Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_419.001
jeder Strophe. Auch diese Wiederkehr derselben Verse schließt pse_419.002
jede Strophe deutlich ab und gibt so dem Ganzen Festigkeit pse_419.003
und Klarheit. Dabei kann der Dichter durch leichte Abänderungen pse_419.004
im Kehrreim neue Möglichkeiten herausholen. Der pse_419.005
Rhythmus, das Metrum bleiben, aber der Wortlaut kann abgewandelt pse_419.006
werden. Gerade solche Umformungen fallen im pse_419.007
gleichen Gebilde, als welches der Kehrreim am Ende jeder pse_419.008
Strophe deutlich heraustritt, besonders auf. Der Dichter pse_419.009
kann so Stimmungsbewegung schaffen, den Fortgang im pse_419.010
Aufbau herausheben. Die Kunstform des Liedes verzichtet pse_419.011
aber auf bestimmte rationale Verknüpfungen. Es fehlen pse_419.012
streng grammatische Bindungen der Sätze, logische Fügungen, pse_419.013
auch feine und überlegte Stimmungsübergänge. Alles ist pse_419.014
auf die Fügung ausgerichtet.

pse_419.015
So erscheint das Lied auch als Kunstwerk von eigenartiger pse_419.016
Einheitlichkeit: höchste Kunstvollendung und Schlichtheit verbinden pse_419.017
sich: man merkt der Schlichtheit, der Innigkeit, der pse_419.018
einheitlichen Stimmung die Gerundetheit und Vollendung pse_419.019
der Kunst nicht an, zugleich aber hebt diese Kunstgestalt pse_419.020
das Gedicht über jedes Zerfließen in bloßer Stimmung empor.

pse_419.021
b) Das Lied in seiner reinen Form kann in vielfacher Weise pse_419.022
abgewandelt werden. Alle die Entfaltungsmöglichkeiten pse_419.023
weisen zwei Züge auf: sie haben dieselbe Anlage wie das pse_419.024
Lied: klare, strenge Strophenform; aber sie sind einen Ton pse_419.025
höher gestimmt: feierlicher, mitreißender, erregender, gehobener. pse_419.026
Diese Gehobenheit zeigt sich schon im Gehalt: die pse_419.027
Weltausschnitte, die hier ergriffen werden, sind so geartet, daß pse_419.028
sie die Seele in stärkere Schwingungen versetzen, sie erheben, pse_419.029
tiefer erregen. Dem entspricht die künstlerische Gestalt: der pse_419.030
Stil ist gehoben, die Strophenform größer und kunstvoller. pse_419.031
Solche Gesänge schwingen weiter, sind daher länger.

pse_419.032
Eine erste Form ist das Gemeinschaftslied. Hier singt nicht pse_419.033
mehr das einzelne lyrische Ich in seiner Einsamkeit, eine Gemeinschaft pse_419.034
wird angesprochen durch den erregenden Gehalt, pse_419.035
und im gemeinsamen Singen fühlt sie sich um so mehr gebunden pse_419.036
und in ihrer Gesamtheit höher gehoben. So wirken pse_419.037
die Kampflieder, alle vaterländischen Gesänge bis hinauf zu pse_419.038
den sogenannten Nationalhymnen, die nicht nur im musikalischen

pse_419.001
jeder Strophe. Auch diese Wiederkehr derselben Verse schließt pse_419.002
jede Strophe deutlich ab und gibt so dem Ganzen Festigkeit pse_419.003
und Klarheit. Dabei kann der Dichter durch leichte Abänderungen pse_419.004
im Kehrreim neue Möglichkeiten herausholen. Der pse_419.005
Rhythmus, das Metrum bleiben, aber der Wortlaut kann abgewandelt pse_419.006
werden. Gerade solche Umformungen fallen im pse_419.007
gleichen Gebilde, als welches der Kehrreim am Ende jeder pse_419.008
Strophe deutlich heraustritt, besonders auf. Der Dichter pse_419.009
kann so Stimmungsbewegung schaffen, den Fortgang im pse_419.010
Aufbau herausheben. Die Kunstform des Liedes verzichtet pse_419.011
aber auf bestimmte rationale Verknüpfungen. Es fehlen pse_419.012
streng grammatische Bindungen der Sätze, logische Fügungen, pse_419.013
auch feine und überlegte Stimmungsübergänge. Alles ist pse_419.014
auf die Fügung ausgerichtet.

