Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_137.001
oder Schaffenden verzichtet; die Verwobenheit von pse_137.002
"außen" und "innen" ist wesentlich. Diese Tatsache, daß innerste pse_137.003
menschliche Einstellungen ins Kunstwerk hineingeformt sind, pse_137.004
wird für die Gewinnung des Stilbegriffs wichtig sein.

pse_137.005
Man spricht mit Recht von einer Geschichtetheit des pse_137.006
Kunstwerks, also auch der Dichtung. Vom wahrnehmbaren pse_137.007
Gebilde bis zum tiefsten Hintergrund, der im Kunstwerk ahnbar pse_137.008
wird, wächst das Dichtwerk zur Einheit empor. Aber pse_137.009
gerade einer Dichtung gegenüber tut sich schon wieder die pse_137.010
Frage auf: was ist hier das sinnlich Gegebene? Doch sicher pse_137.011
nicht bloß der Sprachklang. Man spricht von der Anschaulichkeit pse_137.012
des sprachlich Dargestellten. Aber, wie wir sehen werden, pse_137.013
reicht das nicht aus. Wieder sind wir bei einem anderen pse_137.014
Ansatz als bei den anderen Kunstgattungen. Daher scheint die pse_137.015
Struktur hier wesentlich verwickelter zu sein als bei den pse_137.016
übrigen Künsten, wo man sagen kann, daß in ihnen in der pse_137.017
Materie der Geist erscheine. Denn die Sprache ist zwar auf der pse_137.018
einen Seite Materie, aber auf der anderen eben auch schon pse_137.019
Geist, in den Lautungsmöglichkeiten die neu aufgebaute pse_137.020
geistige Welt. Bis zu einem gewissen Grad könnte man also pse_137.021
schon die Sprache als ein Kunstwerk bezeichnen. Und dieses pse_137.022
Kunstwerk ist das Medium, der Raum der Dichtung; der pse_137.023
Ausdruck Materie wäre zu grobschlächtig. Aber auf der pse_137.024
anderen Seite steht die Tatsache der Verflachung, der Ökonomisierung pse_137.025
der Sprache als geistiges Alltagsverkehrsmittel des pse_137.026
Menschen. Wir erkennen: die anscheinend so einfache Formel, pse_137.027
auf der Spannung und den Bezugsmöglichkeiten zwischen pse_137.028
Materie und Geist, der in der Materie uns offenbar wird, pse_137.029
das ganze Gefüge eines Kunstwerkes theoretisch aufzubauen, pse_137.030
verwickelt sich bei der Dichtung sehr. Sie hat in der Sprache pse_137.031
schon ein bedeutendes Geistgebilde vor sich. Aber das bindet pse_137.032
sie in zweifacher Hinsicht: es ist bereits geformte Welt, also pse_137.033
nicht mehr ungestalteter Rohstoff, und sie ist andererseits der pse_137.034
Verflachung durch Gebrauch ausgesetzt. So zeigt sich immer pse_137.035
wieder, daß die Erkenntnis der Möglichkeiten und Werte der pse_137.036
Sprache für das Verständnis der Dichtung und ihrer Möglichkeiten pse_137.037
unerläßlich ist.

pse_137.038
Dichtung ist ein vom Menschen geschaffenes Gebilde. Das

pse_137.001
oder Schaffenden verzichtet; die Verwobenheit von pse_137.002
»außen« und »innen« ist wesentlich. Diese Tatsache, daß innerste pse_137.003
menschliche Einstellungen ins Kunstwerk hineingeformt sind, pse_137.004
wird für die Gewinnung des Stilbegriffs wichtig sein.

