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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte? pse_426.002
Du, einmal glatte Rinde, pse_426.003
Rundung und Blatt meiner Worte. (2/1)

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Eine seltene Art strengster und schwierigster Formkunst pse_426.005
sind die Sonettenkränze. Vierzehn Sonette sind so aneinandergereiht, pse_426.006
daß der letzte Vers des vorangehenden Sonetts je der pse_426.007
erste des folgenden ist, der letzte des vierzehnten ist der erste pse_426.008
des ersten. Ein fünfzehntes Sonett besteht aus den Anfangsversen pse_426.009
aller vorangehenden. Die Schwierigkeit besteht in der pse_426.010
kunstvollen Formverschlingung und in der Auffüllung dieses pse_426.011
genau berechneten Gefäßes mit einem Gehalt. Gelingt das pse_426.012
Gebilde, so wirkt das Schlußsonett wie eine gewaltige Verdichtung pse_426.013
und krönende Zusammenfassung des Ganzen. Damit pse_426.014
erinnert ein solcher Sonettenkranz an den fugenartigen pse_426.015
Aufbau vieler deutscher Barocksonette. Viermal hat Weinheber pse_426.016
solche Sonettenkränze versucht, zweimal in "Adel und pse_426.017
Untergang", zweimal in der "Späten Krone". Hier hat er die pse_426.018
vierzehn Sonette aus den Versen je eines Michelangelo- pse_426.019
Sonetts herausentfaltet, so daß das fünfzehnte die Übersetzung pse_426.020
des Originals darstellt.

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Die Ode ist eine besonders markante Ausformung der gespannten pse_426.022
Art der Lyrik. Die Gegenüberstellung von erlebtem pse_426.023
Weltausschnitt und erlebendem Ich ist hier besonders deutlich. pse_426.024
Das Ich ist aber trotzdem in zweifacher Hinsicht an das pse_426.025
Gegenüber gebunden: in einer Art richtender, wertender pse_426.026
Haltung und dennoch in gemüthafter Verbundenheit. Das pse_426.027
führt zu einem tiefen Durchschauen des Gegenüber und dies pse_426.028
wieder zu einer ganz ins Innere reichenden Betroffenheit des pse_426.029
lyrischen Ich. Die so ergriffenen Weltausschnitte ragen über pse_426.030
den Durchschnitt des Alltags empor oder werden eben durch pse_426.031
diese Einstellung aus ihm emporgehoben: Liebe, Natur, pse_426.032
Vaterland, Weltall, Gott. In der Strophenform ist diese Gespanntheit pse_426.033
Gestalt geworden. Oden stehen in den aus der pse_426.034
griechischen Dichtung überkommenen Strophenformen: sie pse_426.035
verzichten auf den Reim, das Metrum ist streng durchgehalten, pse_426.036
so daß ein festes, kunstvolles Rahmengebilde entsteht, pse_426.037
besonders auch durch die Eigenart des Schlußverses jeder pse_426.038
Strophe in all diesen Formen. Aber dieses Kunstgebilde steht

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Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte? pse_426.002
Du, einmal glatte Rinde, pse_426.003
Rundung und Blatt meiner Worte. (2/1)

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Eine seltene Art strengster und schwierigster Formkunst pse_426.005
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kunstvollen Formverschlingung und in der Auffüllung dieses pse_426.011
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des Originals darstellt.

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Die Ode ist eine besonders markante Ausformung der gespannten pse_426.022
Art der Lyrik. Die Gegenüberstellung von erlebtem pse_426.023
Weltausschnitt und erlebendem Ich ist hier besonders deutlich. pse_426.024
Das Ich ist aber trotzdem in zweifacher Hinsicht an das pse_426.025
Gegenüber gebunden: in einer Art richtender, wertender pse_426.026
Haltung und dennoch in gemüthafter Verbundenheit. Das pse_426.027
führt zu einem tiefen Durchschauen des Gegenüber und dies pse_426.028
wieder zu einer ganz ins Innere reichenden Betroffenheit des pse_426.029
lyrischen Ich. Die so ergriffenen Weltausschnitte ragen über pse_426.030
den Durchschnitt des Alltags empor oder werden eben durch pse_426.031
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verzichten auf den Reim, das Metrum ist streng durchgehalten, pse_426.036
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/442>, abgerufen am 25.11.2024.