pse_226.001 sprachliche Gebilde je nach Zusammenhang einer verschiedenen pse_226.002 Stilkraft zugehört.
pse_226.003
Am Brunnen steh ich lange,pse_226.004 Der rauscht fort, wie vorher,pse_226.005 Kommt mancher wohl gegangen,pse_226.006 Es kennt mich keiner mehr.
pse_226.007 Da hört ich geigen, pfeifen,pse_226.008 Die Fenster glänzten weit,pse_226.009 Dazwischen drehn und schleifenpse_226.010 viel fremde, fröhliche Leut.
(Eichendorff, Rückkehr)
pse_226.011
Der erste Vers der zweiten Strophe ist ein deutliches Bild, in pse_226.012 dem eine starke Gemütshaltung lebendig ist. Diese Gemütshaltung pse_226.013 des Bildes tritt zurück und das Vorganghafte in einer pse_226.014 leichten Satzbewegung drängt vor, wenn der Vers leicht pse_226.015 geändert in einen epischen Hexameter eingefügt wird: "Abends pse_226.016 kam ich ins Dorf. Da hört ich geigen und pfeifen" (nach Staiger). pse_226.017 Wieder ganz anders folgende Umformung: ein Wanderer pse_226.018 erzählt von einem Weg in dunkler Nacht, als er plötzlich pse_226.019 etwas vernimmt: "Da hört ich -- geigen, pfeifen! Frohe Menschen! pse_226.020 -- und fühlte mich geborgen." Hier tritt das Bildhafte pse_226.021 des Sprachgebildes noch stärker zurück, es wird ein Ausruf.
pse_226.022 Nicht überall wirken die Stilkräfte in einem Gedicht mit pse_226.023 der gleichen Dichte. Es kann Stellen geben, wo die einzelnen pse_226.024 Stilkräfte gleichsam nur dünn gesät sind oder auch eine einzelne pse_226.025 Stilkraft nicht sehr intensiv ist. Solche Weite des Stils pse_226.026 kann Gestaltung der Reife, der Ruhe und Abgeklärtheit sein pse_226.027 wie etwa in Goethes "Wahlverwandtschaften" oder beim pse_226.028 späten Stifter. Es sind so auch starke Steigerungsmöglichkeiten pse_226.029 zu Stellen dichter Stilkräfte hin gegeben. Aber auch Unwerte pse_226.030 kann solche Weite haben: Müdigkeit, Versanden, Absterben. pse_226.031 (Freilich können diese Unwerte wieder bedeutsam im Zusammenhang pse_226.032 werden, wenn etwa eine solche menschliche pse_226.033 Haltung in einer epischen Dichtung sprachkünstlerisch herausgearbeitet pse_226.034 werden soll.) Dichte Ballung aller möglichen Stilkräfte pse_226.035 oder dichte Ausformung einer einzelnen gestaltet pse_226.036 Fülle, Übermut, Kraft, heftige Bewegung; aber auch Verhaltenheit pse_226.037 ist so formbar. Der Unwert ist die Überreiztheit.
pse_226.038 An dieser Stelle zeigt sich auch, daß die reine Form der
pse_226.001 sprachliche Gebilde je nach Zusammenhang einer verschiedenen pse_226.002 Stilkraft zugehört.
pse_226.003
Am Brunnen steh ich lange,pse_226.004 Der rauscht fort, wie vorher,pse_226.005 Kommt mancher wohl gegangen,pse_226.006 Es kennt mich keiner mehr.
pse_226.007 Da hört ich geigen, pfeifen,pse_226.008 Die Fenster glänzten weit,pse_226.009 Dazwischen drehn und schleifenpse_226.010 viel fremde, fröhliche Leut.
(Eichendorff, Rückkehr)
pse_226.011
Der erste Vers der zweiten Strophe ist ein deutliches Bild, in pse_226.012 dem eine starke Gemütshaltung lebendig ist. Diese Gemütshaltung pse_226.013 des Bildes tritt zurück und das Vorganghafte in einer pse_226.014 leichten Satzbewegung drängt vor, wenn der Vers leicht pse_226.015 geändert in einen epischen Hexameter eingefügt wird: »Abends pse_226.016 kam ich ins Dorf. Da hört ich geigen und pfeifen« (nach Staiger). pse_226.017 Wieder ganz anders folgende Umformung: ein Wanderer pse_226.018 erzählt von einem Weg in dunkler Nacht, als er plötzlich pse_226.019 etwas vernimmt: »Da hört ich — geigen, pfeifen! Frohe Menschen! pse_226.020 — und fühlte mich geborgen.« Hier tritt das Bildhafte pse_226.021 des Sprachgebildes noch stärker zurück, es wird ein Ausruf.