pse_137.005
Man spricht mit Recht von einer Geschichtetheit des pse_137.006
Kunstwerks, also auch der Dichtung. Vom wahrnehmbaren pse_137.007
Gebilde bis zum tiefsten Hintergrund, der im Kunstwerk ahnbar pse_137.008
wird, wächst das Dichtwerk zur Einheit empor. Aber pse_137.009
gerade einer Dichtung gegenüber tut sich schon wieder die pse_137.010
Frage auf: was ist hier das sinnlich Gegebene? Doch sicher pse_137.011
nicht bloß der Sprachklang. Man spricht von der Anschaulichkeit pse_137.012
des sprachlich Dargestellten. Aber, wie wir sehen werden, pse_137.013
reicht das nicht aus. Wieder sind wir bei einem anderen pse_137.014
Ansatz als bei den anderen Kunstgattungen. Daher scheint die pse_137.015
Struktur hier wesentlich verwickelter zu sein als bei den pse_137.016
übrigen Künsten, wo man sagen kann, daß in ihnen in der pse_137.017
Materie der Geist erscheine. Denn die Sprache ist zwar auf der pse_137.018
einen Seite Materie, aber auf der anderen eben auch schon pse_137.019
Geist, in den Lautungsmöglichkeiten die neu aufgebaute pse_137.020
geistige Welt. Bis zu einem gewissen Grad könnte man also pse_137.021
schon die Sprache als ein Kunstwerk bezeichnen. Und dieses pse_137.022
Kunstwerk ist das Medium, der Raum der Dichtung; der pse_137.023
Ausdruck Materie wäre zu grobschlächtig. Aber auf der pse_137.024
anderen Seite steht die Tatsache der Verflachung, der Ökonomisierung pse_137.025
der Sprache als geistiges Alltagsverkehrsmittel des pse_137.026
Menschen. Wir erkennen: die anscheinend so einfache Formel, pse_137.027
auf der Spannung und den Bezugsmöglichkeiten zwischen pse_137.028
Materie und Geist, der in der Materie uns offenbar wird, pse_137.029
das ganze Gefüge eines Kunstwerkes theoretisch aufzubauen, pse_137.030
verwickelt sich bei der Dichtung sehr. Sie hat in der Sprache pse_137.031
schon ein bedeutendes Geistgebilde vor sich. Aber das bindet pse_137.032
sie in zweifacher Hinsicht: es ist bereits geformte Welt, also pse_137.033
nicht mehr ungestalteter Rohstoff, und sie ist andererseits der pse_137.034
Verflachung durch Gebrauch ausgesetzt. So zeigt sich immer pse_137.035
wieder, daß die Erkenntnis der Möglichkeiten und Werte der pse_137.036
Sprache für das Verständnis der Dichtung und ihrer Möglichkeiten pse_137.037
unerläßlich ist.

