pse_146.004 Die grundlegenden Feststellungen über die Sprache und pse_146.005 ihre Beziehung zur Dichtung sind schon im zweiten Kapitel pse_146.006 des ersten Teils gemacht worden; wir verweisen darauf pse_146.007 (S. 22-37). In der Sprache in allen ihren Seiten bringt der pse_146.008 Mensch seine gesamte Welterfahrung in eine feste Form. Sie pse_146.009 ist das Organ einer geistigen Welt, in der der Mensch den pse_146.010 Zusammenstoß mit der Außenwelt bewältigt. Wir haben pse_146.011 aber zugleich erkannt, daß in dieser sprachlichen Form auch pse_146.012 die innere Haltung, in der der jeweilige Akt der Welterfassung pse_146.013 geschehen ist, mit eingeprägt wird und bleibt. Erst pse_146.014 im Laufe der Entwicklung kann diese Seite an der Sprache, pse_146.015 die wir das Gemüthafte nennen, ausgeschaltet werden, um pse_146.016 die Sprache möglichst rein zu einem Mittel der Verständigung pse_146.017 und der Mitteilung zu machen. Aber das Gemüthafte pse_146.018 kann in anderen Sprachwerken daneben weiterbestehen. pse_146.019 Wir haben dafür als Beispiel "Wanderers Nachtlied" von pse_146.020 Goethe betrachtet (S. 291). Auf diese Weise sind wir zur Aufstellung pse_146.021 zweier Typen von Sprachwerken gekommen. Der pse_146.022 eine Typus, eine Spätform der Entwicklung, benützt die pse_146.023 Sprache ausschließlich und so gut wie möglich als Mittel zur pse_146.024 Verständigung über etwas, was außerhalb des jeweiligen pse_146.025 sprachlichen Gebildes liegt, eine Sache also: wir haben pse_146.026 ihn Sachdarstellung genannt. In ihm sind, soweit das möglich pse_146.027 ist, die inneren Haltungen ausgeschaltet. Der zweite pse_146.028 Typus, in dem die Vollkraft der Sprache erhalten bleibt und pse_146.029 in dem deshalb auch die innere menschliche Haltung beim pse_146.030 Welterfassen und -gestalten mit eingeformt ist, nennen wir pse_146.031 Sprachkunstwerk; hier weist die Sprache nicht mehr auf eine pse_146.032 Sache hin, sondern baut in sich selbst eine neue -- geistige -- pse_146.033 Welt besonderen, eben ästhetischen Gepräges auf. Dreierlei pse_146.034 sei hier aber -- nochmals -- festgestellt, um Mißverständnisse
pse_146.001
II pse_146.002 DIE SPRACHLICHEN AUFBAUKRÄFTE
pse_146.003
Sprachkunst und Stil
pse_146.004 Die grundlegenden Feststellungen über die Sprache und pse_146.005 ihre Beziehung zur Dichtung sind schon im zweiten Kapitel pse_146.006 des ersten Teils gemacht worden; wir verweisen darauf pse_146.007 (S. 22–37). In der Sprache in allen ihren Seiten bringt der pse_146.008 Mensch seine gesamte Welterfahrung in eine feste Form. Sie pse_146.009 ist das Organ einer geistigen Welt, in der der Mensch den pse_146.010 Zusammenstoß mit der Außenwelt bewältigt. Wir haben pse_146.011 aber zugleich erkannt, daß in dieser sprachlichen Form auch pse_146.012 die innere Haltung, in der der jeweilige Akt der Welterfassung pse_146.013 geschehen ist, mit eingeprägt wird und bleibt. Erst pse_146.014 im Laufe der Entwicklung kann diese Seite an der Sprache, pse_146.015 die wir das Gemüthafte nennen, ausgeschaltet werden, um pse_146.016 die Sprache möglichst rein zu einem Mittel der Verständigung pse_146.017 und der Mitteilung zu machen. Aber das Gemüthafte pse_146.018 kann in anderen Sprachwerken daneben weiterbestehen. pse_146.019 Wir haben dafür als Beispiel »Wanderers