Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_028.001
Aber etwas anderes ist jetzt wichtiger, weil es uns der pse_028.002
Dichtung näherführt. Die Erfassungsmöglichkeiten des Erlebens pse_028.003
und Erkennens sind, da Welterfassung dem Menschen pse_028.004
nur sprachlich möglich ist, zugleich sprachliche Gegebenheiten. pse_028.005
Daher müssen sie sich auch in den Sprachwerken pse_028.006
auswirken. Wir beginnen zur kurzen Beleuchtung mit pse_028.007
zwei scharfen Gegensätzen. Zuerst das polizeiliche Protokoll pse_028.008
über einen Verkehrsunfall. Die Sprache hat hier ganz bestimmte pse_028.009
Aufgaben zu erfüllen: sie muß Vorkommnisse mitteilen, und pse_028.010
zwar so, daß der Leser sich ein klares, wahres und vollständiges pse_028.011
Bild machen kann. Die Sprache hat hier eine deutliche pse_028.012
Dienstrolle, sie muß Feststellungen, Wahrnehmungen, Beobachtungen pse_028.013
usw. mitteilen, so daß diese Feststellungen, Wahrnehmungen, pse_028.014
Beobachtungen einem anderen zugänglich sind. pse_028.015
Zugleich ist klar, daß hier das Gemüt keine Rolle spielt. Es pse_028.016
hängt ein solches Sprachwerk also mit dem früher erwähnten pse_028.017
Erkennen zusammen. Solche Sprachgebilde, in denen die pse_028.018
Sprache ausschließlich die Funktion einer Mitteilung hat, gibt pse_028.019
es eine Menge. Nur einige Beispiele: Ein Anschlag am schwarzen pse_028.020
Brett einer Behörde, Zeitungsanzeigen, Mitteilungen, die pse_028.021
sich zwei Bekannte auf der Straße machen, ein Lehrbuch der pse_028.022
Geographie, eine Unterrichtsstunde, ein Lehrbuch der Logik pse_028.023
usw. In allen diesen Sprachgebilden weist die Sprache auf pse_028.024
etwas hin, was außerhalb ihrer liegt. Hat die Sprache die Aufgabe pse_028.025
erfüllt, auf diese Sachverhalte hinzuweisen, dann ist sie pse_028.026
gleichsam überflüssig. Sicher ist auch, daß für solche Mitteilungen pse_028.027
bestimmte Normen herrschen, die erfüllt sein pse_028.028
müssen, wenn die Mitteilung wirklich ihren Zweck erfüllen pse_028.029
soll. Ein Gerichtsurteil zeigt, wenn es seinen Zweck richtig pse_028.030
erreicht, eine andere Darstellungsweise als ein kaufmännischer pse_028.031
Brief, dieser ist wieder anders als ein technisches Gutachten, pse_028.032
die Rede eines Rechtsanwalts befolgt andere Normen als eine pse_028.033
wissenschaftliche Darstellung usw. Aber nochmals: in allen pse_028.034
diesen Sprachgebungen erfüllt Sprache einen Dienst, sie pse_028.035
weist auf etwas hin, was außerhalb dieser Sprachgebung liegt, pse_028.036
sie ist Mittel zum Zweck. Während nun in Gebilden der pse_028.037
Ursprache, wie wir sie gefaßt haben, die Sprache alle ihre pse_028.038
Kräfte entfaltet, vor allem auch das Gemüthafte mitgestaltet,

pse_028.001
Aber etwas anderes ist jetzt wichtiger, weil es uns der pse_028.002
Dichtung näherführt. Die Erfassungsmöglichkeiten des Erlebens pse_028.003
und Erkennens sind, da Welterfassung dem Menschen pse_028.004
nur sprachlich möglich ist, zugleich sprachliche Gegebenheiten. pse_028.005
Daher müssen sie sich auch in den Sprachwerken pse_028.006
auswirken. Wir beginnen zur kurzen Beleuchtung mit pse_028.007
zwei scharfen Gegensätzen. Zuerst das polizeiliche Protokoll pse_028.008
über einen Verkehrsunfall. Die Sprache hat hier ganz bestimmte pse_028.009
Aufgaben zu erfüllen: sie muß Vorkommnisse mitteilen, und pse_028.010
zwar so, daß der Leser sich ein klares, wahres und vollständiges pse_028.011
Bild machen kann. Die Sprache hat hier eine deutliche pse_028.012
Dienstrolle, sie muß Feststellungen, Wahrnehmungen, Beobachtungen pse_028.013
usw. mitteilen, so daß diese Feststellungen, Wahrnehmungen, pse_028.014
Beobachtungen einem anderen zugänglich sind. pse_028.015
Zugleich ist klar, daß hier das Gemüt keine Rolle spielt. Es pse_028.016
