Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_206.001
gesehen -- ein Stück Erfahrungswelt zu einem geprägten pse_206.002
Gebilde geronnenen: Meeresrauschen, Wüste, Unendlichkeit. pse_206.003
Aber Worte wachsen im Rahmen von Fügungen zu pse_206.004
neuen Bildern zusammen. Zwei Verse aus Trakls Gedicht pse_206.005
"Musik im Mirabell":

pse_206.006
Die Wolken stehn / Im klaren Blau, die weißen, zarten. pse_206.007
Das Laub fällt rot vom alten Baum.
pse_206.008

Die sprachliche Fügung schafft hier aus den Worten in ihrem pse_206.009
Gehalt und in ihrem Lautungszauber ein neues, in sich geschlossenes, pse_206.010
in der Stimmung und in der Form einheitliches pse_206.011
Gebilde -- ein Bild. Nun denkt man bei Bildern meist an sogenannte pse_206.012
Übertragungen. Hier in diesen Versen sind keine, pse_206.013
man müßte denn annehmen, "stehn", "zarten" und "fällt" pse_206.014
komme streng genommen den genannten Gegenstandsworten pse_206.015
nicht zu. Aber der Gehalt sowohl dieser als der eben angeführten pse_206.016
ist so, daß sie völlig zusammenklingen; sie passen pse_206.017
von vornherein zusammen. Wir können von hier aus leicht pse_206.018
einen Schritt weiter gehen. In Hölderlins Heidelberg-Ode pse_206.019
heißt es:

pse_206.020
"Freundliche Wälder rauschten über die Burg herab."
[Annotation] pse_206.021

Hier empfindet nun der Verstand: Wälder können wohl pse_206.022
rauschen, aber nicht über die Burg herab. Was geht aber vor? pse_206.023
Im Zusammentreffen von Wald und herabrauschen erweitern pse_206.024
und verdichten sich die beiden Wortgehalte: der Wald ist pse_206.025
als Lebewesen erfaßt, und das Rauschen wird so greifbar erlebt, pse_206.026
daß es gleichsam auch eine Richtung bekommt. [Annotation]

Es wird pse_206.027
der Gehalt oder besser: die konventionelle Bedeutung zweier pse_206.028
Worte im Zusammenfügen erweitert und aufeinander abgestimmt; pse_206.029
es entsteht ein neuer sprachlich gestalteter Bereich. pse_206.030
Es werden also in diesen Fällen immer in zwei Worten neue pse_206.031
Seiten angeleuchtet, herausgehoben, und dadurch schließen pse_206.032
sich ihre Gehalte, die im konventionellen Sprachgebrauch pse_206.033
nichts mehr miteinander zu tun haben, zu einem ästhetisch pse_206.034
wirkungsvollen Gebilde zusammen; denn gerade im Zusammenschluß pse_206.035
entsteht eine Gestalt, die als Lautung und als pse_206.036
Gehaltsträgerin gleichsam in Tiefen schauen läßt. [Annotation] Klare und

pse_206.001
gesehen — ein Stück Erfahrungswelt zu einem geprägten pse_206.002
Gebilde geronnenen: Meeresrauschen, Wüste, Unendlichkeit. pse_206.003
Aber Worte wachsen im Rahmen von Fügungen zu pse_206.004
neuen Bildern zusammen. Zwei Verse aus Trakls Gedicht pse_206.005
»Musik im Mirabell«:

pse_206.006
Die Wolken stehn / Im klaren Blau, die weißen, zarten. pse_206.007
Das Laub fällt rot vom alten Baum.
pse_206.008

Die sprachliche Fügung schafft hier aus den Worten in ihrem pse_206.009
Gehalt und in ihrem Lautungszauber ein neues, in sich geschlossenes, pse_206.010
in der Stimmung und in der Form einheitliches pse_206.011
Gebilde — ein Bild. Nun denkt man bei Bildern meist an sogenannte pse_206.012
Übertragungen. Hier in diesen Versen sind keine, pse_206.013
man müßte denn annehmen, »stehn«, »zarten« und »fällt« pse_206.014
komme streng genommen den genannten Gegenstandsworten pse_206.015
nicht zu. Aber der Gehalt sowohl dieser als der eben angeführten pse_206.016
ist so, daß sie völlig zusammenklingen; sie passen pse_206.017
von vornherein zusammen. Wir können von hier aus leicht pse_206.018
einen Schritt weiter gehen. In Hölderlins Heidelberg-Ode pse_206.019
heißt es:

pse_206.020
»Freundliche Wälder rauschten über die Burg herab.«
[Annotation] pse_206.021

