Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_015.001
Werkzeug, als Verkaufsgegenstand, um einem anderen zu pse_015.002
helfen usw. Das andere ist die rationale oder theoretische pse_015.003
Erfassung. Hier abstrahieren wir von allem Einmaligen und pse_015.004
Zufälligen, subsumieren ihn einem Begriff (z. B. die Landschaft pse_015.005
ist eine typische Kalklandschaft), indem wir von allem pse_015.006
absehen, was für diese Unterordnung überflüssig ist (Abstraktion), pse_015.007
und fügen ihn damit in eine begriffliche Ordnung pse_015.008
ein: er ist nun in einem von unserem Denken errichteten Zusammenhang pse_015.009
fest eingeordnet und ergänzt und bereichert pse_015.010
diesen rationalen Zusammenhang. Ganz anders ist folgende pse_015.011
Erfassung: wir lösen einen Gegenstand -- einen Berg, einen pse_015.012
Wasserfall, einen Menschen -- gleichsam von seiner Umgebung pse_015.013
heraus als ein Gebilde für sich, als ein Bild. Und wir pse_015.014
versenken uns schauend in dieses Gebilde. Wir denken nicht pse_015.015
mehr an seine Brauchbarkeit, wir abstrahieren es nicht mehr pse_015.016
auf einen Begriff, sondern erfassen es in seiner Fülle, im Zusammenklang pse_015.017
der Einzelheiten, in den möglichen Spannungen pse_015.018
und Widersprüchen, die sich uns zeigen. Dabei kommen pse_015.019
auch wir diesem Gegenstand nicht mehr als praktische oder pse_015.020
als rationale Wesen in dieser Schau entgegen, sondern öffnen pse_015.021
ihm unser ganzes Innere im Reichtum seelischer Haltungen pse_015.022
und Vorgänge. Es ist kein Zweifel: diese Art des Erfassens pse_015.023
ist ganz verschieden von den früher gekennzeichneten. Wir pse_015.024
nennen sie ästhetisch und geben damit dem Wort -- im Zusammenhang pse_015.025
mit anderen heutigen Forschern -- bewußt pse_015.026
seinen inneren Wert wieder zurück, den es vielfach aus verschiedenen pse_015.027
Gründen verloren hat. So entsteht also in dieser pse_015.028
besonderen Erfassungsweise ein ganz deutlich charakterisierbarer pse_015.029
Gegenstand, der ästhetische Gegenstand. Es ist ein in pse_015.030
sich selbst ruhendes, abgeschlossenes Gebilde von intensiver pse_015.031
Wirkung, weil eben andere Zusammenhänge ausgeschaltet pse_015.032
bleiben. Wir erleben, daß in diesem Gebilde etwas Tieferes pse_015.033
sich ahnen lasse, lebendig werde. Jedes Erfassen eines Gegenstandes pse_015.034
kann auch aus einer besonderen Gestimmtheit erwachsen, pse_015.035
der innerste Wesenskern des Menschen kann da pse_015.036
wirksam werden, das Gemüt des Menschen kann mitsprechen. pse_015.037
Aber viele Erfassungsakte können im alltäglichen Leben pse_015.038
dieses Mitschwingen des Innersten gleichsam ausschalten, es

pse_015.001
Werkzeug, als Verkaufsgegenstand, um einem anderen zu pse_015.002
helfen usw. Das andere ist die rationale oder theoretische pse_015.003
Erfassung. Hier abstrahieren wir von allem Einmaligen und pse_015.004
Zufälligen, subsumieren ihn einem Begriff (z. B. die Landschaft pse_015.005
ist eine typische Kalklandschaft), indem wir von allem pse_015.006
absehen, was für diese Unterordnung überflüssig ist (Abstraktion), pse_015.007
und fügen ihn damit in eine begriffliche Ordnung pse_015.008
ein: er ist nun in einem von unserem Denken errichteten Zusammenhang pse_015.009
fest eingeordnet und ergänzt und bereichert pse_015.010
diesen rationalen Zusammenhang. Ganz anders ist folgende pse_015.011
Erfassung: wir lösen einen Gegenstand — einen Berg, einen pse_015.012
Wasserfall, einen Menschen — gleichsam von seiner Umgebung pse_015.013
heraus als ein Gebilde für sich, als ein Bild. Und wir pse_015.014
versenken uns schauend in dieses Gebilde. Wir denken nicht pse_015.015
mehr an seine Brauchbarkeit, wir abstrahieren es nicht mehr pse_015.016
