Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_364.001
genaue Quellenangaben zu bringen hätte und daß pse_364.002
in den Novellen moralische Lehren eingebaut sein müßten. pse_364.003
Aber äußerlich suchen sie den Vorschriften treu zu bleiben, pse_364.004
sei es aus dem Druck der Konvention oder auch aus ironischer pse_364.005
Einstellung. Die Dichter verwenden häufig den Topos der pse_364.006
Bescheidenheit: sie vermöchten eben nicht so vollkommen pse_364.007
der Theorie gerecht zu werden. Oder sie fingieren Quellen, pse_364.008
oder sie deuten im Titel eine moralische Lehre an, die dann pse_364.009
in der Dichtung kaum eine Rolle spielt. So ergibt sich, daß pse_364.010
im damaligen Zeitraum eine Fülle verschiedenster Erzählformen pse_364.011
lebt, die sich stark voneinander unterscheiden und pse_364.012
wenig gemeinsame technische Mittel haben. Durch diese Tatsachen pse_364.013
wurde man verleitet zu behaupten, es gebe keine Gattungsgesetze pse_364.014
und keine Urform der Novelle. Dem widerspricht pse_364.015
schon die Tatsache, daß sich die Dichter in irgendeiner pse_364.016
Weise mit diesen Vorschriften auseinandersetzen. Auch fällt pse_364.017
es auf, wenn man behauptet: La Fontaines "Contes" entsprechen pse_364.018
in keiner Weise den Gesetzen der "Form Novelle", pse_364.019
"trotzdem wird sich kein Einsichtiger weigern, die Contes et pse_364.020
Nouvelles zur Novellistik und zum Schönsten der Novellistik pse_364.021
in der Weltliteratur zu rechnen" (Pabst). Es muß also pse_364.022
auch solchen Forschern etwas Gemeinsames aufgehen, das sie pse_364.023
berechtigt, bestimmte Erzählungen unter dem Namen Novellistik pse_364.024
zusammenzufassen. Hier sind wir an einem entscheidenden pse_364.025
Punkt der Poetik der Dichtungsgattungen. Zwei Tatsachenbereiche pse_364.026
sind herauszuheben. 1. Es gibt Theorien einzelner pse_364.027
Dichtungsarten, die sich geradezu zu immer strengeren pse_364.028
und ausführlicheren Vorschriften für solche Dichtungen auswachsen. pse_364.029
Das hat geistesgeschichtliche Ursachen, die in geschichtlichen pse_364.030
Lagen, in bestimmten Welt- und Kunstanschauungen pse_364.031
begründet sind. Solche Theorien werden von mittelmäßigen pse_364.032
Dichtern befolgt; die Mittelmäßigkeit ihrer Erzeugnisse pse_364.033
dürfte aber eher in der Mittelmäßigkeit des schöpferischen pse_364.034
Geistes als in den Theorien und der Tatsache ihrer pse_364.035
Befolgung liegen. Große Dichter formen Großes, auch wenn pse_364.036
sie sich danach richten (Racines Tragödien), sie befolgen die pse_364.037
Regeln oft nur äußerlich, wachsen aber innerlich darüber pse_364.038
hinaus, wie Boccaccio und Cervantes in ihren Novellen, oder

pse_364.001
genaue Quellenangaben zu bringen hätte und daß pse_364.002
in den Novellen moralische Lehren eingebaut sein müßten. pse_364.003
Aber äußerlich suchen sie den Vorschriften treu zu bleiben, pse_364.004
sei es aus dem Druck der Konvention oder auch aus ironischer pse_364.005
Einstellung. Die Dichter verwenden häufig den Topos der pse_364.006
Bescheidenheit: sie vermöchten eben nicht so vollkommen pse_364.007
der Theorie gerecht zu werden. Oder sie fingieren Quellen, pse_364.008
oder sie deuten im Titel eine moralische Lehre an, die dann pse_364.009
in der Dichtung kaum eine Rolle spielt. So ergibt sich, daß pse_364.010
im damaligen Zeitraum eine Fülle verschiedenster Erzählformen pse_364.011
lebt, die sich stark voneinander unterscheiden und pse_364.012
wenig gemeinsame technische Mittel haben. Durch diese Tatsachen pse_364.013
wurde man verleitet zu behaupten, es gebe keine Gattungsgesetze pse_364.014
und keine Urform der Novelle. Dem widerspricht pse_364.015
schon die Tatsache, daß sich die Dichter in irgendeiner pse_364.016
