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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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jedes kleinste Gedicht mit einem solchen in Zusammenhang pse_122.002
gebracht werden?

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In jedem Gedicht, gleichgültig welchen Umfangs, wird im pse_122.004
weitesten Sinn eine Weltbegegnung eines schöpferischen pse_122.005
Menschen sprachliche Gestalt. Im kleinsten Volkslied ist ein pse_122.006
Schimmer oder -- nüchtern gesprochen -- ein Ausschnitt davon pse_122.007
spürbar. Denken wir an Uhlands Lied vom guten Kameraden. pse_122.008
Drei Motive klingen gerade in der Knappheit und Schlichtheit pse_122.009
der sprachlichen Form wunderbar zusammen: das tiefe pse_122.010
Glück der Menschengemeinschaft in der unauflöslichen Bindung pse_122.011
eines Ich ans Du; die Not und Gefahr des Lebens, die pse_122.012
zerstörend wirken kann; der Blick aufs Jenseits, das die Gemeinschaft pse_122.013
erst vollenden wird. Das trennt nüchtern, was vor pse_122.014
allem in der letzten Strophe voll zusammenklingt:

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Will mir die Hand noch reichen, pse_122.016
Derweil ich eben lad: pse_122.017
Kann dir die Hand nicht geben; pse_122.018
Bleib du im ew'gen Leben pse_122.019
Mein guter Kamerad!
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Im kleinsten ist hier geformt, was eine bestimmte Weltsicht pse_122.021
durchscheinen läßt. Ganz anders in Hesses "Glasperlenspiel"; pse_122.022
aber auch hier wird ein Weltbild lebendig, das uns bis ins pse_122.023
Letzte durchschauen läßt: auf die Spannungen und Zusammenhänge pse_122.024
zwischen dem Leben in seiner Fülle und der pse_122.025
geistigen Ordnung über ihm. Und wieder ganz verschieden pse_122.026
etwa Kleists "Penthesilea". Jedesmal aber ist im dichterischen pse_122.027
Kunstwerk ein Stück Welt gestalthaft lebendig, das uns die pse_122.028
Tiefe der Welt erahnen läßt und sie aus einem Innersten pse_122.029
ordnet und fügt.

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Schwer ist es, in theoretischen Mitteilungen das in einer pse_122.031
Dichtung lebende Weltbild zu beschreiben. Ausgangspunkt pse_122.032
auch jeder theoretischen Äußerung muß das volle Erleben der pse_122.033
Dichtung sein; in diesem Erleben der ganzen Fülle und des pse_122.034
inneren Reichtums eines Gedichtes geht uns auch sein Weltbild pse_122.035
auf. Wenn wir dieses Weltbild einer Dichtung allein in pse_122.036
den Blick bekommen wollen, um es zu beschreiben, bleibt pse_122.037
immer die Gefahr, daß wir vieles und Wichtiges dabei aussondern pse_122.038
und damit doch wieder das Weltbild als Ganzes

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jedes kleinste Gedicht mit einem solchen in Zusammenhang pse_122.002
gebracht werden?

pse_122.003
In jedem Gedicht, gleichgültig welchen Umfangs, wird im pse_122.004
weitesten Sinn eine Weltbegegnung eines schöpferischen pse_122.005
Menschen sprachliche Gestalt. Im kleinsten Volkslied ist ein pse_122.006
Schimmer oder — nüchtern gesprochen — ein Ausschnitt davon pse_122.007
spürbar. Denken wir an Uhlands Lied vom guten Kameraden. pse_122.008
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der sprachlichen Form wunderbar zusammen: das tiefe pse_122.010
Glück der Menschengemeinschaft in der unauflöslichen Bindung pse_122.011
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zerstörend wirken kann; der Blick aufs Jenseits, das die Gemeinschaft pse_122.013
erst vollenden wird. Das trennt nüchtern, was vor pse_122.014
allem in der letzten Strophe voll zusammenklingt:

