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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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pse_163.001
Zunächst nur zwei Beispiele für Geschlecht und Fall pse_163.002
der Gegenstandswörter. Wenn es in der berühmten "Anekdote pse_163.003
aus dem letzten preußischen Krieg" von Kleist heißt: pse_163.004
"-- -- -- schafft das Mensch ihm Feuer" und damit die Kellnerin pse_163.005
gemeint ist, so hat das mit keiner rationalen Aufgliederung pse_163.006
in drei grammatische Geschlechter etwas zu tun, sondern pse_163.007
rückt die Kellnerin in eine ganz bestimmte Beleuchtung, die pse_163.008
durchaus gefühlhaft ist. In C. F. Meyers "Hochzeit des pse_163.009
Mönchs" heißt es: "Astorre aber versank in seinem Traume". pse_163.010
Vergleicht man diesen Ausdruck mit dem anderen: "Astorre pse_163.011
versank in seinen Traum", so spürt man, wie hier die beiden pse_163.012
Fälle anders wirken, wie eben jeder einen ganz bestimmten pse_163.013
Stilwert entfaltet, eine andere, aus dem Tiefen kommende pse_163.014
Erfassungsweise. Das früher gebrachte Beispiel aus Brochs pse_163.015
"Tod des Vergil" konnte uns den Stilwert des Plurals zeigen. pse_163.016
Selbstverständlich hat jede Form einen bestimmten Erfassungskern, pse_163.017
aber der jeweilige Stilwert, der sich aus dessen pse_163.018
Aktualisierung oder aus einer bestimmten aktuellen Erfassungsweise pse_163.019
ergibt, ist immer nur im Zusammenhang aller pse_163.020
künstlerischen Kräfte erkennbar.

pse_163.021
Einen besonderen Formenreichtum hat seit je das Vorgangswort pse_163.022
entfaltet. Es können da erfaßt werden: die Zuordnung pse_163.023
zu einem bestimmten Träger (Personalformen), verschiedene pse_163.024
Perspektiven auf den Vorgang (sie verräumten das Spielzeug -- pse_163.025
das Spielzeug wurde verräumt), eine bestimmte Umgrenzung pse_163.026
des Blickes auf den Vorgang ("he wrote" sieht den Vorgang pse_163.027
in seiner Gesamtheit, "he was writing" nur ein Stück pse_163.028
aus ihm), Einordnung in die entwickelten Zeitkategorien der pse_163.029
Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, endlich eine bestimmte pse_163.030
gemüthafte Beleuchtung des Vorganges in den sogenannten pse_163.031
Modi. Natürlich können alle diese Möglichkeiten auch pse_163.032
rational-grammatisch geregelt werden. Aber daß sie auch pse_163.033
dem Dichter Kräfte künstlerischer Gestaltung zuführen können, pse_163.034
ist für uns das Entscheidende. Auch hier müssen einige pse_163.035
Beispiele genügen. Schon die Hilfszeitwörter zur Bildung bestimmter pse_163.036
Formen sind wichtig. Man spricht schablonisierend pse_163.037
von der sprachlichen Bezeichnung der Zukunft in verschiedener pse_163.038
Weise. Aber in der ursprünglichen Prägung machte es

pse_163.001
Zunächst nur zwei Beispiele für Geschlecht und Fall pse_163.002
der Gegenstandswörter. Wenn es in der berühmten »Anekdote pse_163.003
aus dem letzten preußischen Krieg« von Kleist heißt: pse_163.004
»— — — schafft das Mensch ihm Feuer« und damit die Kellnerin pse_163.005
gemeint ist, so hat das mit keiner rationalen Aufgliederung pse_163.006
in drei grammatische Geschlechter etwas zu tun, sondern pse_163.007
rückt die Kellnerin in eine ganz bestimmte Beleuchtung, die pse_163.008
durchaus gefühlhaft ist. In C. F. Meyers »Hochzeit des pse_163.009
Mönchs« heißt es: »Astorre aber versank in seinem Traume«. pse_163.010
Vergleicht man diesen Ausdruck mit dem anderen: »Astorre pse_163.011
versank in seinen Traum«, so spürt man, wie hier die beiden pse_163.012
Fälle anders wirken, wie eben jeder einen ganz bestimmten pse_163.013
Stilwert entfaltet, eine andere, aus dem Tiefen kommende pse_163.014
Erfassungsweise. Das früher gebrachte Beispiel aus Brochs pse_163.015
»Tod des Vergil« konnte uns den Stilwert des Plurals zeigen. pse_163.016
Selbstverständlich hat jede Form einen bestimmten Erfassungskern, pse_163.017
aber der jeweilige Stilwert, der sich aus dessen pse_163.018
Aktualisierung oder aus einer bestimmten aktuellen Erfassungsweise pse_163.019
ergibt, ist immer nur im Zusammenhang aller pse_163.020
künstlerischen Kräfte erkennbar.

