pse_402.001 Die volkstümliche Lyrik im weiten Sinn hat aus ihrem Wesen pse_402.002 heraus immer die Möglichkeit, in einer Gemeinschaft lebendiger pse_402.003 Besitz zu werden. So unterscheiden sich schon die pse_402.004 Sprichwörter von den Epigrammen. Auch auf dem Gebiet pse_402.005 der Epik und Dramatik gibt es volkstümliche Arten: Volksballade, pse_402.006 Volksbuch, Volksstück. Hier allerdings ist mehr an pse_402.007 die Wirkungsmöglichkeit auf breite soziale Schichten gedacht, pse_402.008 im Volkslied im engen Sinn aber an das Singen in einer pse_402.009 Gruppe, die gerade dadurch immer wieder zur Gemeinschaft pse_402.010 wird. Nicht also in der Entstehung aus dem Volk, wie man pse_402.011 romantisch meinte, sondern im Leben im Volk im breitesten pse_402.012 Sinn liegt das Entscheidende. Dazu gehört vor allem ein pse_402.013 Gefühlsgehalt, der alle Menschen sofort anspricht: Liebe, pse_402.014 Abschied, Tod, Frühling, Krieg, Tanz, Erntefest, Weihnachten pse_402.015 usw. Nicht alle Völker und Zeiten sind dem Volkslied pse_402.016 gleich günstig. Besonders lebendig war es vom 13. zum pse_402.017 17. Jahrhundert im deutschen Volk. Diese Gehalte werden pse_402.018 lebendig in ganz bestimmten Kunstformen. So gehört zum pse_402.019 Volkslied immer die Melodie -- ein Volkslied, das nicht gesungen pse_402.020 wird, ist kein echtes --, dann eine verhältnismäßig einfache pse_402.021 Form: meist klar gebaute und gereimte Strophen. Der pse_402.022 Kehrreim ist häufig, und von ihm aus kann es am leichtesten pse_402.023 zu Umformungen kommen: er wird erweitert, umgesungen, pse_402.024 mit anderem Text versehen. Wenn sich diese Umformungen pse_402.025 auf das ganze Lied ausdehnen, kommt es zum sogenannten pse_402.026 Zersingen. Was hat Uhlands "Guter Kamerad" im Lauf verschiedener pse_402.027 Kriege alles an Umformungen und Erweiterungen pse_402.028 über sich ergehen lassen müssen! Das beste Zeichen echter und pse_402.029 lebendiger Volkstümlichkeit. Schlichtheit der Form bedeutet pse_402.030 aber weder Ärmlichkeit noch Kunstlosigkeit. Man hat erkannt, pse_402.031 daß dem Volkslied eine organische Form eignet. Jede pse_402.032 Zeile bildet eine Ganzheit für sich, zwei schließen sich zur pse_402.033 nächsthöheren zusammen, beide Paare zur Strophe, mehrere pse_402.034 Strophen zum Lied; so wachsen Einheiten zu immer pse_402.035 höheren zusammen. Das kann zum Kriterium eines echten pse_402.036 Volkslieds werden. Ein Beispiel aus dem Ambraser Liederbuch pse_402.037 von 1582:
pse_402.001 Die volkstümliche Lyrik im weiten Sinn hat aus ihrem Wesen pse_402.002 heraus immer die Möglichkeit, in einer Gemeinschaft lebendiger pse_402.003 Besitz zu werden. So unterscheiden sich schon die pse_402.004 Sprichwörter von den Epigrammen. Auch auf dem Gebiet pse_402.005 der Epik und Dramatik gibt es volkstümliche Arten: Volksballade, pse_402.006 Volksbuch, Volksstück. Hier allerdings ist mehr an pse_402.007 die Wirkungsmöglichkeit auf breite soziale Schichten gedacht, pse_402.008 im Volkslied im engen Sinn aber an das Singen in einer pse_402.009 Gruppe, die gerade dadurch immer wieder zur Gemeinschaft pse_402.010 wird. Nicht also in der Entstehung aus dem Volk, wie man pse_402.011 romantisch meinte, sondern im Leben im Volk im breitesten pse_402.012 Sinn liegt das Entscheidende. Dazu gehört vor allem ein pse_402.013 Gefühlsgehalt, der alle Menschen sofort anspricht: Liebe, pse_402.014 Abschied, Tod, Frühling, Krieg, Tanz, Erntefest, Weihnachten pse_402.015 usw. Nicht alle Völker und Zeiten sind dem