Weise mit diesen Vorschriften auseinandersetzen. Auch fällt pse_364.017
es auf, wenn man behauptet: La Fontaines »Contes« entsprechen pse_364.018
in keiner Weise den Gesetzen der »Form Novelle«, pse_364.019
»trotzdem wird sich kein Einsichtiger weigern, die Contes et pse_364.020
Nouvelles zur Novellistik und zum Schönsten der Novellistik pse_364.021
in der Weltliteratur zu rechnen« (Pabst). Es muß also pse_364.022
auch solchen Forschern etwas Gemeinsames aufgehen, das sie pse_364.023
berechtigt, bestimmte Erzählungen unter dem Namen Novellistik pse_364.024
zusammenzufassen. Hier sind wir an einem entscheidenden pse_364.025
Punkt der Poetik der Dichtungsgattungen. Zwei Tatsachenbereiche pse_364.026
sind herauszuheben. 1. Es gibt Theorien einzelner pse_364.027
Dichtungsarten, die sich geradezu zu immer strengeren pse_364.028
und ausführlicheren Vorschriften für solche Dichtungen auswachsen. pse_364.029
Das hat geistesgeschichtliche Ursachen, die in geschichtlichen pse_364.030
Lagen, in bestimmten Welt- und Kunstanschauungen pse_364.031
begründet sind. Solche Theorien werden von mittelmäßigen pse_364.032
Dichtern befolgt; die Mittelmäßigkeit ihrer Erzeugnisse pse_364.033
dürfte aber eher in der Mittelmäßigkeit des schöpferischen pse_364.034
Geistes als in den Theorien und der Tatsache ihrer pse_364.035
Befolgung liegen. Große Dichter formen Großes, auch wenn pse_364.036
sie sich danach richten (Racines Tragödien), sie befolgen die pse_364.037
Regeln oft nur äußerlich, wachsen aber innerlich darüber pse_364.038
hinaus, wie Boccaccio und Cervantes in ihren Novellen, oder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0380" n="364"/><lb n="pse_364.001"/>
genaue Quellenangaben zu bringen hätte und daß <lb n="pse_364.002"/>
in den Novellen moralische Lehren eingebaut sein müßten. <lb n="pse_364.003"/>
Aber äußerlich suchen sie den Vorschriften treu zu bleiben, <lb n="pse_364.004"/>
sei es aus dem Druck der Konvention oder auch aus ironischer <lb n="pse_364.005"/>
Einstellung. Die Dichter verwenden häufig den Topos der <lb n="pse_364.006"/>
Bescheidenheit: sie vermöchten eben nicht so vollkommen <lb n="pse_364.007"/>
der Theorie gerecht zu werden. Oder sie fingieren Quellen, <lb n="pse_364.008"/>
oder sie deuten im Titel eine moralische Lehre an, die dann <lb n="pse_364.009"/>
in der Dichtung kaum eine Rolle spielt. So ergibt sich, daß <lb n="pse_364.010"/>
im damaligen Zeitraum eine Fülle verschiedenster Erzählformen <lb n="pse_364.011"/>
lebt, die sich stark voneinander unterscheiden und <lb n="pse_364.012"/>
wenig gemeinsame technische Mittel haben. Durch diese Tatsachen <lb n="pse_364.013"/>
wurde man verleitet zu behaupten, es gebe keine Gattungsgesetze <lb n="pse_364.014"/>
und keine Urform der Novelle. Dem widerspricht <lb n="pse_364.015"/>
schon die Tatsache, daß sich die Dichter in irgendeiner <lb n="pse_364.016"/>
Weise mit diesen Vorschriften auseinandersetzen. Auch fällt <lb n="pse_364.017"/>
es auf, wenn man behauptet: La Fontaines »Contes« entsprechen <lb n="pse_364.018"/>
in keiner Weise den Gesetzen der »Form Novelle«, <lb n="pse_364.019"/>
»trotzdem wird sich kein Einsichtiger weigern, die Contes et <lb n="pse_364.020"/>
Nouvelles zur Novellistik und zum Schönsten der Novellistik <lb n="pse_364.021"/>
in der Weltliteratur zu rechnen« (Pabst). Es muß also <lb n="pse_364.022"/>
auch solchen Forschern etwas Gemeinsames aufgehen, das sie <lb n="pse_364.023"/>
berechtigt, bestimmte Erzählungen unter dem Namen Novellistik <lb n="pse_364.024"/>
zusammenzufassen. Hier sind wir an einem entscheidenden <lb n="pse_364.025"/>
Punkt der Poetik der Dichtungsgattungen. Zwei Tatsachenbereiche <lb n="pse_364.026"/>
sind herauszuheben. 1. Es gibt Theorien einzelner <lb n="pse_364.027"/>
