pse_124.001 Aber zugleich kann die Betrachtung des Weltbildes uns auch pse_124.002 blind für die künstlerischen Eigenarten machen -- und damit pse_124.003 würden wir die Wertung des Werkes völlig verfehlen. pse_124.004 Erfassung des Weltbildes ist also notwendig, aber zugleich pse_124.005 gefährlich, besonders wenn es zu sehr als für sich bestehend pse_124.006 von der künstlerischen Seite abgetrennt wird.
pse_124.007 Unter diesen Voraussetzungen müssen die folgenden Beobachtungen pse_124.008 stehen: Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß pse_124.009 die angeführten Gegensatzpaare von Eigenschaften des dichterischen pse_124.010 Weltbildes zugleich einen Wertunterschied ausmachen pse_124.011 und wo der höhere Grad an Werthaftigkeit liegt. Auch sei pse_124.012 betont, daß zwischen diesen Polen Übergänge denkbar sind. pse_124.013 Die Möglichkeiten, die sich aus der Kombination dieser pse_124.014 Gruppen ergeben, seien nicht im einzelnen betrachtet, sie sind pse_124.015 ohne weiteres ableitbar. Wir unterscheiden in bezug auf das pse_124.016 dichterische Weltbild vor allem vier Merkmale, die sich je in pse_124.017 Gegensatzpaare aufgliedern: 1. Umfang und Knappheit. Damit pse_124.018 meinen wir, daß ein Roman, etwa "Wilhelm Meister" oder pse_124.019 "Don Quijote", mehr Stoffliches einfügen kann als ein pse_124.020 kleines Gedicht. Man wird diese Tatsache bei der Wertung pse_124.021 immer berücksichtigen, aber zugleich beachten müssen, daß pse_124.022 Umfang gegenüber Knappheit noch kein Werturteil an sich pse_124.023 zuläßt. Ein Wertvergleich zwischen einem Gedicht und einem pse_124.024 Roman auf Grund des verschiedenen Umfangs ist unmöglich, pse_124.025 ja lächerlich. Hier schaltet sich als wichtiger ein zweites Paar pse_124.026 ein. 2. Weite und Enge. Wir stellen etwa Goethes "Faust" und pse_124.027 Mörikes "Septembermorgen" gegenüber. In der Faustdichtung pse_124.028 entfaltet sich ein ungeheurer Reichtum von Erlebnissen, nach pse_124.029 den verschiedensten Richtungen wird die Welt gesehen, in pse_124.030 der verschiedensten Weise wird sie in dieser Dichtung geordnet. pse_124.031 Man dringt hier von einem großen Kreisbogen aus in pse_124.032 die Mitte der Welt, die beleuchtete Fläche der Welt ist weit. pse_124.033 In Mörikes Gedicht ist von einer ganz engen Stelle aus, von pse_124.034 einem Punkt der Landschaft, in einem jahreszeitlich und tageszeitlich pse_124.035 bestimmten Augenblick ein Blick in die Welt getan: pse_124.036 nur von einem Punkt gleichsam der Peripherie wird die Mitte pse_124.037 angeleuchtet, ein Strahl, keine Fläche. Die menschliche Überwältigung pse_124.038 durch eine Dichtung mit weitem Weltbild wird
pse_124.001 Aber zugleich kann die Betrachtung des Weltbildes uns auch pse_124.002 blind für die künstlerischen Eigenarten machen — und damit pse_124.003 würden wir die Wertung des Werkes völlig verfehlen. pse_124.004 Erfassung des Weltbildes ist also notwendig, aber zugleich pse_124.005 gefährlich, besonders wenn es zu sehr als für sich bestehend pse_124.006 von der künstlerischen Seite abgetrennt wird.