Hier empfindet nun der Verstand: Wälder können wohl pse_206.022
rauschen, aber nicht über die Burg herab. Was geht aber vor? pse_206.023
Im Zusammentreffen von Wald und herabrauschen erweitern pse_206.024
und verdichten sich die beiden Wortgehalte: der Wald ist pse_206.025
als Lebewesen erfaßt, und das Rauschen wird so greifbar erlebt, pse_206.026
daß es gleichsam auch eine Richtung bekommt. [Annotation]

Es wird pse_206.027
der Gehalt oder besser: die konventionelle Bedeutung zweier pse_206.028
Worte im Zusammenfügen erweitert und aufeinander abgestimmt; pse_206.029
es entsteht ein neuer sprachlich gestalteter Bereich. pse_206.030
Es werden also in diesen Fällen immer in zwei Worten neue pse_206.031
Seiten angeleuchtet, herausgehoben, und dadurch schließen pse_206.032
sich ihre Gehalte, die im konventionellen Sprachgebrauch pse_206.033
nichts mehr miteinander zu tun haben, zu einem ästhetisch pse_206.034
wirkungsvollen Gebilde zusammen; denn gerade im Zusammenschluß pse_206.035
entsteht eine Gestalt, die als Lautung und als pse_206.036
Gehaltsträgerin gleichsam in Tiefen schauen läßt. [Annotation] Klare und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0222" n="206"/><lb n="pse_206.001"/>
gesehen &#x2014; ein Stück Erfahrungswelt zu einem geprägten <lb n="pse_206.002"/>
Gebilde geronnenen: Meeresrauschen, Wüste, Unendlichkeit. <lb n="pse_206.003"/>
Aber Worte wachsen im Rahmen von Fügungen zu <lb n="pse_206.004"/>
neuen Bildern zusammen. Zwei Verse aus Trakls Gedicht <lb n="pse_206.005"/>
»Musik im Mirabell«:</p>
              <lb n="pse_206.006"/>
              <lg>
                <l> <hi rendition="#aq">Die Wolken stehn / Im klaren Blau, die weißen, zarten.</hi> </l>
                <lb n="pse_206.007"/>
                <l> <hi rendition="#aq">Das Laub fällt rot vom alten Baum.</hi> </l>
              </lg>
              <lb n="pse_206.008"/>
              <p>Die sprachliche Fügung schafft hier aus den Worten in ihrem <lb n="pse_206.009"/>
Gehalt und in ihrem Lautungszauber ein neues, in sich geschlossenes, <lb n="pse_206.010"/>
in der Stimmung und in der Form einheitliches <lb n="pse_206.011"/>
Gebilde &#x2014; ein Bild. Nun denkt man bei Bildern meist an sogenannte <lb n="pse_206.012"/>
Übertragungen. Hier in diesen Versen sind keine, <lb n="pse_206.013"/>
man müßte denn annehmen, »stehn«, »zarten« und »fällt« <lb n="pse_206.014"/>
komme streng genommen den genannten Gegenstandsworten <lb n="pse_206.015"/>
nicht zu. Aber der Gehalt sowohl dieser als der eben angeführten <lb n="pse_206.016"/>
ist so, daß sie völlig zusammenklingen; sie passen <lb n="pse_206.017"/>
von vornherein zusammen. Wir können von hier aus leicht <lb n="pse_206.018"/>
einen Schritt weiter gehen.     <anchor xml:id="se001"/>In Hölderlins Heidelberg-Ode <lb n="pse_206.019"/>
heißt es:</p>
              <lb n="pse_206.020"/>
              <lg>
                <l> <hi rendition="#aq">»Freundliche Wälder rauschten über die Burg herab.«</hi> </l>
              </lg>
              <anchor xml:id="se002"/>
              <note targetEnd="#se002" type="metapher" ana="#m1-0-3-0 #m1-2-1-0 #m1-3-1-0 #m1-4-1-0 #m1-7-1-3" target="#se001"> Bsp. für Expl. </note>
              <lb n="pse_206.021"/>
              <p><anchor xml:id="se003"/>Hier empfindet nun der Verstand: Wälder können wohl <lb n="pse_206.022"/>
rauschen, aber nicht über die Burg herab. Was geht aber vor? <lb n="pse_206.023"/>
Im Zusammentreffen von Wald und herabrauschen erweitern <lb n="pse_206.024"/>
und verdichten sich die beiden Wortgehalte: der Wald ist <lb n="pse_206.025"/>
als Lebewesen erfaßt, und das Rauschen wird so greifbar erlebt, <lb n="pse_206.026"/>