pse_419.015
So erscheint das Lied auch als Kunstwerk von eigenartiger pse_419.016
Einheitlichkeit: höchste Kunstvollendung und Schlichtheit verbinden pse_419.017
sich: man merkt der Schlichtheit, der Innigkeit, der pse_419.018
einheitlichen Stimmung die Gerundetheit und Vollendung pse_419.019
der Kunst nicht an, zugleich aber hebt diese Kunstgestalt pse_419.020
das Gedicht über jedes Zerfließen in bloßer Stimmung empor.

pse_419.021
b) Das Lied in seiner reinen Form kann in vielfacher Weise pse_419.022
abgewandelt werden. Alle die Entfaltungsmöglichkeiten pse_419.023
weisen zwei Züge auf: sie haben dieselbe Anlage wie das pse_419.024
Lied: klare, strenge Strophenform; aber sie sind einen Ton pse_419.025
höher gestimmt: feierlicher, mitreißender, erregender, gehobener. pse_419.026
Diese Gehobenheit zeigt sich schon im Gehalt: die pse_419.027
Weltausschnitte, die hier ergriffen werden, sind so geartet, daß pse_419.028
sie die Seele in stärkere Schwingungen versetzen, sie erheben, pse_419.029
tiefer erregen. Dem entspricht die künstlerische Gestalt: der pse_419.030
Stil ist gehoben, die Strophenform größer und kunstvoller. pse_419.031
Solche Gesänge schwingen weiter, sind daher länger.

