Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_116.001
Die komische Wirkung hört sofort auf, wenn aus pse_116.002
dem Fall Ernst wird; wenn sich also Adam das Leben genommen pse_116.003
hätte, weil er die Schande nicht erträgt (das will pse_116.004
sogar der Gerichtsrat Walter verhindern, ein deutliches Zeichen pse_116.005
der Einsicht Kleists) oder wenn sich der Sterngucker das pse_116.006
Genick gebrochen hätte. Und ein weiteres: der komische pse_116.007
Bereich verbleibt immer ganz im Innerweltlichen, es fehlt pse_116.008
jede Transzendenz. Unsere Reaktion auf das Komische ist pse_116.009
das befreiende Lachen, dadurch wird die widersprüchliche pse_116.010
Situation bewältigt. In ihm eben offenbart sich die geistige pse_116.011
Überlegenheit, durch die wir Herr einer Lage werden, die pse_116.012
für uns Menschen ja meist etwas blamabel ist.

pse_116.013
Eine merkwürdige Verbindung liegt in der Tragikomik pse_116.014
vor. Der Ausdruck ist nicht eindeutig. Man meint damit oft pse_116.015
das unverbundene Nebeneinandertreten von Tragik und pse_116.016
Komik in einer Dichtung. Das kann Ausdruck innerer Unruhe pse_116.017
und Zerrissenheit sein, aber auch ein weitgespanntes pse_116.018
Vermögen offenbaren, die Welt in ihren Möglichkeiten zu pse_116.019
sehen, in unheimlicher Zwielichtigkeit das Tragische und pse_116.020
Komische in ihrer Struktur zugleich aufleuchten zu lassen. pse_116.021
Geschichtlich bedingt ist der Gebrauch für die bürgerliche pse_116.022
Tragödie im 18. Jahrhundert: denn Bürgerliches konnte pse_116.023
nach damaliger Ansicht nur komisch gesehen werden, auch pse_116.024
wenn Erschütterndes einfließt. Wichtiger aber sind drei pse_116.025
tiefer führende Möglichkeiten, in denen sich Tragisches und pse_116.026
Komisches verbinden können. Die eine ist das Umschlagen pse_116.027
echter Tragik in Komik. Es ist dann so, daß vielfach Komik pse_116.028
das tragische Geschehen begleitet und in gewissen Augenblicken pse_116.029
völlig durchbricht. Wir finden das vor allem in den pse_116.030
Narrengestalten in den Tragödien Shakespeares. Der Dichter pse_116.031
reißt damit eine andere Sicht auf die Welt auf, sie erscheint pse_116.032
plötzlich in grellem komischem Licht. Auf solchem Hintergrund pse_116.033
wirkt dann das Tragische um so erschütternder. Die pse_116.034
andere liegt vor, wo Komik plötzlich tragische Auswirkungen pse_116.035
hat. Wir haben das schon angedeutet, wenn wir sagten, pse_116.036
daß die Komik aufhöre, wenn die Folgen des komischen pse_116.037
Falles ernst würden. Bis zu einem gewissen Grad ist ja auch pse_116.038
der Ausgangspunkt des "König Lear" komisch: ein schrulliger

pse_116.001
Die komische Wirkung hört sofort auf, wenn aus pse_116.002
dem Fall Ernst wird; wenn sich also Adam das Leben genommen pse_116.003
hätte, weil er die Schande nicht erträgt (das will pse_116.004
sogar der Gerichtsrat Walter verhindern, ein deutliches Zeichen pse_116.005
der Einsicht Kleists) oder wenn sich der Sterngucker das pse_116.006
Genick gebrochen hätte. Und ein weiteres: der komische pse_116.007
Bereich verbleibt immer ganz im Innerweltlichen, es fehlt pse_116.008
jede Transzendenz. Unsere Reaktion auf das Komische ist pse_116.009
das befreiende Lachen, dadurch wird die widersprüchliche pse_116.010
Situation bewältigt. In ihm eben offenbart sich die geistige pse_116.011
Überlegenheit, durch die wir Herr einer Lage werden, die pse_116.012
für uns Menschen ja meist etwas blamabel ist.