auf einen Begriff, sondern erfassen es in seiner Fülle, im Zusammenklang pse_015.017
der Einzelheiten, in den möglichen Spannungen pse_015.018
und Widersprüchen, die sich uns zeigen. Dabei kommen pse_015.019
auch wir diesem Gegenstand nicht mehr als praktische oder pse_015.020
als rationale Wesen in dieser Schau entgegen, sondern öffnen pse_015.021
ihm unser ganzes Innere im Reichtum seelischer Haltungen pse_015.022
und Vorgänge. Es ist kein Zweifel: diese Art des Erfassens pse_015.023
ist ganz verschieden von den früher gekennzeichneten. Wir pse_015.024
nennen sie ästhetisch und geben damit dem Wort — im Zusammenhang pse_015.025
mit anderen heutigen Forschern — bewußt pse_015.026
seinen inneren Wert wieder zurück, den es vielfach aus verschiedenen pse_015.027
Gründen verloren hat. So entsteht also in dieser pse_015.028
besonderen Erfassungsweise ein ganz deutlich charakterisierbarer pse_015.029
Gegenstand, der ästhetische Gegenstand. Es ist ein in pse_015.030
sich selbst ruhendes, abgeschlossenes Gebilde von intensiver pse_015.031
Wirkung, weil eben andere Zusammenhänge ausgeschaltet pse_015.032
bleiben. Wir erleben, daß in diesem Gebilde etwas Tieferes pse_015.033
sich ahnen lasse, lebendig werde. Jedes Erfassen eines Gegenstandes pse_015.034
kann auch aus einer besonderen Gestimmtheit erwachsen, pse_015.035
der innerste Wesenskern des Menschen kann da pse_015.036
wirksam werden, das Gemüt des Menschen kann mitsprechen. pse_015.037
Aber viele Erfassungsakte können im alltäglichen Leben pse_015.038
dieses Mitschwingen des Innersten gleichsam ausschalten, es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0031" n="15"/><lb n="pse_015.001"/>
Werkzeug, als Verkaufsgegenstand, um einem anderen zu <lb n="pse_015.002"/>
helfen usw. Das andere ist die rationale oder theoretische <lb n="pse_015.003"/>
Erfassung. Hier abstrahieren wir von allem Einmaligen und <lb n="pse_015.004"/>
Zufälligen, subsumieren ihn einem Begriff (z. B. die Landschaft <lb n="pse_015.005"/>
ist eine typische Kalklandschaft), indem wir von allem <lb n="pse_015.006"/>
absehen, was für diese Unterordnung überflüssig ist (Abstraktion), <lb n="pse_015.007"/>
und fügen ihn damit in eine begriffliche Ordnung <lb n="pse_015.008"/>
ein: er ist nun in einem von unserem Denken errichteten Zusammenhang <lb n="pse_015.009"/>
fest eingeordnet und ergänzt und bereichert <lb n="pse_015.010"/>
diesen rationalen Zusammenhang. Ganz anders ist folgende <lb n="pse_015.011"/>
Erfassung: wir lösen einen Gegenstand &#x2014; einen Berg, einen <lb n="pse_015.012"/>
Wasserfall, einen Menschen &#x2014; gleichsam von seiner Umgebung <lb n="pse_015.013"/>
heraus als ein Gebilde für sich, als ein Bild. Und wir <lb n="pse_015.014"/>
versenken uns schauend in dieses Gebilde. Wir denken nicht <lb n="pse_015.015"/>
mehr an seine Brauchbarkeit, wir abstrahieren es nicht mehr <lb n="pse_015.016"/>
auf einen Begriff, sondern erfassen es in seiner Fülle, im Zusammenklang <lb n="pse_015.017"/>
der Einzelheiten, in den möglichen Spannungen <lb n="pse_015.018"/>
und Widersprüchen, die sich uns zeigen. Dabei kommen <lb n="pse_015.019"/>
auch wir diesem Gegenstand nicht mehr als praktische oder <lb n="pse_015.020"/>
als rationale Wesen in dieser Schau entgegen, sondern öffnen <lb n="pse_015.021"/>
ihm unser ganzes Innere im Reichtum seelischer Haltungen <lb n="pse_015.022"/>
und Vorgänge. Es ist kein Zweifel: diese Art des Erfassens <lb n="pse_015.023"/>
ist ganz verschieden von den früher gekennzeichneten. Wir <lb n="pse_015.024"/>
nennen sie ästhetisch und geben damit dem Wort &#x2014; im Zusammenhang <lb n="pse_015.025"/>
mit anderen heutigen Forschern &#x2014; bewußt <lb n="pse_015.026"/>
seinen inneren Wert wieder zurück, den es vielfach aus verschiedenen <lb n="pse_015.027"/>