pse_226.022 Nicht überall wirken die Stilkräfte in einem Gedicht mit pse_226.023 der gleichen Dichte. Es kann Stellen geben, wo die einzelnen pse_226.024 Stilkräfte gleichsam nur dünn gesät sind oder auch eine einzelne pse_226.025 Stilkraft nicht sehr intensiv ist. Solche Weite des Stils pse_226.026 kann Gestaltung der Reife, der Ruhe und Abgeklärtheit sein pse_226.027 wie etwa in Goethes »Wahlverwandtschaften« oder beim pse_226.028 späten Stifter. Es sind so auch starke Steigerungsmöglichkeiten pse_226.029 zu Stellen dichter Stilkräfte hin gegeben. Aber auch Unwerte pse_226.030 kann solche Weite haben: Müdigkeit, Versanden, Absterben. pse_226.031 (Freilich können diese Unwerte wieder bedeutsam im Zusammenhang pse_226.032 werden, wenn etwa eine solche menschliche pse_226.033 Haltung in einer epischen Dichtung sprachkünstlerisch herausgearbeitet pse_226.034 werden soll.) Dichte Ballung aller möglichen Stilkräfte pse_226.035 oder dichte Ausformung einer einzelnen gestaltet pse_226.036 Fülle, Übermut, Kraft, heftige Bewegung; aber auch Verhaltenheit pse_226.037 ist so formbar. Der Unwert ist die Überreiztheit.
pse_226.038 An dieser Stelle zeigt sich auch, daß die reine Form der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0242"n="226"/><lbn="pse_226.001"/>
sprachliche Gebilde je nach Zusammenhang einer verschiedenen <lbn="pse_226.002"/>
Stilkraft zugehört.</p><lbn="pse_226.003"/><p><hirendition="#aq"><lg><l>Am Brunnen steh ich lange,</l><lbn="pse_226.004"/><l>Der rauscht fort, wie vorher,</l><lbn="pse_226.005"/><l>Kommt mancher wohl gegangen,</l><lbn="pse_226.006"/><l>Es kennt mich keiner mehr. </l></lg><lg><lbn="pse_226.007"/><l>Da hört ich geigen, pfeifen,</l><lbn="pse_226.008"/><l>Die Fenster glänzten weit,</l><lbn="pse_226.009"/><l>Dazwischen drehn und schleifen</l><lbn="pse_226.010"/><l>viel fremde, fröhliche Leut.</l></lg> (Eichendorff, Rückkehr)</hi></p><lbn="pse_226.011"/><p>Der erste Vers der zweiten Strophe ist ein deutliches Bild, in <lbn="pse_226.012"/>
dem eine starke Gemütshaltung lebendig ist. Diese Gemütshaltung <lbn="pse_226.013"/>
des Bildes tritt zurück und das Vorganghafte in einer <lbn="pse_226.014"/>
leichten Satzbewegung drängt vor, wenn der Vers leicht <lbn="pse_226.015"/>
geändert in einen epischen Hexameter eingefügt wird: »Abends <lbn="pse_226.016"/>
kam ich ins Dorf. Da hört ich geigen und pfeifen« (nach Staiger). <lbn="pse_226.017"/>
Wieder ganz anders folgende Umformung: ein Wanderer <lbn="pse_226.018"/>
erzählt von einem Weg in dunkler Nacht, als er plötzlich <lbn="pse_226.019"/>
etwas vernimmt: »Da hört ich — geigen, pfeifen! Frohe Menschen! <lbn="pse_226.020"/>— und fühlte mich geborgen.« Hier tritt das Bildhafte <lbn="pse_226.021"/>
des Sprachgebildes noch stärker zurück, es wird ein Ausruf.</p><p><lbn="pse_226.022"/>
Nicht überall wirken die Stilkräfte in einem Gedicht mit <lbn="pse_226.023"/>
der gleichen <hirendition="#i">Dichte.</hi> Es kann Stellen geben, wo die einzelnen <lbn="pse_226.024"/>
Stilkräfte gleichsam nur dünn gesät sind oder auch eine einzelne <lbn="pse_226.025"/>
Stilkraft nicht sehr intensiv ist. Solche Weite des Stils <lbn="pse_226.026"/>
kann Gestaltung der Reife, der Ruhe und Abgeklärtheit sein <lbn="pse_226.027"/>
wie etwa in Goethes »Wahlverwandtschaften« oder beim <lbn="pse_226.028"/>
späten Stifter. Es sind so auch starke Steigerungsmöglichkeiten <lbn="pse_226.029"/>