pse_124.007 Unter diesen Voraussetzungen müssen die folgenden Beobachtungen pse_124.008 stehen: Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß pse_124.009 die angeführten Gegensatzpaare von Eigenschaften des dichterischen pse_124.010 Weltbildes zugleich einen Wertunterschied ausmachen pse_124.011 und wo der höhere Grad an Werthaftigkeit liegt. Auch sei pse_124.012 betont, daß zwischen diesen Polen Übergänge denkbar sind. pse_124.013 Die Möglichkeiten, die sich aus der Kombination dieser pse_124.014 Gruppen ergeben, seien nicht im einzelnen betrachtet, sie sind pse_124.015 ohne weiteres ableitbar. Wir unterscheiden in bezug auf das pse_124.016 dichterische Weltbild vor allem vier Merkmale, die sich je in pse_124.017 Gegensatzpaare aufgliedern: 1. Umfang und Knappheit. Damit pse_124.018 meinen wir, daß ein Roman, etwa »Wilhelm Meister« oder pse_124.019 »Don Quijote«, mehr Stoffliches einfügen kann als ein pse_124.020 kleines Gedicht. Man wird diese Tatsache bei der Wertung pse_124.021 immer berücksichtigen, aber zugleich beachten müssen, daß pse_124.022 Umfang gegenüber Knappheit noch kein Werturteil an sich pse_124.023 zuläßt. Ein Wertvergleich zwischen einem Gedicht und einem pse_124.024 Roman auf Grund des verschiedenen Umfangs ist unmöglich, pse_124.025 ja lächerlich. Hier schaltet sich als wichtiger ein zweites Paar pse_124.026 ein. 2. Weite und Enge. Wir stellen etwa Goethes »Faust« und pse_124.027 Mörikes »Septembermorgen« gegenüber. In der Faustdichtung pse_124.028 entfaltet sich ein ungeheurer Reichtum von Erlebnissen, nach pse_124.029 den verschiedensten Richtungen wird die Welt gesehen, in pse_124.030 der verschiedensten Weise wird sie in dieser Dichtung geordnet. pse_124.031 Man dringt hier von einem großen Kreisbogen aus in pse_124.032 die Mitte der Welt, die beleuchtete Fläche der Welt ist weit. pse_124.033 In Mörikes Gedicht ist von einer ganz engen Stelle aus, von pse_124.034 einem Punkt der Landschaft, in einem jahreszeitlich und tageszeitlich pse_124.035 bestimmten Augenblick ein Blick in die Welt getan: pse_124.036 nur von einem Punkt gleichsam der Peripherie wird die Mitte pse_124.037 angeleuchtet, ein Strahl, keine Fläche. Die menschliche Überwältigung pse_124.038 durch eine Dichtung mit weitem Weltbild wird
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0140"n="124"/><lbn="pse_124.001"/>
Aber zugleich kann die Betrachtung des Weltbildes uns auch <lbn="pse_124.002"/>
blind für die künstlerischen Eigenarten machen — und damit <lbn="pse_124.003"/>
würden wir die Wertung des Werkes völlig verfehlen. <lbn="pse_124.004"/>
Erfassung des Weltbildes ist also notwendig, aber zugleich <lbn="pse_124.005"/>
gefährlich, besonders wenn es zu sehr als für sich bestehend <lbn="pse_124.006"/>
von der künstlerischen Seite abgetrennt wird.</p><p><lbn="pse_124.007"/>
Unter diesen Voraussetzungen müssen die folgenden Beobachtungen <lbn="pse_124.008"/>
stehen: Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß <lbn="pse_124.009"/>
die angeführten Gegensatzpaare von Eigenschaften des dichterischen <lbn="pse_124.010"/>
Weltbildes zugleich einen Wertunterschied ausmachen <lbn="pse_124.011"/>
und wo der höhere Grad an Werthaftigkeit liegt. Auch sei <lbn="pse_124.012"/>
betont, daß zwischen diesen Polen Übergänge denkbar sind. <lbn="pse_124.013"/>
Die Möglichkeiten, die sich aus der Kombination dieser <lbn="pse_124.014"/>
Gruppen ergeben, seien nicht im einzelnen betrachtet, sie sind <lbn="pse_124.015"/>
ohne weiteres ableitbar. Wir unterscheiden in bezug auf das <lbn="pse_124.016"/>
dichterische Weltbild vor allem vier Merkmale, die sich je in <lbn="pse_124.017"/>
Gegensatzpaare aufgliedern: 1. <hirendition="#i">Umfang und Knappheit.</hi> Damit <lbn="pse_124.018"/>
meinen wir, daß ein Roman, etwa »Wilhelm Meister« oder <lbn="pse_124.019"/>
»Don Quijote«, mehr Stoffliches einfügen kann als ein <lbn="pse_124.020"/>
kleines Gedicht. Man wird diese Tatsache bei der Wertung <lbn="pse_124.021"/>
immer berücksichtigen, aber zugleich beachten müssen, daß <lbn="pse_124.022"/>
Umfang gegenüber Knappheit noch kein Werturteil an sich <lbn="pse_124.023"/>
