pse_022.004 Um einen Einblick in das Wesen der Sprache zu bekommen, pse_022.005 darf man nicht von der Meinung ausgehen, die Sprache sei vor pse_022.006 allem ein Mittel der Verständigung. Wir besinnen uns einen pse_022.007 Augenblick auf die Leistung des Wortes. Es ist eine eigenartige pse_022.008 Beobachtung: man merkt sich die Form eines Berges, den pse_022.009 man einmal gesehen hat, wenn man seinen Namen im Gedächtnis pse_022.010 behält. Sonst verschwimmt uns das Bild des Berges. pse_022.011 Das heranwachsende Kind lernt die Dinge kennen, behalten pse_022.012 und unterscheiden, indem es ihnen entweder übernommene pse_022.013 oder selbst gebildete Namen gibt. Wenn wir in der Dämmerung pse_022.014 einen zunächst undeutlichen Gegenstand gewahren und pse_022.015 ihn dann erkennen, so sprechen wir -- wenn vielleicht auch pse_022.016 nur innerlich -- bei dieser Erkennung seinen Namen aus. Wir pse_022.017 verallgemeinern: mit dem Wort heben wir aus dem Strom pse_022.018 der Erfahrungen bestimmte uns im Augenblick wichtige pse_022.019 Teile heraus und machen sie durch die Benennung zu "Gegenständen". pse_022.020 Im Wort bewahren wir die so erfaßten Gegenstände pse_022.021 auf, und im Wort stehen sie uns geistig für später pse_022.022 jederzeit zur Verfügung. Das Wort umgrenzt also Erfahrungsstücke, pse_022.023 bewahrt vor Verschwommenheit der Erfassung, pse_022.024 macht diese Stücke zu Gegenständen und hebt sie in Dauerprägung pse_022.025 für jederzeitige spätere Verfügung aus dem vorbeifließenden pse_022.026 Strom heraus. Auf den gesamten Wortschatz pse_022.027 einer Sprachgemeinschaft hin betrachtet, heißt das: wir halten pse_022.028 die Gesamtheit der Erfahrungen in einer Fülle von Gegenständen pse_022.029 fest, im Wortschatz stehen uns die Gegenstände pse_022.030 unserer Welt jederzeit zur Verfügung. Wir erzeugen uns so pse_022.031 die Glieder einer geistigen Welt, ohne die wir die wirkliche pse_022.032 nie bewältigen könnten. Die Zusammenhänge zwischen pse_022.033 diesen Gegenständen und ihren Aufbau zur Gesamtheit
pse_022.001 II pse_022.002 DICHTUNG UND SPRACHE
pse_022.003 Sprache und Sprachwerke
pse_022.004 Um einen Einblick in das Wesen der Sprache zu bekommen, pse_022.005 darf man nicht von der Meinung ausgehen, die Sprache sei vor pse_022.006 allem ein Mittel der Verständigung. Wir besinnen uns einen pse_022.007 Augenblick auf die Leistung des Wortes. Es ist eine eigenartige pse_022.008 Beobachtung: man merkt sich die Form eines Berges, den pse_022.009 man einmal gesehen hat, wenn man seinen Namen im Gedächtnis pse_022.010 behält. Sonst verschwimmt uns das Bild des Berges. pse_022.011 Das heranwachsende Kind lernt die Dinge kennen, behalten pse_022.012 und unterscheiden, indem es ihnen entweder übernommene pse_022.013 oder selbst gebildete Namen gibt. Wenn wir in der Dämmerung pse_022.014 einen zunächst undeutlichen Gegenstand gewahren und pse_022.015 ihn dann erkennen, so sprechen wir — wenn vielleicht auch pse_022.016 nur innerlich — bei dieser Erkennung seinen Namen aus. Wir pse_022.017 verallgemeinern: mit dem Wort heben wir aus dem Strom pse_022.018 der Erfahrungen bestimmte uns im Augenblick wichtige pse_022.019 Teile heraus und machen sie durch die Benennung zu »Gegenständen«. pse_022.020 Im Wort bewahren wir die so erfaßten Gegenstände pse_022.021 auf, und im Wort stehen sie uns geistig für später pse_022.022 jederzeit zur Verfügung. Das Wort umgrenzt also Erfahrungsstücke, pse_022.023 bewahrt vor Verschwommenheit der Erfassung, pse_022.024 macht diese Stücke zu Gegenständen und hebt sie in Dauerprägung pse_022.025 für jederzeitige spätere Verfügung aus dem vorbeifließenden pse_022.026 Strom heraus. Auf den gesamten Wortschatz pse_022.027 einer Sprachgemeinschaft hin betrachtet, heißt das: wir halten pse_022.028 die Gesamtheit der Erfahrungen in einer Fülle von Gegenständen pse_022.029 fest, im Wortschatz stehen uns die Gegenstände pse_022.030 unserer Welt jederzeit zur Verfügung. Wir erzeugen uns so pse_022.031 die Glieder einer geistigen Welt, ohne die wir die wirkliche pse_022.032 nie bewältigen könnten. Die Zusammenhänge zwischen pse_022.033 diesen Gegenständen und ihren Aufbau zur Gesamtheit
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[E22/0038]
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behält. Sonst verschwimmt uns das Bild des Berges. pse_022.011
Das heranwachsende Kind lernt die Dinge kennen, behalten pse_022.012
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oder selbst gebildete Namen gibt. Wenn wir in der Dämmerung pse_022.014
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ihn dann erkennen, so sprechen wir — wenn vielleicht auch pse_022.016
nur innerlich — bei dieser Erkennung seinen Namen aus. Wir pse_022.017
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Teile heraus und machen sie durch die Benennung zu »Gegenständen«. pse_022.020
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die Glieder einer geistigen Welt, ohne die wir die wirkliche pse_022.032
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diesen Gegenständen und ihren Aufbau zur Gesamtheit
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Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/38>, abgerufen am 27.11.2024.
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