Gründen verloren hat. So entsteht also in dieser <lb n="pse_015.028"/>
besonderen Erfassungsweise ein ganz deutlich charakterisierbarer <lb n="pse_015.029"/>
Gegenstand, der ästhetische Gegenstand. Es ist ein in <lb n="pse_015.030"/>
sich selbst ruhendes, abgeschlossenes Gebilde von intensiver <lb n="pse_015.031"/>
Wirkung, weil eben andere Zusammenhänge ausgeschaltet <lb n="pse_015.032"/>
bleiben. Wir erleben, daß in diesem Gebilde etwas Tieferes <lb n="pse_015.033"/>
sich ahnen lasse, lebendig werde. Jedes Erfassen eines Gegenstandes <lb n="pse_015.034"/>
kann auch aus einer besonderen Gestimmtheit erwachsen, <lb n="pse_015.035"/>
der innerste Wesenskern des Menschen kann da <lb n="pse_015.036"/>
wirksam werden, das Gemüt des Menschen kann mitsprechen. <lb n="pse_015.037"/>
Aber viele Erfassungsakte können im alltäglichen Leben <lb n="pse_015.038"/>
dieses Mitschwingen des Innersten gleichsam ausschalten, es
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0031] pse_015.001 Werkzeug, als Verkaufsgegenstand, um einem anderen zu pse_015.002 helfen usw. Das andere ist die rationale oder theoretische pse_015.003 Erfassung. Hier abstrahieren wir von allem Einmaligen und pse_015.004 Zufälligen, subsumieren ihn einem Begriff (z. B. die Landschaft pse_015.005 ist eine typische Kalklandschaft), indem wir von allem pse_015.006 absehen, was für diese Unterordnung überflüssig ist (Abstraktion), pse_015.007 und fügen ihn damit in eine begriffliche Ordnung pse_015.008 ein: er ist nun in einem von unserem Denken errichteten Zusammenhang pse_015.009 fest eingeordnet und ergänzt und bereichert pse_015.010 diesen rationalen Zusammenhang. Ganz anders ist folgende pse_015.011 Erfassung: wir lösen einen Gegenstand — einen Berg, einen pse_015.012 Wasserfall, einen Menschen — gleichsam von seiner Umgebung pse_015.013 heraus als ein Gebilde für sich, als ein Bild. Und wir pse_015.014 versenken uns schauend in dieses Gebilde. Wir denken nicht pse_015.015 mehr an seine Brauchbarkeit, wir abstrahieren es nicht mehr pse_015.016 auf einen Begriff, sondern erfassen es in seiner Fülle, im Zusammenklang pse_015.017 der Einzelheiten, in den möglichen Spannungen pse_015.018 und Widersprüchen, die sich uns zeigen. Dabei kommen pse_015.019 auch wir diesem Gegenstand nicht mehr als praktische oder pse_015.020 als rationale Wesen in dieser Schau entgegen, sondern öffnen pse_015.021 ihm unser ganzes Innere im Reichtum seelischer Haltungen pse_015.022 und Vorgänge. Es ist kein Zweifel: diese Art des Erfassens pse_015.023 ist ganz verschieden von den früher gekennzeichneten. Wir pse_015.024 nennen sie ästhetisch und geben damit dem Wort — im Zusammenhang pse_015.025 mit anderen heutigen Forschern — bewußt pse_015.026 seinen inneren Wert wieder zurück, den es vielfach aus verschiedenen pse_015.027 Gründen verloren hat. So entsteht also in dieser pse_015.028 besonderen Erfassungsweise ein ganz deutlich charakterisierbarer pse_015.029 Gegenstand, der ästhetische Gegenstand. Es ist ein in pse_015.030 sich selbst ruhendes, abgeschlossenes Gebilde von intensiver pse_015.031 Wirkung, weil eben andere Zusammenhänge ausgeschaltet pse_015.032 bleiben. Wir erleben, daß in diesem Gebilde etwas Tieferes pse_015.033 sich ahnen lasse, lebendig werde. Jedes Erfassen eines Gegenstandes pse_015.034 kann auch aus einer besonderen Gestimmtheit erwachsen, pse_015.035 der innerste Wesenskern des Menschen kann da pse_015.036 wirksam werden, das Gemüt des Menschen kann mitsprechen. pse_015.037 Aber viele Erfassungsakte können im alltäglichen Leben pse_015.038 dieses Mitschwingen des Innersten gleichsam ausschalten, es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/31
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/31>, abgerufen am 23.11.2024.