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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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der sprachlichen Gestaltungen prägen sich eben die Geisteswelten, pse_245.002
so wie die Sprachen sind auch sie verschieden. Nur in pse_245.003
den äußersten Schichten des täglichen Verkehrs und der Zivilisation pse_245.004
besteht weitgehende Gleichheit. Aber je tiefer wir in pse_245.005
die Geisteswelten hineinschauen, je mehr wir die innersten pse_245.006
Antriebe, Erfassungsweisen und Haltungen betrachten, desto pse_245.007
mehr müssen wir erkennen, daß grundlegende Verschiedenheiten pse_245.008
bestehen. Das gilt daher am meisten für die Dichtungen, pse_245.009
die ja ganz aus diesen tiefsten Sprachprägungen leben. pse_245.010
Aber auch wenn wir aus diesen Tiefen nochmals an die sichtbareren pse_245.011
Bereiche emporsteigen, also zu den Gefühlen und pse_245.012
Stimmungen mehr oberflächlicher Art, sehen wir: je gefühlsbetonter pse_245.013
Sprachgebilde sind, desto schwerer sind sie zu übersetzen. pse_245.014
Denn auch die oberflächlichsten Gefühle noch sind pse_245.015
Ausstrahlungen aus jenen Tiefen, in denen sich die Haltung pse_245.016
bildet, die in der Sprachgestalt gebunden wird. Selbstverständlich pse_245.017
sind diese Unterschiede um so größer, je verschiedener pse_245.018
und fremder sich die Sprachen sind, während sie bei pse_245.019
nahverwandten eher überbrückt werden können. Die Unterschiede pse_245.020
der sprachlichen Weltbildgestaltung lassen sich in pse_245.021
bezug auf den dichterischen Sprachstil noch genauer bestimmen. pse_245.022
Nicht nur der Gehalt bestimmter, scheinbar ähnlicher pse_245.023
Worte ist verschieden, es gibt ja auch unübersetzbare Worte, pse_245.024
d. h. der Erfahrungsbereich oder die Erlebnisweise, in der er pse_245.025
sprachlich umgrenzt wird, oder beides ist in beiden Sprachen pse_245.026
verschieden. Man denke an "Gemüt", esprit, spleen usw. Auch pse_245.027
die scheinbar gleichen Formen in verschiedenen Sprachen pse_245.028
können stilhaft verschieden sein. Der etwa bei Trakl häufige pse_245.029
Einsatz von Formen wie "Abgelebtes" erinnert an das Slawische. pse_245.030
Aber im Deutschen sind solche Formen fremder, pse_245.031
daher weniger konventionalisiert, aber auch weniger eigengeartet. pse_245.032
Rilkes Ausdrücke wie "Das Blühen" erinnern an pse_245.033
Romanisches, sind im Deutschen weniger üblich, wirken daher pse_245.034
anders als in den romanischen Sprachen. Die Partizipia pse_245.035
des Präsens (gehend, singend) wirken im Deutschen eher pse_245.036
steif, im Englischen durchaus leichter. Sie haben also verschiedene pse_245.037
Stilwerte in beiden Sprachen. Auch die Schönheitsideale pse_245.038
sprachkünstlerischer Gestaltung sind in den nahverwandten

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der sprachlichen Gestaltungen prägen sich eben die Geisteswelten, pse_245.002
so wie die Sprachen sind auch sie verschieden. Nur in pse_245.003
den äußersten Schichten des täglichen Verkehrs und der Zivilisation pse_245.004
besteht weitgehende Gleichheit. Aber je tiefer wir in pse_245.005
die Geisteswelten hineinschauen, je mehr wir die innersten pse_245.006
Antriebe, Erfassungsweisen und Haltungen betrachten, desto pse_245.007
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die ja ganz aus diesen tiefsten Sprachprägungen leben. pse_245.010
Aber auch wenn wir aus diesen Tiefen nochmals an die sichtbareren pse_245.011
Bereiche emporsteigen, also zu den Gefühlen und pse_245.012
Stimmungen mehr oberflächlicher Art, sehen wir: je gefühlsbetonter pse_245.013
Sprachgebilde sind, desto schwerer sind sie zu übersetzen. pse_245.014
Denn auch die oberflächlichsten Gefühle noch sind pse_245.015
Ausstrahlungen aus jenen Tiefen, in denen sich die Haltung pse_245.016
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bezug auf den dichterischen Sprachstil noch genauer bestimmen. pse_245.022
Nicht nur der Gehalt bestimmter, scheinbar ähnlicher pse_245.023
Worte ist verschieden, es gibt ja auch unübersetzbare Worte, pse_245.024
d. h. der Erfahrungsbereich oder die Erlebnisweise, in der er pse_245.025
sprachlich umgrenzt wird, oder beides ist in beiden Sprachen pse_245.026
verschieden. Man denke an »Gemüt«, esprit, spleen usw. Auch pse_245.027
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können stilhaft verschieden sein. Der etwa bei Trakl häufige pse_245.029
Einsatz von Formen wie »Abgelebtes« erinnert an das Slawische. pse_245.030
Aber im Deutschen sind solche Formen fremder, pse_245.031
daher weniger konventionalisiert, aber auch weniger eigengeartet. pse_245.032
Rilkes Ausdrücke wie »Das Blühen« erinnern an pse_245.033
Romanisches, sind im Deutschen weniger üblich, wirken daher pse_245.034
anders als in den romanischen Sprachen. Die Partizipia pse_245.035
des Präsens (gehend, singend) wirken im Deutschen eher pse_245.036
steif, im Englischen durchaus leichter. Sie haben also verschiedene pse_245.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/261>, abgerufen am 22.11.2024.