Volkslied pse_402.016 gleich günstig. Besonders lebendig war es vom 13. zum pse_402.017 17. Jahrhundert im deutschen Volk. Diese Gehalte werden pse_402.018 lebendig in ganz bestimmten Kunstformen. So gehört zum pse_402.019 Volkslied immer die Melodie — ein Volkslied, das nicht gesungen pse_402.020 wird, ist kein echtes —, dann eine verhältnismäßig einfache pse_402.021 Form: meist klar gebaute und gereimte Strophen. Der pse_402.022 Kehrreim ist häufig, und von ihm aus kann es am leichtesten pse_402.023 zu Umformungen kommen: er wird erweitert, umgesungen, pse_402.024 mit anderem Text versehen. Wenn sich diese Umformungen pse_402.025 auf das ganze Lied ausdehnen, kommt es zum sogenannten pse_402.026 Zersingen. Was hat Uhlands »Guter Kamerad« im Lauf verschiedener pse_402.027 Kriege alles an Umformungen und Erweiterungen pse_402.028 über sich ergehen lassen müssen! Das beste Zeichen echter und pse_402.029 lebendiger Volkstümlichkeit. Schlichtheit der Form bedeutet pse_402.030 aber weder Ärmlichkeit noch Kunstlosigkeit. Man hat erkannt, pse_402.031 daß dem Volkslied eine organische Form eignet. Jede pse_402.032 Zeile bildet eine Ganzheit für sich, zwei schließen sich zur pse_402.033 nächsthöheren zusammen, beide Paare zur Strophe, mehrere pse_402.034 Strophen zum Lied; so wachsen Einheiten zu immer pse_402.035 höheren zusammen. Das kann zum Kriterium eines echten pse_402.036 Volkslieds werden. Ein Beispiel aus dem Ambraser Liederbuch pse_402.037 von 1582:
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0418"n="402"/><p><lbn="pse_402.001"/>
Die <hirendition="#i">volkstümliche Lyrik</hi> im weiten Sinn hat aus ihrem Wesen <lbn="pse_402.002"/>
heraus immer die Möglichkeit, in einer Gemeinschaft lebendiger <lbn="pse_402.003"/>
Besitz zu werden. So unterscheiden sich schon die <lbn="pse_402.004"/>
Sprichwörter von den Epigrammen. Auch auf dem Gebiet <lbn="pse_402.005"/>
der Epik und Dramatik gibt es volkstümliche Arten: Volksballade, <lbn="pse_402.006"/>
Volksbuch, Volksstück. Hier allerdings ist mehr an <lbn="pse_402.007"/>
die Wirkungsmöglichkeit auf breite soziale Schichten gedacht, <lbn="pse_402.008"/>
im Volkslied im engen Sinn aber an das Singen in einer <lbn="pse_402.009"/>
Gruppe, die gerade dadurch immer wieder zur Gemeinschaft <lbn="pse_402.010"/>
wird. Nicht also in der Entstehung aus dem Volk, wie man <lbn="pse_402.011"/>
romantisch meinte, sondern im Leben im Volk im breitesten <lbn="pse_402.012"/>
Sinn liegt das Entscheidende. Dazu gehört vor allem ein <lbn="pse_402.013"/>
Gefühlsgehalt, der alle Menschen sofort anspricht: Liebe, <lbn="pse_402.014"/>
Abschied, Tod, Frühling, Krieg, Tanz, Erntefest, Weihnachten <lbn="pse_402.015"/>
usw. Nicht alle Völker und Zeiten sind dem Volkslied <lbn="pse_402.016"/>
gleich günstig. Besonders lebendig war es vom 13. zum <lbn="pse_402.017"/>
17. Jahrhundert im deutschen Volk. Diese Gehalte werden <lbn="pse_402.018"/>
lebendig in ganz bestimmten Kunstformen. So gehört zum <lbn="pse_402.019"/>
Volkslied immer die Melodie — ein Volkslied, das nicht gesungen <lbn="pse_402.020"/>
wird, ist kein echtes —, dann eine verhältnismäßig einfache <lbn="pse_402.021"/>
Form: meist klar gebaute und gereimte Strophen. Der <lbn="pse_402.022"/>
Kehrreim ist häufig, und von ihm aus kann es am leichtesten <lbn="pse_402.023"/>
zu Umformungen kommen: er wird erweitert, umgesungen, <lbn="pse_402.024"/>
mit anderem Text versehen. Wenn sich diese Umformungen <lbn="pse_402.025"/>
auf das ganze Lied ausdehnen, kommt es zum sogenannten <lbn="pse_402.026"/>
