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Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt! pse_427.022
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel pse_427.023
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Lebt' ich wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
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   (Hölderlin, An die Parzen)

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Die gesteigertste Form der Lyrik ist die Hymne. Man darf pse_427.027
bei diesem Namen nicht an die frühchristliche Hymnendichtung pse_427.028
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Gesang anzusehen ist. Eher sind die frühmittelalterlichen Sequenzen pse_427.031
und die mittelalterlichen Leiche in ihre Nähe zu pse_427.032
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/443>, abgerufen am 22.11.2024.