pse_116.013
Eine merkwürdige Verbindung liegt in der Tragikomik pse_116.014
vor. Der Ausdruck ist nicht eindeutig. Man meint damit oft pse_116.015
das unverbundene Nebeneinandertreten von Tragik und pse_116.016
Komik in einer Dichtung. Das kann Ausdruck innerer Unruhe pse_116.017
und Zerrissenheit sein, aber auch ein weitgespanntes pse_116.018
Vermögen offenbaren, die Welt in ihren Möglichkeiten zu pse_116.019
sehen, in unheimlicher Zwielichtigkeit das Tragische und pse_116.020
Komische in ihrer Struktur zugleich aufleuchten zu lassen. pse_116.021
Geschichtlich bedingt ist der Gebrauch für die bürgerliche pse_116.022
Tragödie im 18. Jahrhundert: denn Bürgerliches konnte pse_116.023
nach damaliger Ansicht nur komisch gesehen werden, auch pse_116.024
wenn Erschütterndes einfließt. Wichtiger aber sind drei pse_116.025
tiefer führende Möglichkeiten, in denen sich Tragisches und pse_116.026
Komisches verbinden können. Die eine ist das Umschlagen pse_116.027
echter Tragik in Komik. Es ist dann so, daß vielfach Komik pse_116.028
das tragische Geschehen begleitet und in gewissen Augenblicken pse_116.029
völlig durchbricht. Wir finden das vor allem in den pse_116.030
Narrengestalten in den Tragödien Shakespeares. Der Dichter pse_116.031
reißt damit eine andere Sicht auf die Welt auf, sie erscheint pse_116.032
plötzlich in grellem komischem Licht. Auf solchem Hintergrund pse_116.033
wirkt dann das Tragische um so erschütternder. Die pse_116.034
andere liegt vor, wo Komik plötzlich tragische Auswirkungen pse_116.035
hat. Wir haben das schon angedeutet, wenn wir sagten, pse_116.036
daß die Komik aufhöre, wenn die Folgen des komischen pse_116.037
Falles ernst würden. Bis zu einem gewissen Grad ist ja auch pse_116.038
der Ausgangspunkt des »König Lear« komisch: ein schrulliger