pse_163.021
Einen besonderen Formenreichtum hat seit je das Vorgangswort pse_163.022
entfaltet. Es können da erfaßt werden: die Zuordnung pse_163.023
zu einem bestimmten Träger (Personalformen), verschiedene pse_163.024
Perspektiven auf den Vorgang (sie verräumten das Spielzeug — pse_163.025
das Spielzeug wurde verräumt), eine bestimmte Umgrenzung pse_163.026
des Blickes auf den Vorgang (»he wrote« sieht den Vorgang pse_163.027
in seiner Gesamtheit, »he was writing« nur ein Stück pse_163.028
aus ihm), Einordnung in die entwickelten Zeitkategorien der pse_163.029
Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, endlich eine bestimmte pse_163.030
gemüthafte Beleuchtung des Vorganges in den sogenannten pse_163.031
Modi. Natürlich können alle diese Möglichkeiten auch pse_163.032
rational-grammatisch geregelt werden. Aber daß sie auch pse_163.033
dem Dichter Kräfte künstlerischer Gestaltung zuführen können, pse_163.034
ist für uns das Entscheidende. Auch hier müssen einige pse_163.035
Beispiele genügen. Schon die Hilfszeitwörter zur Bildung bestimmter pse_163.036
Formen sind wichtig. Man spricht schablonisierend pse_163.037
von der sprachlichen Bezeichnung der Zukunft in verschiedener pse_163.038
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[163/0179] pse_163.001 Zunächst nur zwei Beispiele für Geschlecht und Fall pse_163.002 der Gegenstandswörter. Wenn es in der berühmten »Anekdote pse_163.003 aus dem letzten preußischen Krieg« von Kleist heißt: pse_163.004 »— — — schafft das Mensch ihm Feuer« und damit die Kellnerin pse_163.005 gemeint ist, so hat das mit keiner rationalen Aufgliederung pse_163.006 in drei grammatische Geschlechter etwas zu tun, sondern pse_163.007 rückt die Kellnerin in eine ganz bestimmte Beleuchtung, die pse_163.008 durchaus gefühlhaft ist. In C. F. Meyers »Hochzeit des pse_163.009 Mönchs« heißt es: »Astorre aber versank in seinem Traume«. pse_163.010 Vergleicht man diesen Ausdruck mit dem anderen: »Astorre pse_163.011 versank in seinen Traum«, so spürt man, wie hier die beiden pse_163.012 Fälle anders wirken, wie eben jeder einen ganz bestimmten pse_163.013 Stilwert entfaltet, eine andere, aus dem Tiefen kommende pse_163.014 Erfassungsweise. Das früher gebrachte Beispiel aus Brochs pse_163.015 »Tod des Vergil« konnte uns den Stilwert des Plurals zeigen. pse_163.016 Selbstverständlich hat jede Form einen bestimmten Erfassungskern, pse_163.017 aber der jeweilige Stilwert, der sich aus dessen pse_163.018 Aktualisierung oder aus einer bestimmten aktuellen Erfassungsweise pse_163.019 ergibt, ist immer nur im Zusammenhang aller pse_163.020 künstlerischen Kräfte erkennbar. pse_163.021 Einen besonderen Formenreichtum hat seit je das Vorgangswort pse_163.022 entfaltet. Es können da erfaßt werden: die Zuordnung pse_163.023 zu einem bestimmten Träger (Personalformen), verschiedene pse_163.024 Perspektiven auf den Vorgang (sie verräumten das Spielzeug — pse_163.025 das Spielzeug wurde verräumt), eine bestimmte Umgrenzung pse_163.026 des Blickes auf den Vorgang (»he wrote« sieht den Vorgang pse_163.027 in seiner Gesamtheit, »he was writing« nur ein Stück pse_163.028 aus ihm), Einordnung in die entwickelten Zeitkategorien der pse_163.029 Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft, endlich eine bestimmte pse_163.030 gemüthafte Beleuchtung des Vorganges in den sogenannten pse_163.031 Modi. Natürlich können alle diese Möglichkeiten auch pse_163.032 rational-grammatisch geregelt werden. Aber daß sie auch pse_163.033 dem Dichter Kräfte künstlerischer Gestaltung zuführen können, pse_163.034 ist für uns das Entscheidende. Auch hier müssen einige pse_163.035 Beispiele genügen. Schon die Hilfszeitwörter zur Bildung bestimmter pse_163.036 Formen sind wichtig. Man spricht schablonisierend pse_163.037 von der sprachlichen Bezeichnung der Zukunft in verschiedener pse_163.038 Weise. Aber in der ursprünglichen Prägung machte es

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/179>, abgerufen am 22.11.2024.