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Will mir die Hand noch reichen, pse_122.016
Derweil ich eben lad: pse_122.017
Kann dir die Hand nicht geben; pse_122.018
Bleib du im ew'gen Leben pse_122.019
Mein guter Kamerad!
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Im kleinsten ist hier geformt, was eine bestimmte Weltsicht pse_122.021
durchscheinen läßt. Ganz anders in Hesses »Glasperlenspiel«; pse_122.022
aber auch hier wird ein Weltbild lebendig, das uns bis ins pse_122.023
Letzte durchschauen läßt: auf die Spannungen und Zusammenhänge pse_122.024
zwischen dem Leben in seiner Fülle und der pse_122.025
geistigen Ordnung über ihm. Und wieder ganz verschieden pse_122.026
etwa Kleists »Penthesilea«. Jedesmal aber ist im dichterischen pse_122.027
Kunstwerk ein Stück Welt gestalthaft lebendig, das uns die pse_122.028
Tiefe der Welt erahnen läßt und sie aus einem Innersten pse_122.029
ordnet und fügt.

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Schwer ist es, in theoretischen Mitteilungen das in einer pse_122.031
Dichtung lebende Weltbild zu beschreiben. Ausgangspunkt pse_122.032
auch jeder theoretischen Äußerung muß das volle Erleben der pse_122.033
Dichtung sein; in diesem Erleben der ganzen Fülle und des pse_122.034
inneren Reichtums eines Gedichtes geht uns auch sein Weltbild pse_122.035
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den Blick bekommen wollen, um es zu beschreiben, bleibt pse_122.037
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[122/0138] pse_122.001 jedes kleinste Gedicht mit einem solchen in Zusammenhang pse_122.002 gebracht werden? pse_122.003 In jedem Gedicht, gleichgültig welchen Umfangs, wird im pse_122.004 weitesten Sinn eine Weltbegegnung eines schöpferischen pse_122.005 Menschen sprachliche Gestalt. Im kleinsten Volkslied ist ein pse_122.006 Schimmer oder — nüchtern gesprochen — ein Ausschnitt davon pse_122.007 spürbar. Denken wir an Uhlands Lied vom guten Kameraden. pse_122.008 Drei Motive klingen gerade in der Knappheit und Schlichtheit pse_122.009 der sprachlichen Form wunderbar zusammen: das tiefe pse_122.010 Glück der Menschengemeinschaft in der unauflöslichen Bindung pse_122.011 eines Ich ans Du; die Not und Gefahr des Lebens, die pse_122.012 zerstörend wirken kann; der Blick aufs Jenseits, das die Gemeinschaft pse_122.013 erst vollenden wird. Das trennt nüchtern, was vor pse_122.014 allem in der letzten Strophe voll zusammenklingt: pse_122.015 Will mir die Hand noch reichen, pse_122.016 Derweil ich eben lad: pse_122.017 Kann dir die Hand nicht geben; pse_122.018 Bleib du im ew'gen Leben pse_122.019 Mein guter Kamerad! pse_122.020 Im kleinsten ist hier geformt, was eine bestimmte Weltsicht pse_122.021 durchscheinen läßt. Ganz anders in Hesses »Glasperlenspiel«; pse_122.022 aber auch hier wird ein Weltbild lebendig, das uns bis ins pse_122.023 Letzte durchschauen läßt: auf die Spannungen und Zusammenhänge pse_122.024 zwischen dem Leben in seiner Fülle und der pse_122.025 geistigen Ordnung über ihm. Und wieder ganz verschieden pse_122.026 etwa Kleists »Penthesilea«. Jedesmal aber ist im dichterischen pse_122.027 Kunstwerk ein Stück Welt gestalthaft lebendig, das uns die pse_122.028 Tiefe der Welt erahnen läßt und sie aus einem Innersten pse_122.029 ordnet und fügt. pse_122.030 Schwer ist es, in theoretischen Mitteilungen das in einer pse_122.031 Dichtung lebende Weltbild zu beschreiben. Ausgangspunkt pse_122.032 auch jeder theoretischen Äußerung muß das volle Erleben der pse_122.033 Dichtung sein; in diesem Erleben der ganzen Fülle und des pse_122.034 inneren Reichtums eines Gedichtes geht uns auch sein Weltbild pse_122.035 auf. Wenn wir dieses Weltbild einer Dichtung allein in pse_122.036 den Blick bekommen wollen, um es zu beschreiben, bleibt pse_122.037 immer die Gefahr, daß wir vieles und Wichtiges dabei aussondern pse_122.038 und damit doch wieder das Weltbild als Ganzes

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/138>, abgerufen am 21.11.2024.