pse_419.032
Eine erste Form ist das Gemeinschaftslied. Hier singt nicht pse_419.033
mehr das einzelne lyrische Ich in seiner Einsamkeit, eine Gemeinschaft pse_419.034
wird angesprochen durch den erregenden Gehalt, pse_419.035
und im gemeinsamen Singen fühlt sie sich um so mehr gebunden pse_419.036
und in ihrer Gesamtheit höher gehoben. So wirken pse_419.037
die Kampflieder, alle vaterländischen Gesänge bis hinauf zu pse_419.038
den sogenannten Nationalhymnen, die nicht nur im musikalischen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0435" n="419"/><lb n="pse_419.001"/>
jeder Strophe. Auch diese Wiederkehr derselben Verse schließt <lb n="pse_419.002"/>
jede Strophe deutlich ab und gibt so dem Ganzen Festigkeit <lb n="pse_419.003"/>
und Klarheit. Dabei kann der Dichter durch leichte Abänderungen <lb n="pse_419.004"/>
im Kehrreim neue Möglichkeiten herausholen. Der <lb n="pse_419.005"/>
Rhythmus, das Metrum bleiben, aber der Wortlaut kann abgewandelt <lb n="pse_419.006"/>
werden. Gerade solche Umformungen fallen im <lb n="pse_419.007"/>
gleichen Gebilde, als welches der Kehrreim am Ende jeder <lb n="pse_419.008"/>
Strophe deutlich heraustritt, besonders auf. Der Dichter <lb n="pse_419.009"/>
kann so Stimmungsbewegung schaffen, den Fortgang im <lb n="pse_419.010"/>
Aufbau herausheben. Die Kunstform des Liedes verzichtet <lb n="pse_419.011"/>
aber auf bestimmte rationale Verknüpfungen. Es fehlen <lb n="pse_419.012"/>
streng grammatische Bindungen der Sätze, logische Fügungen, <lb n="pse_419.013"/>
auch feine und überlegte Stimmungsübergänge. Alles ist <lb n="pse_419.014"/>
auf die Fügung ausgerichtet.</p>
            <p><lb n="pse_419.015"/>
So erscheint das Lied auch als Kunstwerk von eigenartiger <lb n="pse_419.016"/>
Einheitlichkeit: höchste Kunstvollendung und Schlichtheit verbinden <lb n="pse_419.017"/>
sich: man merkt der Schlichtheit, der Innigkeit, der <lb n="pse_419.018"/>
einheitlichen Stimmung die Gerundetheit und Vollendung <lb n="pse_419.019"/>
der Kunst nicht an, zugleich aber hebt diese Kunstgestalt <lb n="pse_419.020"/>
das Gedicht über jedes Zerfließen in bloßer Stimmung empor.</p>
            <p><lb n="pse_419.021"/>
b) Das Lied in seiner reinen Form kann in vielfacher Weise <lb n="pse_419.022"/>
abgewandelt werden. Alle die Entfaltungsmöglichkeiten <lb n="pse_419.023"/>
weisen zwei Züge auf: sie haben dieselbe Anlage wie das <lb n="pse_419.024"/>
Lied: klare, strenge Strophenform; aber sie sind einen Ton <lb n="pse_419.025"/>
höher gestimmt: feierlicher, mitreißender, erregender, gehobener. <lb n="pse_419.026"/>
Diese Gehobenheit zeigt sich schon im Gehalt: die <lb n="pse_419.027"/>
Weltausschnitte, die hier ergriffen werden, sind so geartet, daß <lb n="pse_419.028"/>
sie die Seele in stärkere Schwingungen versetzen, sie erheben, <lb n="pse_419.029"/>
tiefer erregen. Dem entspricht die künstlerische Gestalt: der <lb n="pse_419.030"/>
Stil ist gehoben, die Strophenform größer und kunstvoller. <lb n="pse_419.031"/>
Solche <hi rendition="#i">Gesänge</hi> schwingen weiter, sind daher länger.</p>
            <p><lb n="pse_419.032"/>
Eine erste Form ist das Gemeinschaftslied. Hier singt nicht <lb n="pse_419.033"/>
mehr das einzelne lyrische Ich in seiner Einsamkeit, eine Gemeinschaft <lb n="pse_419.034"/>
wird angesprochen durch den erregenden Gehalt, <lb n="pse_419.035"/>
und im gemeinsamen Singen fühlt sie sich um so mehr gebunden <lb n="pse_419.036"/>
und in ihrer Gesamtheit höher gehoben. So wirken <lb n="pse_419.037"/>
die Kampflieder, alle vaterländischen Gesänge bis hinauf zu <lb n="pse_419.038"/>
den sogenannten Nationalhymnen, die nicht nur im musikalischen
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[419/0435] pse_419.001 jeder Strophe. Auch diese Wiederkehr derselben Verse schließt pse_419.002 jede Strophe deutlich ab und gibt so dem Ganzen Festigkeit pse_419.003 und Klarheit. Dabei kann der Dichter durch leichte Abänderungen pse_419.004 im Kehrreim neue Möglichkeiten herausholen. Der pse_419.005 Rhythmus, das Metrum bleiben, aber der Wortlaut kann abgewandelt pse_419.006 werden. Gerade solche Umformungen fallen im pse_419.007 gleichen Gebilde, als welches der Kehrreim am Ende jeder pse_419.008 Strophe deutlich heraustritt, besonders auf. Der Dichter pse_419.009 kann so Stimmungsbewegung schaffen, den Fortgang im pse_419.010 Aufbau herausheben. Die Kunstform des Liedes verzichtet pse_419.011 aber auf bestimmte rationale Verknüpfungen. Es fehlen pse_419.012 streng grammatische Bindungen der Sätze, logische Fügungen, pse_419.013 auch feine und überlegte Stimmungsübergänge. Alles ist pse_419.014 auf die Fügung ausgerichtet. pse_419.015 So erscheint das Lied auch als Kunstwerk von eigenartiger pse_419.016 Einheitlichkeit: höchste Kunstvollendung und Schlichtheit verbinden pse_419.017 sich: man merkt der Schlichtheit, der Innigkeit, der pse_419.018 einheitlichen Stimmung die Gerundetheit und Vollendung pse_419.019 der Kunst nicht an, zugleich aber hebt diese Kunstgestalt pse_419.020 das Gedicht über jedes Zerfließen in bloßer Stimmung empor. pse_419.021 b) Das Lied in seiner reinen Form kann in vielfacher Weise pse_419.022 abgewandelt werden. Alle die Entfaltungsmöglichkeiten pse_419.023 weisen zwei Züge auf: sie haben dieselbe Anlage wie das pse_419.024 Lied: klare, strenge Strophenform; aber sie sind einen Ton pse_419.025 höher gestimmt: feierlicher, mitreißender, erregender, gehobener. pse_419.026 Diese Gehobenheit zeigt sich schon im Gehalt: die pse_419.027 Weltausschnitte, die hier ergriffen werden, sind so geartet, daß pse_419.028 sie die Seele in stärkere Schwingungen versetzen, sie erheben, pse_419.029 tiefer erregen. Dem entspricht die künstlerische Gestalt: der pse_419.030 Stil ist gehoben, die Strophenform größer und kunstvoller. pse_419.031 Solche Gesänge schwingen weiter, sind daher länger. pse_419.032 Eine erste Form ist das Gemeinschaftslied. Hier singt nicht pse_419.033 mehr das einzelne lyrische Ich in seiner Einsamkeit, eine Gemeinschaft pse_419.034 wird angesprochen durch den erregenden Gehalt, pse_419.035 und im gemeinsamen Singen fühlt sie sich um so mehr gebunden pse_419.036 und in ihrer Gesamtheit höher gehoben. So wirken pse_419.037 die Kampflieder, alle vaterländischen Gesänge bis hinauf zu pse_419.038 den sogenannten Nationalhymnen, die nicht nur im musikalischen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/435
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/435>, abgerufen am 25.11.2024.