hängt ein solches Sprachwerk also mit dem früher erwähnten pse_028.017
Erkennen zusammen. Solche Sprachgebilde, in denen die pse_028.018
Sprache ausschließlich die Funktion einer Mitteilung hat, gibt pse_028.019
es eine Menge. Nur einige Beispiele: Ein Anschlag am schwarzen pse_028.020
Brett einer Behörde, Zeitungsanzeigen, Mitteilungen, die pse_028.021
sich zwei Bekannte auf der Straße machen, ein Lehrbuch der pse_028.022
Geographie, eine Unterrichtsstunde, ein Lehrbuch der Logik pse_028.023
usw. In allen diesen Sprachgebilden weist die Sprache auf pse_028.024
etwas hin, was außerhalb ihrer liegt. Hat die Sprache die Aufgabe pse_028.025
erfüllt, auf diese Sachverhalte hinzuweisen, dann ist sie pse_028.026
gleichsam überflüssig. Sicher ist auch, daß für solche Mitteilungen pse_028.027
bestimmte Normen herrschen, die erfüllt sein pse_028.028
müssen, wenn die Mitteilung wirklich ihren Zweck erfüllen pse_028.029
soll. Ein Gerichtsurteil zeigt, wenn es seinen Zweck richtig pse_028.030
erreicht, eine andere Darstellungsweise als ein kaufmännischer pse_028.031
Brief, dieser ist wieder anders als ein technisches Gutachten, pse_028.032
die Rede eines Rechtsanwalts befolgt andere Normen als eine pse_028.033
wissenschaftliche Darstellung usw. Aber nochmals: in allen pse_028.034
diesen Sprachgebungen erfüllt Sprache einen Dienst, sie pse_028.035
weist auf etwas hin, was außerhalb dieser Sprachgebung liegt, pse_028.036
sie ist Mittel zum Zweck. Während nun in Gebilden der pse_028.037
Ursprache, wie wir sie gefaßt haben, die Sprache alle ihre pse_028.038
Kräfte entfaltet, vor allem auch das Gemüthafte mitgestaltet,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0044" n="28"/>
            <p><lb n="pse_028.001"/>
Aber etwas anderes ist jetzt wichtiger, weil es uns der <lb n="pse_028.002"/>
Dichtung näherführt. Die Erfassungsmöglichkeiten des Erlebens <lb n="pse_028.003"/>
und Erkennens sind, da Welterfassung dem Menschen <lb n="pse_028.004"/>
nur sprachlich möglich ist, zugleich sprachliche Gegebenheiten. <lb n="pse_028.005"/>
Daher müssen sie sich auch in den Sprachwerken <lb n="pse_028.006"/>
auswirken. Wir beginnen zur kurzen Beleuchtung mit <lb n="pse_028.007"/>
zwei scharfen Gegensätzen. Zuerst das polizeiliche Protokoll <lb n="pse_028.008"/>
über einen Verkehrsunfall. Die Sprache hat hier ganz bestimmte <lb n="pse_028.009"/>
Aufgaben zu erfüllen: sie muß Vorkommnisse mitteilen, und <lb n="pse_028.010"/>
zwar so, daß der Leser sich ein klares, wahres und vollständiges <lb n="pse_028.011"/>
Bild machen kann. Die Sprache hat hier eine deutliche <lb n="pse_028.012"/>
Dienstrolle, sie muß Feststellungen, Wahrnehmungen, Beobachtungen <lb n="pse_028.013"/>
usw. mitteilen, so daß diese Feststellungen, Wahrnehmungen, <lb n="pse_028.014"/>
Beobachtungen einem anderen zugänglich sind. <lb n="pse_028.015"/>
Zugleich ist klar, daß hier das Gemüt keine Rolle spielt. Es <lb n="pse_028.016"/>
hängt ein solches Sprachwerk also mit dem früher erwähnten <lb n="pse_028.017"/>
Erkennen zusammen. Solche Sprachgebilde, in denen die <lb n="pse_028.018"/>
Sprache ausschließlich die Funktion einer Mitteilung hat, gibt <lb n="pse_028.019"/>
es eine Menge. Nur einige Beispiele: Ein Anschlag am schwarzen <lb n="pse_028.020"/>
Brett einer Behörde, Zeitungsanzeigen, Mitteilungen, die <lb n="pse_028.021"/>
sich zwei Bekannte auf der Straße machen, ein Lehrbuch der <lb n="pse_028.022"/>
Geographie, eine Unterrichtsstunde, ein Lehrbuch der Logik <lb n="pse_028.023"/>
usw. In allen diesen Sprachgebilden weist die Sprache auf <lb n="pse_028.024"/>
etwas hin, was außerhalb ihrer liegt. Hat die Sprache die Aufgabe <lb n="pse_028.025"/>
erfüllt, auf diese Sachverhalte hinzuweisen, dann ist sie <lb n="pse_028.026"/>
gleichsam überflüssig. Sicher ist auch, daß für solche Mitteilungen <lb n="pse_028.027"/>