zuläßt. Ein Wertvergleich zwischen einem Gedicht und einem <lbn="pse_124.024"/>
Roman auf Grund des verschiedenen Umfangs ist unmöglich, <lbn="pse_124.025"/>
ja lächerlich. Hier schaltet sich als wichtiger ein zweites Paar <lbn="pse_124.026"/>
ein. 2. <hirendition="#i">Weite und Enge.</hi> Wir stellen etwa Goethes »Faust« und <lbn="pse_124.027"/>
Mörikes »Septembermorgen« gegenüber. In der Faustdichtung <lbn="pse_124.028"/>
entfaltet sich ein ungeheurer Reichtum von Erlebnissen, nach <lbn="pse_124.029"/>
den verschiedensten Richtungen wird die Welt gesehen, in <lbn="pse_124.030"/>
der verschiedensten Weise wird sie in dieser Dichtung geordnet. <lbn="pse_124.031"/>
Man dringt hier von einem großen Kreisbogen aus in <lbn="pse_124.032"/>
die Mitte der Welt, die beleuchtete Fläche der Welt ist weit. <lbn="pse_124.033"/>
In Mörikes Gedicht ist von einer ganz engen Stelle aus, von <lbn="pse_124.034"/>
einem Punkt der Landschaft, in einem jahreszeitlich und tageszeitlich <lbn="pse_124.035"/>
bestimmten Augenblick ein Blick in die Welt getan: <lbn="pse_124.036"/>
nur von einem Punkt gleichsam der Peripherie wird die Mitte <lbn="pse_124.037"/>
angeleuchtet, ein Strahl, keine Fläche. Die menschliche Überwältigung <lbn="pse_124.038"/>
durch eine Dichtung mit weitem Weltbild wird
</p></div></div></body></text></TEI>
[124/0140]
pse_124.001
Aber zugleich kann die Betrachtung des Weltbildes uns auch pse_124.002
blind für die künstlerischen Eigenarten machen — und damit pse_124.003
würden wir die Wertung des Werkes völlig verfehlen. pse_124.004
Erfassung des Weltbildes ist also notwendig, aber zugleich pse_124.005
gefährlich, besonders wenn es zu sehr als für sich bestehend pse_124.006
von der künstlerischen Seite abgetrennt wird.
pse_124.007
Unter diesen Voraussetzungen müssen die folgenden Beobachtungen pse_124.008
stehen: Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß pse_124.009
die angeführten Gegensatzpaare von Eigenschaften des dichterischen pse_124.010
Weltbildes zugleich einen Wertunterschied ausmachen pse_124.011
und wo der höhere Grad an Werthaftigkeit liegt. Auch sei pse_124.012
betont, daß zwischen diesen Polen Übergänge denkbar sind. pse_124.013
Die Möglichkeiten, die sich aus der Kombination dieser pse_124.014
Gruppen ergeben, seien nicht im einzelnen betrachtet, sie sind pse_124.015
ohne weiteres ableitbar. Wir unterscheiden in bezug auf das pse_124.016
dichterische Weltbild vor allem vier Merkmale, die sich je in pse_124.017
Gegensatzpaare aufgliedern: 1. Umfang und Knappheit. Damit pse_124.018
meinen wir, daß ein Roman, etwa »Wilhelm Meister« oder pse_124.019
»Don Quijote«, mehr Stoffliches einfügen kann als ein pse_124.020
kleines Gedicht. Man wird diese Tatsache bei der Wertung pse_124.021
immer berücksichtigen, aber zugleich beachten müssen, daß pse_124.022
Umfang gegenüber Knappheit noch kein Werturteil an sich pse_124.023
zuläßt. Ein Wertvergleich zwischen einem Gedicht und einem pse_124.024
Roman auf Grund des verschiedenen Umfangs ist unmöglich, pse_124.025
ja lächerlich. Hier schaltet sich als wichtiger ein zweites Paar pse_124.026
ein. 2. Weite und Enge. Wir stellen etwa Goethes »Faust« und pse_124.027
Mörikes »Septembermorgen« gegenüber. In der Faustdichtung pse_124.028
entfaltet sich ein ungeheurer Reichtum von Erlebnissen, nach pse_124.029
den verschiedensten Richtungen wird die Welt gesehen, in pse_124.030
der verschiedensten Weise wird sie in dieser Dichtung geordnet. pse_124.031
Man dringt hier von einem großen Kreisbogen aus in pse_124.032
die Mitte der Welt, die beleuchtete Fläche der Welt ist weit. pse_124.033
In Mörikes Gedicht ist von einer ganz engen Stelle aus, von pse_124.034
einem Punkt der Landschaft, in einem jahreszeitlich und tageszeitlich pse_124.035
bestimmten Augenblick ein Blick in die Welt getan: pse_124.036
nur von einem Punkt gleichsam der Peripherie wird die Mitte pse_124.037
angeleuchtet, ein Strahl, keine Fläche. Die menschliche Überwältigung pse_124.038
durch eine Dichtung mit weitem Weltbild wird
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/140>, abgerufen am 09.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.