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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Frage der Vertonung eingegangen. Denn viele lyrische Gedichte pse_405.002
regen ja immer wieder dazu an, in Musik gesetzt zu pse_405.003
werden. Dabei muß beachtet werden, daß die Musik von der pse_405.004
Dichtung, von der Sprache überhaupt beeinflußt wird. Reine pse_405.005
Instrumentalmusik wird anders gehört und hat andere Gesetzlichkeiten pse_405.006
als Vokalmusik. Hier muß man die Worte verstehen, pse_405.007
aber trotzdem bleibt die Musik die Hauptsache. Denn pse_405.008
in vertonten Liedern kommt es, wie überhaupt in gesungener pse_405.009
Dichtung -- auch für die Oper gilt das -- nicht zu einer bloß pse_405.010
äußerlichen Summierung der dichterischen und der musikalischen pse_405.011
Wirkung. Zumindest bedeutet solche Summierung pse_405.012
keine Erhöhung des ästhetischen Genusses und Wertes. Eine pse_405.013
innige Verschmelzung tritt ein, in der jede Kunst gleichsam pse_405.014
ihr Opfer bringen muß. Zugleich muß aber eine Kunstgattung pse_405.015
bestimmend bleiben, den Kern bilden und die Gesamtstruktur pse_405.016
bestimmen. Das ist bei allen Vertonungen doch eindeutig pse_405.017
die Musik. Besondere Verhältnisse liegen im Melodrama pse_405.018
und im Rezitativ vor. Damit ergibt sich aber sofort pse_405.019
eine Gefahr für die Sprachkunst. Denn alle Stilwerte eines pse_405.020
Gedichtes können nur dann wirken, wenn sie sich im Rahmen pse_405.021
der reinen Sprachkunst voll und ungehindert entfalten können; pse_405.022
das ist aber bei der Vertonung nicht der Fall. Höchste pse_405.023
Formen der Lyrik: die Ode, die Hymne verlieren ihre dichterische pse_405.024
Kraft, wenn sie in Musik eingetaucht sind. Nur ganz pse_405.025
schlichte Vertonungen wären möglich, solche aber widersprächen pse_405.026
der Stimmung des Gedichts. Daher wünschte pse_405.027
Goethe möglichst einfache Vertonungen. Als Dichter hatte pse_405.028
er völlig recht. Es gibt nur ganz selten den glücklichen Fall, pse_405.029
daß Musik wertvolle Lyrik eher unterstützt. Vielleicht ist pse_405.030
das bei einigen Mörike-Liedern von Hugo Wolf der Fall. pse_405.031
Hier liegt auch die Ursache dafür, daß viele herrliche Lieder pse_405.032
vom rein dichterischen Standpunkt aus wertlos sind.

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In der Lyrik spielt die Aktualisierung der Stilwerte eine besondere pse_405.034
Rolle. Denn gerade hier kommt es drauf an, daß alle pse_405.035
Werte der Worte, der Satzbewegung und vor allem der pse_405.036
Lautung ihre volle Kraft entfalten. Da kann die Kunst des pse_405.037
Dichters Worte wieder zur höchsten Entfaltung bringen. Das pse_405.038
innere Erleben der Welterfassung, also die Seele und der von

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regen ja immer wieder dazu an, in Musik gesetzt zu pse_405.003
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Instrumentalmusik wird anders gehört und hat andere Gesetzlichkeiten pse_405.006
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eine Gefahr für die Sprachkunst. Denn alle Stilwerte eines pse_405.020
Gedichtes können nur dann wirken, wenn sie sich im Rahmen pse_405.021
der reinen Sprachkunst voll und ungehindert entfalten können; pse_405.022
das ist aber bei der Vertonung nicht der Fall. Höchste pse_405.023
Formen der Lyrik: die Ode, die Hymne verlieren ihre dichterische pse_405.024
Kraft, wenn sie in Musik eingetaucht sind. Nur ganz pse_405.025
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der Stimmung des Gedichts. Daher wünschte pse_405.027
Goethe möglichst einfache Vertonungen. Als Dichter hatte pse_405.028
er völlig recht. Es gibt nur ganz selten den glücklichen Fall, pse_405.029
daß Musik wertvolle Lyrik eher unterstützt. Vielleicht ist pse_405.030
das bei einigen Mörike-Liedern von Hugo Wolf der Fall. pse_405.031
Hier liegt auch die Ursache dafür, daß viele herrliche Lieder pse_405.032
vom rein dichterischen Standpunkt aus wertlos sind.