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0132" n="116"/><lb n="pse_116.001"/>
Die komische Wirkung hört sofort auf, wenn aus <lb n="pse_116.002"/>
dem Fall Ernst wird; wenn sich also Adam das Leben genommen <lb n="pse_116.003"/>
hätte, weil er die Schande nicht erträgt (das will <lb n="pse_116.004"/>
sogar der Gerichtsrat Walter verhindern, ein deutliches Zeichen <lb n="pse_116.005"/>
der Einsicht Kleists) oder wenn sich der Sterngucker das <lb n="pse_116.006"/>
Genick gebrochen hätte. Und ein weiteres: der komische <lb n="pse_116.007"/>
Bereich verbleibt immer ganz im Innerweltlichen, es fehlt <lb n="pse_116.008"/>
jede Transzendenz. Unsere Reaktion auf das Komische ist <lb n="pse_116.009"/>
das befreiende Lachen, dadurch wird die widersprüchliche <lb n="pse_116.010"/>
Situation bewältigt. In ihm eben offenbart sich die geistige <lb n="pse_116.011"/>
Überlegenheit, durch die wir Herr einer Lage werden, die <lb n="pse_116.012"/>
für uns Menschen ja meist etwas blamabel ist.</p>
            <p><lb n="pse_116.013"/>
Eine merkwürdige Verbindung liegt in der <hi rendition="#i">Tragikomik</hi> <lb n="pse_116.014"/>
vor. Der Ausdruck ist nicht eindeutig. Man meint damit oft <lb n="pse_116.015"/>
das unverbundene Nebeneinandertreten von Tragik und <lb n="pse_116.016"/>
Komik in einer Dichtung. Das kann Ausdruck innerer Unruhe <lb n="pse_116.017"/>
und Zerrissenheit sein, aber auch ein weitgespanntes <lb n="pse_116.018"/>
Vermögen offenbaren, die Welt in ihren Möglichkeiten zu <lb n="pse_116.019"/>
sehen, in unheimlicher Zwielichtigkeit das Tragische und <lb n="pse_116.020"/>
Komische in ihrer Struktur zugleich aufleuchten zu lassen. <lb n="pse_116.021"/>
Geschichtlich bedingt ist der Gebrauch für die bürgerliche <lb n="pse_116.022"/>
Tragödie im 18. Jahrhundert: denn Bürgerliches konnte <lb n="pse_116.023"/>
nach damaliger Ansicht nur komisch gesehen werden, auch <lb n="pse_116.024"/>
wenn Erschütterndes einfließt. Wichtiger aber sind drei <lb n="pse_116.025"/>
tiefer führende Möglichkeiten, in denen sich Tragisches und <lb n="pse_116.026"/>
Komisches verbinden können. Die eine ist das Umschlagen <lb n="pse_116.027"/>
echter Tragik in Komik. Es ist dann so, daß vielfach Komik <lb n="pse_116.028"/>
das tragische Geschehen begleitet und in gewissen Augenblicken <lb n="pse_116.029"/>
völlig durchbricht. Wir finden das vor allem in den <lb n="pse_116.030"/>
Narrengestalten in den Tragödien Shakespeares. Der Dichter <lb n="pse_116.031"/>
reißt damit eine andere Sicht auf die Welt auf, sie erscheint <lb n="pse_116.032"/>
plötzlich in grellem komischem Licht. Auf solchem Hintergrund <lb n="pse_116.033"/>
wirkt dann das Tragische um so erschütternder. Die <lb n="pse_116.034"/>
andere liegt vor, wo Komik plötzlich tragische Auswirkungen <lb n="pse_116.035"/>
hat. Wir haben das schon angedeutet, wenn wir sagten, <lb n="pse_116.036"/>
daß die Komik aufhöre, wenn die Folgen des komischen <lb n="pse_116.037"/>
Falles ernst würden. Bis zu einem gewissen Grad ist ja auch <lb n="pse_116.038"/>
der Ausgangspunkt des »König Lear« komisch: ein schrulliger
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0132] pse_116.001 Die komische Wirkung hört sofort auf, wenn aus pse_116.002 dem Fall Ernst wird; wenn sich also Adam das Leben genommen pse_116.003 hätte, weil er die Schande nicht erträgt (das will pse_116.004 sogar der Gerichtsrat Walter verhindern, ein deutliches Zeichen pse_116.005 der Einsicht Kleists) oder wenn sich der Sterngucker das pse_116.006 Genick gebrochen hätte. Und ein weiteres: der komische pse_116.007 Bereich verbleibt immer ganz im Innerweltlichen, es fehlt pse_116.008 jede Transzendenz. Unsere Reaktion auf das Komische ist pse_116.009 das befreiende Lachen, dadurch wird die widersprüchliche pse_116.010 Situation bewältigt. In ihm eben offenbart sich die geistige pse_116.011 Überlegenheit, durch die wir Herr einer Lage werden, die pse_116.012 für uns Menschen ja meist etwas blamabel ist. pse_116.013 Eine merkwürdige Verbindung liegt in der Tragikomik pse_116.014 vor. Der Ausdruck ist nicht eindeutig. Man meint damit oft pse_116.015 das unverbundene Nebeneinandertreten von Tragik und pse_116.016 Komik in einer Dichtung. Das kann Ausdruck innerer Unruhe pse_116.017 und Zerrissenheit sein, aber auch ein weitgespanntes pse_116.018 Vermögen offenbaren, die Welt in ihren Möglichkeiten zu pse_116.019 sehen, in unheimlicher Zwielichtigkeit das Tragische und pse_116.020 Komische in ihrer Struktur zugleich aufleuchten zu lassen. pse_116.021 Geschichtlich bedingt ist der Gebrauch für die bürgerliche pse_116.022 Tragödie im 18. Jahrhundert: denn Bürgerliches konnte pse_116.023 nach damaliger Ansicht nur komisch gesehen werden, auch pse_116.024 wenn Erschütterndes einfließt. Wichtiger aber sind drei pse_116.025 tiefer führende Möglichkeiten, in denen sich Tragisches und pse_116.026 Komisches verbinden können. Die eine ist das Umschlagen pse_116.027 echter Tragik in Komik. Es ist dann so, daß vielfach Komik pse_116.028 das tragische Geschehen begleitet und in gewissen Augenblicken pse_116.029 völlig durchbricht. Wir finden das vor allem in den pse_116.030 Narrengestalten in den Tragödien Shakespeares. Der Dichter pse_116.031 reißt damit eine andere Sicht auf die Welt auf, sie erscheint pse_116.032 plötzlich in grellem komischem Licht. Auf solchem Hintergrund pse_116.033 wirkt dann das Tragische um so erschütternder. Die pse_116.034 andere liegt vor, wo Komik plötzlich tragische Auswirkungen pse_116.035 hat. Wir haben das schon angedeutet, wenn wir sagten, pse_116.036 daß die Komik aufhöre, wenn die Folgen des komischen pse_116.037 Falles ernst würden. Bis zu einem gewissen Grad ist ja auch pse_116.038 der Ausgangspunkt des »König Lear« komisch: ein schrulliger

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/132
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/132>, abgerufen am 21.11.2024.