zu Stellen dichter Stilkräfte hin gegeben. Aber auch Unwerte <lbn="pse_226.030"/>
kann solche Weite haben: Müdigkeit, Versanden, Absterben. <lbn="pse_226.031"/>
(Freilich können diese Unwerte wieder bedeutsam im Zusammenhang <lbn="pse_226.032"/>
werden, wenn etwa eine solche menschliche <lbn="pse_226.033"/>
Haltung in einer epischen Dichtung sprachkünstlerisch herausgearbeitet <lbn="pse_226.034"/>
werden soll.) Dichte Ballung aller möglichen Stilkräfte <lbn="pse_226.035"/>
oder dichte Ausformung einer einzelnen gestaltet <lbn="pse_226.036"/>
Fülle, Übermut, Kraft, heftige Bewegung; aber auch Verhaltenheit <lbn="pse_226.037"/>
ist so formbar. Der Unwert ist die Überreiztheit.</p><p><lbn="pse_226.038"/>
An dieser Stelle zeigt sich auch, daß die reine Form der
</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[226/0242]
pse_226.001
sprachliche Gebilde je nach Zusammenhang einer verschiedenen pse_226.002
Stilkraft zugehört.
pse_226.003
Am Brunnen steh ich lange, pse_226.004
Der rauscht fort, wie vorher, pse_226.005
Kommt mancher wohl gegangen, pse_226.006
Es kennt mich keiner mehr.
pse_226.007
Da hört ich geigen, pfeifen, pse_226.008
Die Fenster glänzten weit, pse_226.009
Dazwischen drehn und schleifen pse_226.010
viel fremde, fröhliche Leut.
(Eichendorff, Rückkehr)
pse_226.011
Der erste Vers der zweiten Strophe ist ein deutliches Bild, in pse_226.012
dem eine starke Gemütshaltung lebendig ist. Diese Gemütshaltung pse_226.013
des Bildes tritt zurück und das Vorganghafte in einer pse_226.014
leichten Satzbewegung drängt vor, wenn der Vers leicht pse_226.015
geändert in einen epischen Hexameter eingefügt wird: »Abends pse_226.016
kam ich ins Dorf. Da hört ich geigen und pfeifen« (nach Staiger). pse_226.017
Wieder ganz anders folgende Umformung: ein Wanderer pse_226.018
erzählt von einem Weg in dunkler Nacht, als er plötzlich pse_226.019
etwas vernimmt: »Da hört ich — geigen, pfeifen! Frohe Menschen! pse_226.020
— und fühlte mich geborgen.« Hier tritt das Bildhafte pse_226.021
des Sprachgebildes noch stärker zurück, es wird ein Ausruf.
pse_226.022
Nicht überall wirken die Stilkräfte in einem Gedicht mit pse_226.023
der gleichen Dichte. Es kann Stellen geben, wo die einzelnen pse_226.024
Stilkräfte gleichsam nur dünn gesät sind oder auch eine einzelne pse_226.025
Stilkraft nicht sehr intensiv ist. Solche Weite des Stils pse_226.026
kann Gestaltung der Reife, der Ruhe und Abgeklärtheit sein pse_226.027
wie etwa in Goethes »Wahlverwandtschaften« oder beim pse_226.028
späten Stifter. Es sind so auch starke Steigerungsmöglichkeiten pse_226.029
zu Stellen dichter Stilkräfte hin gegeben. Aber auch Unwerte pse_226.030
kann solche Weite haben: Müdigkeit, Versanden, Absterben. pse_226.031
(Freilich können diese Unwerte wieder bedeutsam im Zusammenhang pse_226.032
werden, wenn etwa eine solche menschliche pse_226.033
Haltung in einer epischen Dichtung sprachkünstlerisch herausgearbeitet pse_226.034
werden soll.) Dichte Ballung aller möglichen Stilkräfte pse_226.035
oder dichte Ausformung einer einzelnen gestaltet pse_226.036
Fülle, Übermut, Kraft, heftige Bewegung; aber auch Verhaltenheit pse_226.037
ist so formbar. Der Unwert ist die Überreiztheit.
pse_226.038
An dieser Stelle zeigt sich auch, daß die reine Form der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/242>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.