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In der Lyrik spielt die Aktualisierung der Stilwerte eine besondere pse_405.034
Rolle. Denn gerade hier kommt es drauf an, daß alle pse_405.035
Werte der Worte, der Satzbewegung und vor allem der pse_405.036
Lautung ihre volle Kraft entfalten. Da kann die Kunst des pse_405.037
Dichters Worte wieder zur höchsten Entfaltung bringen. Das pse_405.038
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[405/0421] pse_405.001 Frage der Vertonung eingegangen. Denn viele lyrische Gedichte pse_405.002 regen ja immer wieder dazu an, in Musik gesetzt zu pse_405.003 werden. Dabei muß beachtet werden, daß die Musik von der pse_405.004 Dichtung, von der Sprache überhaupt beeinflußt wird. Reine pse_405.005 Instrumentalmusik wird anders gehört und hat andere Gesetzlichkeiten pse_405.006 als Vokalmusik. Hier muß man die Worte verstehen, pse_405.007 aber trotzdem bleibt die Musik die Hauptsache. Denn pse_405.008 in vertonten Liedern kommt es, wie überhaupt in gesungener pse_405.009 Dichtung — auch für die Oper gilt das — nicht zu einer bloß pse_405.010 äußerlichen Summierung der dichterischen und der musikalischen pse_405.011 Wirkung. Zumindest bedeutet solche Summierung pse_405.012 keine Erhöhung des ästhetischen Genusses und Wertes. Eine pse_405.013 innige Verschmelzung tritt ein, in der jede Kunst gleichsam pse_405.014 ihr Opfer bringen muß. Zugleich muß aber eine Kunstgattung pse_405.015 bestimmend bleiben, den Kern bilden und die Gesamtstruktur pse_405.016 bestimmen. Das ist bei allen Vertonungen doch eindeutig pse_405.017 die Musik. Besondere Verhältnisse liegen im Melodrama pse_405.018 und im Rezitativ vor. Damit ergibt sich aber sofort pse_405.019 eine Gefahr für die Sprachkunst. Denn alle Stilwerte eines pse_405.020 Gedichtes können nur dann wirken, wenn sie sich im Rahmen pse_405.021 der reinen Sprachkunst voll und ungehindert entfalten können; pse_405.022 das ist aber bei der Vertonung nicht der Fall. Höchste pse_405.023 Formen der Lyrik: die Ode, die Hymne verlieren ihre dichterische pse_405.024 Kraft, wenn sie in Musik eingetaucht sind. Nur ganz pse_405.025 schlichte Vertonungen wären möglich, solche aber widersprächen pse_405.026 der Stimmung des Gedichts. Daher wünschte pse_405.027 Goethe möglichst einfache Vertonungen. Als Dichter hatte pse_405.028 er völlig recht. Es gibt nur ganz selten den glücklichen Fall, pse_405.029 daß Musik wertvolle Lyrik eher unterstützt. Vielleicht ist pse_405.030 das bei einigen Mörike-Liedern von Hugo Wolf der Fall. pse_405.031 Hier liegt auch die Ursache dafür, daß viele herrliche Lieder pse_405.032 vom rein dichterischen Standpunkt aus wertlos sind. pse_405.033 In der Lyrik spielt die Aktualisierung der Stilwerte eine besondere pse_405.034 Rolle. Denn gerade hier kommt es drauf an, daß alle pse_405.035 Werte der Worte, der Satzbewegung und vor allem der pse_405.036 Lautung ihre volle Kraft entfalten. Da kann die Kunst des pse_405.037 Dichters Worte wieder zur höchsten Entfaltung bringen. Das pse_405.038 innere Erleben der Welterfassung, also die Seele und der von

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/421>, abgerufen am 24.08.2024.