bestimmte Normen herrschen, die erfüllt sein <lb n="pse_028.028"/>
müssen, wenn die Mitteilung wirklich ihren Zweck erfüllen <lb n="pse_028.029"/>
soll. Ein Gerichtsurteil zeigt, wenn es seinen Zweck richtig <lb n="pse_028.030"/>
erreicht, eine andere Darstellungsweise als ein kaufmännischer <lb n="pse_028.031"/>
Brief, dieser ist wieder anders als ein technisches Gutachten, <lb n="pse_028.032"/>
die Rede eines Rechtsanwalts befolgt andere Normen als eine <lb n="pse_028.033"/>
wissenschaftliche Darstellung usw. Aber nochmals: in allen <lb n="pse_028.034"/>
diesen Sprachgebungen erfüllt Sprache einen Dienst, sie <lb n="pse_028.035"/>
weist auf etwas hin, was außerhalb dieser Sprachgebung liegt, <lb n="pse_028.036"/>
sie ist Mittel zum Zweck. Während nun in Gebilden der <lb n="pse_028.037"/>
Ursprache, wie wir sie gefaßt haben, die Sprache alle ihre <lb n="pse_028.038"/>
Kräfte entfaltet, vor allem auch das Gemüthafte mitgestaltet,
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0044] pse_028.001 Aber etwas anderes ist jetzt wichtiger, weil es uns der pse_028.002 Dichtung näherführt. Die Erfassungsmöglichkeiten des Erlebens pse_028.003 und Erkennens sind, da Welterfassung dem Menschen pse_028.004 nur sprachlich möglich ist, zugleich sprachliche Gegebenheiten. pse_028.005 Daher müssen sie sich auch in den Sprachwerken pse_028.006 auswirken. Wir beginnen zur kurzen Beleuchtung mit pse_028.007 zwei scharfen Gegensätzen. Zuerst das polizeiliche Protokoll pse_028.008 über einen Verkehrsunfall. Die Sprache hat hier ganz bestimmte pse_028.009 Aufgaben zu erfüllen: sie muß Vorkommnisse mitteilen, und pse_028.010 zwar so, daß der Leser sich ein klares, wahres und vollständiges pse_028.011 Bild machen kann. Die Sprache hat hier eine deutliche pse_028.012 Dienstrolle, sie muß Feststellungen, Wahrnehmungen, Beobachtungen pse_028.013 usw. mitteilen, so daß diese Feststellungen, Wahrnehmungen, pse_028.014 Beobachtungen einem anderen zugänglich sind. pse_028.015 Zugleich ist klar, daß hier das Gemüt keine Rolle spielt. Es pse_028.016 hängt ein solches Sprachwerk also mit dem früher erwähnten pse_028.017 Erkennen zusammen. Solche Sprachgebilde, in denen die pse_028.018 Sprache ausschließlich die Funktion einer Mitteilung hat, gibt pse_028.019 es eine Menge. Nur einige Beispiele: Ein Anschlag am schwarzen pse_028.020 Brett einer Behörde, Zeitungsanzeigen, Mitteilungen, die pse_028.021 sich zwei Bekannte auf der Straße machen, ein Lehrbuch der pse_028.022 Geographie, eine Unterrichtsstunde, ein Lehrbuch der Logik pse_028.023 usw. In allen diesen Sprachgebilden weist die Sprache auf pse_028.024 etwas hin, was außerhalb ihrer liegt. Hat die Sprache die Aufgabe pse_028.025 erfüllt, auf diese Sachverhalte hinzuweisen, dann ist sie pse_028.026 gleichsam überflüssig. Sicher ist auch, daß für solche Mitteilungen pse_028.027 bestimmte Normen herrschen, die erfüllt sein pse_028.028 müssen, wenn die Mitteilung wirklich ihren Zweck erfüllen pse_028.029 soll. Ein Gerichtsurteil zeigt, wenn es seinen Zweck richtig pse_028.030 erreicht, eine andere Darstellungsweise als ein kaufmännischer pse_028.031 Brief, dieser ist wieder anders als ein technisches Gutachten, pse_028.032 die Rede eines Rechtsanwalts befolgt andere Normen als eine pse_028.033 wissenschaftliche Darstellung usw. Aber nochmals: in allen pse_028.034 diesen Sprachgebungen erfüllt Sprache einen Dienst, sie pse_028.035 weist auf etwas hin, was außerhalb dieser Sprachgebung liegt, pse_028.036 sie ist Mittel zum Zweck. Während nun in Gebilden der pse_028.037 Ursprache, wie wir sie gefaßt haben, die Sprache alle ihre pse_028.038 Kräfte entfaltet, vor allem auch das Gemüthafte mitgestaltet,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/44
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/44>, abgerufen am 24.11.2024.