Zersingen. Was hat Uhlands »Guter Kamerad« im Lauf verschiedener <lbn="pse_402.027"/>
Kriege alles an Umformungen und Erweiterungen <lbn="pse_402.028"/>
über sich ergehen lassen müssen! Das beste Zeichen echter und <lbn="pse_402.029"/>
lebendiger Volkstümlichkeit. Schlichtheit der Form bedeutet <lbn="pse_402.030"/>
aber weder Ärmlichkeit noch Kunstlosigkeit. Man hat erkannt, <lbn="pse_402.031"/>
daß dem Volkslied eine organische Form eignet. Jede <lbn="pse_402.032"/>
Zeile bildet eine Ganzheit für sich, zwei schließen sich zur <lbn="pse_402.033"/>
nächsthöheren zusammen, beide Paare zur Strophe, mehrere <lbn="pse_402.034"/>
Strophen zum Lied; so wachsen Einheiten zu immer <lbn="pse_402.035"/>
höheren zusammen. Das kann zum Kriterium eines echten <lbn="pse_402.036"/>
Volkslieds werden. Ein Beispiel aus dem Ambraser Liederbuch <lbn="pse_402.037"/>
von 1582:</p></div></div></div></body></text></TEI>
[402/0418]
pse_402.001
Die volkstümliche Lyrik im weiten Sinn hat aus ihrem Wesen pse_402.002
heraus immer die Möglichkeit, in einer Gemeinschaft lebendiger pse_402.003
Besitz zu werden. So unterscheiden sich schon die pse_402.004
Sprichwörter von den Epigrammen. Auch auf dem Gebiet pse_402.005
der Epik und Dramatik gibt es volkstümliche Arten: Volksballade, pse_402.006
Volksbuch, Volksstück. Hier allerdings ist mehr an pse_402.007
die Wirkungsmöglichkeit auf breite soziale Schichten gedacht, pse_402.008
im Volkslied im engen Sinn aber an das Singen in einer pse_402.009
Gruppe, die gerade dadurch immer wieder zur Gemeinschaft pse_402.010
wird. Nicht also in der Entstehung aus dem Volk, wie man pse_402.011
romantisch meinte, sondern im Leben im Volk im breitesten pse_402.012
Sinn liegt das Entscheidende. Dazu gehört vor allem ein pse_402.013
Gefühlsgehalt, der alle Menschen sofort anspricht: Liebe, pse_402.014
Abschied, Tod, Frühling, Krieg, Tanz, Erntefest, Weihnachten pse_402.015
usw. Nicht alle Völker und Zeiten sind dem Volkslied pse_402.016
gleich günstig. Besonders lebendig war es vom 13. zum pse_402.017
17. Jahrhundert im deutschen Volk. Diese Gehalte werden pse_402.018
lebendig in ganz bestimmten Kunstformen. So gehört zum pse_402.019
Volkslied immer die Melodie — ein Volkslied, das nicht gesungen pse_402.020
wird, ist kein echtes —, dann eine verhältnismäßig einfache pse_402.021
Form: meist klar gebaute und gereimte Strophen. Der pse_402.022
Kehrreim ist häufig, und von ihm aus kann es am leichtesten pse_402.023
zu Umformungen kommen: er wird erweitert, umgesungen, pse_402.024
mit anderem Text versehen. Wenn sich diese Umformungen pse_402.025
auf das ganze Lied ausdehnen, kommt es zum sogenannten pse_402.026
Zersingen. Was hat Uhlands »Guter Kamerad« im Lauf verschiedener pse_402.027
Kriege alles an Umformungen und Erweiterungen pse_402.028
über sich ergehen lassen müssen! Das beste Zeichen echter und pse_402.029
lebendiger Volkstümlichkeit. Schlichtheit der Form bedeutet pse_402.030
aber weder Ärmlichkeit noch Kunstlosigkeit. Man hat erkannt, pse_402.031
daß dem Volkslied eine organische Form eignet. Jede pse_402.032
Zeile bildet eine Ganzheit für sich, zwei schließen sich zur pse_402.033
nächsthöheren zusammen, beide Paare zur Strophe, mehrere pse_402.034
Strophen zum Lied; so wachsen Einheiten zu immer pse_402.035
höheren zusammen. Das kann zum Kriterium eines echten pse_402.036
Volkslieds werden. Ein Beispiel aus dem Ambraser Liederbuch pse_402.037
von 1582:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/418>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.