Dichtungsarten, die sich geradezu zu immer strengeren <lb n="pse_364.028"/>
und ausführlicheren Vorschriften für solche Dichtungen auswachsen. <lb n="pse_364.029"/>
Das hat geistesgeschichtliche Ursachen, die in geschichtlichen <lb n="pse_364.030"/>
Lagen, in bestimmten Welt- und Kunstanschauungen <lb n="pse_364.031"/>
begründet sind. Solche Theorien werden von mittelmäßigen <lb n="pse_364.032"/>
Dichtern befolgt; die Mittelmäßigkeit ihrer Erzeugnisse <lb n="pse_364.033"/>
dürfte aber eher in der Mittelmäßigkeit des schöpferischen <lb n="pse_364.034"/>
Geistes als in den Theorien und der Tatsache ihrer <lb n="pse_364.035"/>
Befolgung liegen. Große Dichter formen Großes, auch wenn <lb n="pse_364.036"/>
sie sich danach richten (Racines Tragödien), sie befolgen die <lb n="pse_364.037"/>
Regeln oft nur äußerlich, wachsen aber innerlich darüber <lb n="pse_364.038"/>
hinaus, wie Boccaccio und Cervantes in ihren Novellen, oder
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[364/0380] pse_364.001 genaue Quellenangaben zu bringen hätte und daß pse_364.002 in den Novellen moralische Lehren eingebaut sein müßten. pse_364.003 Aber äußerlich suchen sie den Vorschriften treu zu bleiben, pse_364.004 sei es aus dem Druck der Konvention oder auch aus ironischer pse_364.005 Einstellung. Die Dichter verwenden häufig den Topos der pse_364.006 Bescheidenheit: sie vermöchten eben nicht so vollkommen pse_364.007 der Theorie gerecht zu werden. Oder sie fingieren Quellen, pse_364.008 oder sie deuten im Titel eine moralische Lehre an, die dann pse_364.009 in der Dichtung kaum eine Rolle spielt. So ergibt sich, daß pse_364.010 im damaligen Zeitraum eine Fülle verschiedenster Erzählformen pse_364.011 lebt, die sich stark voneinander unterscheiden und pse_364.012 wenig gemeinsame technische Mittel haben. Durch diese Tatsachen pse_364.013 wurde man verleitet zu behaupten, es gebe keine Gattungsgesetze pse_364.014 und keine Urform der Novelle. Dem widerspricht pse_364.015 schon die Tatsache, daß sich die Dichter in irgendeiner pse_364.016 Weise mit diesen Vorschriften auseinandersetzen. Auch fällt pse_364.017 es auf, wenn man behauptet: La Fontaines »Contes« entsprechen pse_364.018 in keiner Weise den Gesetzen der »Form Novelle«, pse_364.019 »trotzdem wird sich kein Einsichtiger weigern, die Contes et pse_364.020 Nouvelles zur Novellistik und zum Schönsten der Novellistik pse_364.021 in der Weltliteratur zu rechnen« (Pabst). Es muß also pse_364.022 auch solchen Forschern etwas Gemeinsames aufgehen, das sie pse_364.023 berechtigt, bestimmte Erzählungen unter dem Namen Novellistik pse_364.024 zusammenzufassen. Hier sind wir an einem entscheidenden pse_364.025 Punkt der Poetik der Dichtungsgattungen. Zwei Tatsachenbereiche pse_364.026 sind herauszuheben. 1. Es gibt Theorien einzelner pse_364.027 Dichtungsarten, die sich geradezu zu immer strengeren pse_364.028 und ausführlicheren Vorschriften für solche Dichtungen auswachsen. pse_364.029 Das hat geistesgeschichtliche Ursachen, die in geschichtlichen pse_364.030 Lagen, in bestimmten Welt- und Kunstanschauungen pse_364.031 begründet sind. Solche Theorien werden von mittelmäßigen pse_364.032 Dichtern befolgt; die Mittelmäßigkeit ihrer Erzeugnisse pse_364.033 dürfte aber eher in der Mittelmäßigkeit des schöpferischen pse_364.034 Geistes als in den Theorien und der Tatsache ihrer pse_364.035 Befolgung liegen. Große Dichter formen Großes, auch wenn pse_364.036 sie sich danach richten (Racines Tragödien), sie befolgen die pse_364.037 Regeln oft nur äußerlich, wachsen aber innerlich darüber pse_364.038 hinaus, wie Boccaccio und Cervantes in ihren Novellen, oder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/380
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/380>, abgerufen am 25.11.2024.