daß es gleichsam auch eine Richtung bekommt.     <anchor xml:id="se004"/> <note targetEnd="#se004" type="metapher" ana="#m1-0-1-2 #m1-3-1-0 #m1-4-1-0 #m1-2-1-0 #m1-7-1-3" target="#se003"> Bsp. für Expl. </note>     <anchor xml:id="se005"/>Es wird <lb n="pse_206.027"/>
der Gehalt oder besser: die konventionelle Bedeutung zweier <lb n="pse_206.028"/>
Worte im Zusammenfügen erweitert und aufeinander abgestimmt; <lb n="pse_206.029"/>
es entsteht ein neuer sprachlich gestalteter Bereich. <lb n="pse_206.030"/>
Es werden also in diesen Fällen immer in zwei Worten neue <lb n="pse_206.031"/>
Seiten angeleuchtet, herausgehoben, und dadurch schließen <lb n="pse_206.032"/>
sich ihre Gehalte, die im konventionellen Sprachgebrauch <lb n="pse_206.033"/>
nichts mehr miteinander zu tun haben, zu einem ästhetisch <lb n="pse_206.034"/>
wirkungsvollen Gebilde zusammen; denn gerade im Zusammenschluß <lb n="pse_206.035"/>
entsteht eine Gestalt, die als Lautung und als <lb n="pse_206.036"/>
Gehaltsträgerin gleichsam in Tiefen schauen läßt.     <anchor xml:id="se006"/> <note targetEnd="#se006" type="metapher" ana="#m1-0-1-1 #m1-3-1-0 #m1-4-1-0 #m1-2-1-0 #m1-7-1-3" target="#se005"> Expl. </note>     <anchor xml:id="se007"/>Klare und
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[206/0222] pse_206.001 gesehen — ein Stück Erfahrungswelt zu einem geprägten pse_206.002 Gebilde geronnenen: Meeresrauschen, Wüste, Unendlichkeit. pse_206.003 Aber Worte wachsen im Rahmen von Fügungen zu pse_206.004 neuen Bildern zusammen. Zwei Verse aus Trakls Gedicht pse_206.005 »Musik im Mirabell«: pse_206.006 Die Wolken stehn / Im klaren Blau, die weißen, zarten. pse_206.007 Das Laub fällt rot vom alten Baum. pse_206.008 Die sprachliche Fügung schafft hier aus den Worten in ihrem pse_206.009 Gehalt und in ihrem Lautungszauber ein neues, in sich geschlossenes, pse_206.010 in der Stimmung und in der Form einheitliches pse_206.011 Gebilde — ein Bild. Nun denkt man bei Bildern meist an sogenannte pse_206.012 Übertragungen. Hier in diesen Versen sind keine, pse_206.013 man müßte denn annehmen, »stehn«, »zarten« und »fällt« pse_206.014 komme streng genommen den genannten Gegenstandsworten pse_206.015 nicht zu. Aber der Gehalt sowohl dieser als der eben angeführten pse_206.016 ist so, daß sie völlig zusammenklingen; sie passen pse_206.017 von vornherein zusammen. Wir können von hier aus leicht pse_206.018 einen Schritt weiter gehen. In Hölderlins Heidelberg-Ode pse_206.019 heißt es: pse_206.020 »Freundliche Wälder rauschten über die Burg herab.« Bsp. für Expl. pse_206.021 Hier empfindet nun der Verstand: Wälder können wohl pse_206.022 rauschen, aber nicht über die Burg herab. Was geht aber vor? pse_206.023 Im Zusammentreffen von Wald und herabrauschen erweitern pse_206.024 und verdichten sich die beiden Wortgehalte: der Wald ist pse_206.025 als Lebewesen erfaßt, und das Rauschen wird so greifbar erlebt, pse_206.026 daß es gleichsam auch eine Richtung bekommt. Bsp. für Expl. Es wird pse_206.027 der Gehalt oder besser: die konventionelle Bedeutung zweier pse_206.028 Worte im Zusammenfügen erweitert und aufeinander abgestimmt; pse_206.029 es entsteht ein neuer sprachlich gestalteter Bereich. pse_206.030 Es werden also in diesen Fällen immer in zwei Worten neue pse_206.031 Seiten angeleuchtet, herausgehoben, und dadurch schließen pse_206.032 sich ihre Gehalte, die im konventionellen Sprachgebrauch pse_206.033 nichts mehr miteinander zu tun haben, zu einem ästhetisch pse_206.034 wirkungsvollen Gebilde zusammen; denn gerade im Zusammenschluß pse_206.035 entsteht eine Gestalt, die als Lautung und als pse_206.036 Gehaltsträgerin gleichsam in Tiefen schauen läßt. Expl. Klare und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/222
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/222>, abgerufen am 24.11.2024.