Nachtlied« von pse_146.020 Goethe betrachtet (S. 291). Auf diese Weise sind wir zur Aufstellung pse_146.021 zweier Typen von Sprachwerken gekommen. Der pse_146.022 eine Typus, eine Spätform der Entwicklung, benützt die pse_146.023 Sprache ausschließlich und so gut wie möglich als Mittel zur pse_146.024 Verständigung über etwas, was außerhalb des jeweiligen pse_146.025 sprachlichen Gebildes liegt, eine Sache also: wir haben pse_146.026 ihn Sachdarstellung genannt. In ihm sind, soweit das möglich pse_146.027 ist, die inneren Haltungen ausgeschaltet. Der zweite pse_146.028 Typus, in dem die Vollkraft der Sprache erhalten bleibt und pse_146.029 in dem deshalb auch die innere menschliche Haltung beim pse_146.030 Welterfassen und -gestalten mit eingeformt ist, nennen wir pse_146.031 Sprachkunstwerk; hier weist die Sprache nicht mehr auf eine pse_146.032 Sache hin, sondern baut in sich selbst eine neue — geistige — pse_146.033 Welt besonderen, eben ästhetischen Gepräges auf. Dreierlei pse_146.034 sei hier aber — nochmals — festgestellt, um Mißverständnisse
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[E146/0162]
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DIE SPRACHLICHEN AUFBAUKRÄFTE pse_146.003
Sprachkunst und Stil pse_146.004
Die grundlegenden Feststellungen über die Sprache und pse_146.005
ihre Beziehung zur Dichtung sind schon im zweiten Kapitel pse_146.006
des ersten Teils gemacht worden; wir verweisen darauf pse_146.007
(S. 22–37). In der Sprache in allen ihren Seiten bringt der pse_146.008
Mensch seine gesamte Welterfahrung in eine feste Form. Sie pse_146.009
ist das Organ einer geistigen Welt, in der der Mensch den pse_146.010
Zusammenstoß mit der Außenwelt bewältigt. Wir haben pse_146.011
aber zugleich erkannt, daß in dieser sprachlichen Form auch pse_146.012
die innere Haltung, in der der jeweilige Akt der Welterfassung pse_146.013
geschehen ist, mit eingeprägt wird und bleibt. Erst pse_146.014
im Laufe der Entwicklung kann diese Seite an der Sprache, pse_146.015
die wir das Gemüthafte nennen, ausgeschaltet werden, um pse_146.016
die Sprache möglichst rein zu einem Mittel der Verständigung pse_146.017
und der Mitteilung zu machen. Aber das Gemüthafte pse_146.018
kann in anderen Sprachwerken daneben weiterbestehen. pse_146.019
Wir haben dafür als Beispiel »Wanderers Nachtlied« von pse_146.020
Goethe betrachtet (S. 291). Auf diese Weise sind wir zur Aufstellung pse_146.021
zweier Typen von Sprachwerken gekommen. Der pse_146.022
eine Typus, eine Spätform der Entwicklung, benützt die pse_146.023
Sprache ausschließlich und so gut wie möglich als Mittel zur pse_146.024
Verständigung über etwas, was außerhalb des jeweiligen pse_146.025
sprachlichen Gebildes liegt, eine Sache also: wir haben pse_146.026
ihn Sachdarstellung genannt. In ihm sind, soweit das möglich pse_146.027
ist, die inneren Haltungen ausgeschaltet. Der zweite pse_146.028
Typus, in dem die Vollkraft der Sprache erhalten bleibt und pse_146.029
in dem deshalb auch die innere menschliche Haltung beim pse_146.030
Welterfassen und -gestalten mit eingeformt ist, nennen wir pse_146.031
Sprachkunstwerk; hier weist die Sprache nicht mehr auf eine pse_146.032
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/162>, abgerufen am 18.12.2024.
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