pse_256.004 Wir betrachten nun das dichterische Werk in seinem Aufbau, pse_256.005 in seiner Gesamtheit. Dabei ist es gut, die beiden Ausdrücke pse_256.006 Ganzheit und Einheit auseinanderzuhalten. Ganzheitpse_256.007 meint die Gesamtheit des ganzen Gefüges an Gliedern, ihre pse_256.008 Zusammenordnung, auch im kleinsten Gedicht, ohne Rücksicht pse_256.009 darauf, ob dabei künstlerische oder gehaltliche Geschlossenheit pse_256.010 im höchsten Sinn erreicht wird. Einheit betont vor pse_256.011 allem diese Geschlossenheit der Form oder auch des Ideengehalts; pse_256.012 sie zu sehr zu betonen, hieße, das dichterische Werk pse_256.013 zu sehr in eine Richtung festzulegen, es durch die Betrachtung pse_256.014 von nur einer Seite her zu verärmlichen. Es könnte auch pse_256.015 heißen, daß Einheit dem Reichtum hinderlich ist.
pse_256.016 Die Ganzheit einer Dichtung ist ein ästhetisches Gebilde.pse_256.017 Das bedeutet zunächst Reichtum an Einzelheiten, Fülle des pse_256.018 im Bilde eingefangenen Lebens; dazu treten aber sofort zwei pse_256.019 weitere wichtige Merkmale: diese Fülle der Glieder ist nicht pse_256.020 zusammenhanglos, wenn es auch manchmal so scheinen pse_256.021 möchte: sie hat einen inneren Bezugspunkt, auf den diese pse_256.022 Glieder ausgerichtet sind, sie erwächst aus einem Innersten, pse_256.023 aus einer tiefen menschlichen Haltung, von der aus sie ihren pse_256.024 Sinn und Zusammenhang bekommen. Und dann weist diese pse_256.025 gestaltete Fülle auf etwas Tieferes hin, was durch sie erfaßbar pse_256.026 wird. So ist also die Gesamtheit aller Elemente, die ein Gedicht pse_256.027 aufbauen, nach zwei Richtungen zur Ganzheit geschlossen: pse_256.028 durch den Ausgangspunkt in einer schöpferischen Urhaltung pse_256.029 und durch den tieferen Sinn, auf den sie hinweisen.
pse_256.030 Um theoretisch die Anlage einer Dichtung betrachten zu pse_256.031 können, unterscheiden wir Aufbaukräfte und Aufbauglieder. pse_256.032 Aufbaukräfte sind jene Bereiche, Elemente, Seiten an einer pse_256.033 Dichtung, aus denen heraus ein Aufbau gestaltet werden kann.
pse_256.001 III pse_256.002 GANZHEIT UND EINHEIT
pse_256.003 Einführung
pse_256.004 Wir betrachten nun das dichterische Werk in seinem Aufbau, pse_256.005 in seiner Gesamtheit. Dabei ist es gut, die beiden Ausdrücke pse_256.006 Ganzheit und Einheit auseinanderzuhalten. Ganzheitpse_256.007 meint die Gesamtheit des ganzen Gefüges an Gliedern, ihre pse_256.008 Zusammenordnung, auch im kleinsten Gedicht, ohne Rücksicht pse_256.009 darauf, ob dabei künstlerische oder gehaltliche Geschlossenheit pse_256.010 im höchsten Sinn erreicht wird. Einheit betont vor pse_256.011 allem diese Geschlossenheit der Form oder auch des Ideengehalts; pse_256.012 sie zu sehr zu betonen, hieße, das dichterische Werk pse_256.013 zu sehr in eine Richtung festzulegen, es durch die Betrachtung pse_256.014 von nur einer Seite her zu verärmlichen. Es könnte auch pse_256.015 heißen, daß Einheit dem Reichtum hinderlich ist.
pse_256.016 Die Ganzheit einer Dichtung ist ein ästhetisches Gebilde.pse_256.017 Das bedeutet zunächst Reichtum an Einzelheiten, Fülle des pse_256.018 im Bilde eingefangenen Lebens; dazu treten aber sofort zwei pse_256.019 weitere wichtige Merkmale: diese Fülle der Glieder ist nicht pse_256.020 zusammenhanglos, wenn es auch manchmal so scheinen pse_256.021 möchte: sie hat einen inneren Bezugspunkt, auf den diese pse_256.022 Glieder ausgerichtet sind, sie erwächst aus einem Innersten, pse_256.023 aus einer tiefen menschlichen Haltung, von der aus sie ihren pse_256.024 Sinn und Zusammenhang bekommen. Und dann weist diese pse_256.025 gestaltete Fülle auf etwas Tieferes hin, was durch sie erfaßbar pse_256.026 wird. So ist also die Gesamtheit aller Elemente, die ein Gedicht pse_256.027 aufbauen, nach zwei Richtungen zur Ganzheit geschlossen: pse_256.028 durch den Ausgangspunkt in einer schöpferischen Urhaltung pse_256.029 und durch den tieferen Sinn, auf den sie hinweisen.
pse_256.030 Um theoretisch die Anlage einer Dichtung betrachten zu pse_256.031 können, unterscheiden wir Aufbaukräfte und Aufbauglieder. pse_256.032 Aufbaukräfte sind jene Bereiche, Elemente, Seiten an einer pse_256.033 Dichtung, aus denen heraus ein Aufbau gestaltet werden kann.
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GANZHEIT UND EINHEIT pse_256.003
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Wir betrachten nun das dichterische Werk in seinem Aufbau, pse_256.005
in seiner Gesamtheit. Dabei ist es gut, die beiden Ausdrücke pse_256.006
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im höchsten Sinn erreicht wird. Einheit betont vor pse_256.011
allem diese Geschlossenheit der Form oder auch des Ideengehalts; pse_256.012
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pse_256.016
Die Ganzheit einer Dichtung ist ein ästhetisches Gebilde. pse_256.017
Das bedeutet zunächst Reichtum an Einzelheiten, Fülle des pse_256.018
im Bilde eingefangenen Lebens; dazu treten aber sofort zwei pse_256.019
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zusammenhanglos, wenn es auch manchmal so scheinen pse_256.021
möchte: sie hat einen inneren Bezugspunkt, auf den diese pse_256.022
Glieder ausgerichtet sind, sie erwächst aus einem Innersten, pse_256.023
aus einer tiefen menschlichen Haltung, von der aus sie ihren pse_256.024
Sinn und Zusammenhang bekommen. Und dann weist diese pse_256.025
gestaltete Fülle auf etwas Tieferes hin, was durch sie erfaßbar pse_256.026
wird. So ist also die Gesamtheit aller Elemente, die ein Gedicht pse_256.027
aufbauen, nach zwei Richtungen zur Ganzheit geschlossen: pse_256.028
durch den Ausgangspunkt in einer schöpferischen Urhaltung pse_256.029
und durch den tieferen Sinn, auf den sie hinweisen.
pse_256.030
Um theoretisch die Anlage einer Dichtung betrachten zu pse_256.031
können, unterscheiden wir Aufbaukräfte und Aufbauglieder. pse_256.032
Aufbaukräfte sind jene Bereiche, Elemente, Seiten an einer pse_256.033
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/272>, abgerufen am 22.11.2024.
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