pse_137.038
Dichtung ist ein vom Menschen geschaffenes Gebilde. Das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0153" n="137"/><lb n="pse_137.001"/>
oder Schaffenden verzichtet; die Verwobenheit von <lb n="pse_137.002"/>
»außen« und »innen« ist wesentlich. Diese Tatsache, daß innerste <lb n="pse_137.003"/>
menschliche Einstellungen ins Kunstwerk hineingeformt sind, <lb n="pse_137.004"/>
wird für die Gewinnung des Stilbegriffs wichtig sein.</p>
            <p><lb n="pse_137.005"/>
Man spricht mit Recht von einer Geschichtetheit des <lb n="pse_137.006"/>
Kunstwerks, also auch der Dichtung. Vom wahrnehmbaren <lb n="pse_137.007"/>
Gebilde bis zum tiefsten Hintergrund, der im Kunstwerk ahnbar <lb n="pse_137.008"/>
wird, wächst das Dichtwerk zur Einheit empor. Aber <lb n="pse_137.009"/>
gerade einer Dichtung gegenüber tut sich schon wieder die <lb n="pse_137.010"/>
Frage auf: was ist hier das sinnlich Gegebene? Doch sicher <lb n="pse_137.011"/>
nicht bloß der Sprachklang. Man spricht von der Anschaulichkeit <lb n="pse_137.012"/>
des sprachlich Dargestellten. Aber, wie wir sehen werden, <lb n="pse_137.013"/>
reicht das nicht aus. Wieder sind wir bei einem anderen <lb n="pse_137.014"/>
Ansatz als bei den anderen Kunstgattungen. Daher scheint die <lb n="pse_137.015"/>
Struktur hier wesentlich verwickelter zu sein als bei den <lb n="pse_137.016"/>
übrigen Künsten, wo man sagen kann, daß in ihnen in der <lb n="pse_137.017"/>
Materie der Geist erscheine. Denn die Sprache ist zwar auf der <lb n="pse_137.018"/>
einen Seite Materie, aber auf der anderen eben auch schon <lb n="pse_137.019"/>
Geist, in den Lautungsmöglichkeiten die neu aufgebaute <lb n="pse_137.020"/>
geistige Welt. Bis zu einem gewissen Grad könnte man also <lb n="pse_137.021"/>
schon die Sprache als ein Kunstwerk bezeichnen. Und dieses <lb n="pse_137.022"/>
Kunstwerk ist das Medium, der Raum der Dichtung; der <lb n="pse_137.023"/>
Ausdruck Materie wäre zu grobschlächtig. Aber auf der <lb n="pse_137.024"/>
anderen Seite steht die Tatsache der Verflachung, der Ökonomisierung <lb n="pse_137.025"/>
der Sprache als geistiges Alltagsverkehrsmittel des <lb n="pse_137.026"/>
Menschen. Wir erkennen: die anscheinend so einfache Formel, <lb n="pse_137.027"/>
auf der Spannung und den Bezugsmöglichkeiten zwischen <lb n="pse_137.028"/>
Materie und Geist, der in der Materie uns offenbar wird, <lb n="pse_137.029"/>
das ganze Gefüge eines Kunstwerkes theoretisch aufzubauen, <lb n="pse_137.030"/>
verwickelt sich bei der Dichtung sehr. Sie hat in der Sprache <lb n="pse_137.031"/>
schon ein bedeutendes Geistgebilde vor sich. Aber das bindet <lb n="pse_137.032"/>
sie in zweifacher Hinsicht: es ist bereits geformte Welt, also <lb n="pse_137.033"/>
nicht mehr ungestalteter Rohstoff, und sie ist andererseits der <lb n="pse_137.034"/>
Verflachung durch Gebrauch ausgesetzt. So zeigt sich immer <lb n="pse_137.035"/>
wieder, daß die Erkenntnis der Möglichkeiten und Werte der <lb n="pse_137.036"/>
Sprache für das Verständnis der Dichtung und ihrer Möglichkeiten <lb n="pse_137.037"/>
unerläßlich ist.</p>
            <p><lb n="pse_137.038"/>
Dichtung ist ein vom Menschen geschaffenes Gebilde. Das
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0153] pse_137.001 oder Schaffenden verzichtet; die Verwobenheit von pse_137.002 »außen« und »innen« ist wesentlich. Diese Tatsache, daß innerste pse_137.003 menschliche Einstellungen ins Kunstwerk hineingeformt sind, pse_137.004 wird für die Gewinnung des Stilbegriffs wichtig sein. pse_137.005 Man spricht mit Recht von einer Geschichtetheit des pse_137.006 Kunstwerks, also auch der Dichtung. Vom wahrnehmbaren pse_137.007 Gebilde bis zum tiefsten Hintergrund, der im Kunstwerk ahnbar pse_137.008 wird, wächst das Dichtwerk zur Einheit empor. Aber pse_137.009 gerade einer Dichtung gegenüber tut sich schon wieder die pse_137.010 Frage auf: was ist hier das sinnlich Gegebene? Doch sicher pse_137.011 nicht bloß der Sprachklang. Man spricht von der Anschaulichkeit pse_137.012 des sprachlich Dargestellten. Aber, wie wir sehen werden, pse_137.013 reicht das nicht aus. Wieder sind wir bei einem anderen pse_137.014 Ansatz als bei den anderen Kunstgattungen. Daher scheint die pse_137.015 Struktur hier wesentlich verwickelter zu sein als bei den pse_137.016 übrigen Künsten, wo man sagen kann, daß in ihnen in der pse_137.017 Materie der Geist erscheine. Denn die Sprache ist zwar auf der pse_137.018 einen Seite Materie, aber auf der anderen eben auch schon pse_137.019 Geist, in den Lautungsmöglichkeiten die neu aufgebaute pse_137.020 geistige Welt. Bis zu einem gewissen Grad könnte man also pse_137.021 schon die Sprache als ein Kunstwerk bezeichnen. Und dieses pse_137.022 Kunstwerk ist das Medium, der Raum der Dichtung; der pse_137.023 Ausdruck Materie wäre zu grobschlächtig. Aber auf der pse_137.024 anderen Seite steht die Tatsache der Verflachung, der Ökonomisierung pse_137.025 der Sprache als geistiges Alltagsverkehrsmittel des pse_137.026 Menschen. Wir erkennen: die anscheinend so einfache Formel, pse_137.027 auf der Spannung und den Bezugsmöglichkeiten zwischen pse_137.028 Materie und Geist, der in der Materie uns offenbar wird, pse_137.029 das ganze Gefüge eines Kunstwerkes theoretisch aufzubauen, pse_137.030 verwickelt sich bei der Dichtung sehr. Sie hat in der Sprache pse_137.031 schon ein bedeutendes Geistgebilde vor sich. Aber das bindet pse_137.032 sie in zweifacher Hinsicht: es ist bereits geformte Welt, also pse_137.033 nicht mehr ungestalteter Rohstoff, und sie ist andererseits der pse_137.034 Verflachung durch Gebrauch ausgesetzt. So zeigt sich immer pse_137.035 wieder, daß die Erkenntnis der Möglichkeiten und Werte der pse_137.036 Sprache für das Verständnis der Dichtung und ihrer Möglichkeiten pse_137.037 unerläßlich ist. pse_137.038 Dichtung ist ein vom Menschen geschaffenes Gebilde. Das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/153
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/153>, abgerufen am 24.11.2024.