pse_102.001 sich nicht nur Unterschiede in der dauernden Grundgestimmtheit pse_102.002 von Menschen, sondern auch solche der Größe pse_102.003 und Tiefe des Menschentums; man vergleiche Tragödien pse_102.004 von Kleist und von Raupach.
pse_102.005 Bestimmte Verhältnisse im Leben, vor allem in dem in der pse_102.006 Dichtung gestalteten Leben, spiegeln solche Grundsituationen pse_102.007 besonders deutlich, unauflösbare Widersprüche leuchten hier pse_102.008 auf, die uns tragisch erschüttern. So die Spannungen zwischen pse_102.009 der gefühlten menschlichen Freiheit und der mannigfachen pse_102.010 Notwendigkeit, der wir unterworfen sind; zwischen Sinn pse_102.011 und Sinnlosigkeit, wobei hier schon die Pole von göttlicher pse_102.012 Vorsehung und reinem Nihilismus sichtbar werden; zwischen pse_102.013 Leid und Trost; endlich zwischen menschlicher Selbstbehauptung pse_102.014 und gottgewollter Vernichtung. In jeder tragischen pse_102.015 Dichtung finden wir Elemente, Motive, Glieder, Stimmungen, pse_102.016 die die tragische Erschütterung besonders wachrufen. pse_102.017 Da gibt es eine Art tragische Atmosphäre, die schaurigunheimlich pse_102.018 das ganze Geschehen umhüllt und begleitet, etwa pse_102.019 im "Agamemnon" des Aischylos oder in Dantes Hölle. Oder pse_102.020 die Tragik kann aus Kampf und Kollision herauswachsen. pse_102.021 Aus Kampf zwischen geschichtlichen Mächten, etwa des pse_102.022 einzelnen mit Allgemeinerem oder der Gesellschaft, oder pse_102.023 zweier sich ablösenden Daseinsformen ("Don Carlos"); oder pse_102.024 aus dem Kampf des Menschen mit Göttern (Hippolytos in pse_102.025 der "Phedre") oder zwischen Göttern und göttlichen Prinzipien pse_102.026 überhaupt, wobei der Mensch nur der Schauplatz ist. pse_102.027 Auch die verschiedensten Beziehungen von Sieg und Unterliegen pse_102.028 enthalten Anstöße zum Tragischen: der Unterliegende pse_102.029 kann noch im Scheitern siegen, oder es siegt ein Allgemeines, pse_102.030 oder es siegt höchstens ein Transzendentes, nichts Irdisches; pse_102.031 in Sieg und Niederlage kann eine neue geschichtliche Ordnung pse_102.032 gestiftet werden.
pse_102.033 Endlich muß noch die Schuld betrachtet werden. Es bedeutet pse_102.034 eine Verengung der Tragik, wenn unter Schuld nur pse_102.035 eine sittliche gemeint ist. Die Auffassung, daß in der Tragödie pse_102.036 eine sittliche Schuld begangen und gebüßt würde, setzt in der pse_102.037 Spätantike mit Seneca ein und wird dann mit der christlichen pse_102.038 Sündenauffassung in die spätere Tragödientheorie übernommen.
pse_102.001 sich nicht nur Unterschiede in der dauernden Grundgestimmtheit pse_102.002 von Menschen, sondern auch solche der Größe pse_102.003 und Tiefe des Menschentums; man vergleiche Tragödien pse_102.004 von Kleist und von Raupach.
pse_102.005 Bestimmte Verhältnisse im Leben, vor allem in dem in der pse_102.006 Dichtung gestalteten Leben, spiegeln solche Grundsituationen pse_102.007 besonders deutlich, unauflösbare Widersprüche leuchten hier pse_102.008 auf, die uns tragisch erschüttern. So die Spannungen zwischen pse_102.009 der gefühlten menschlichen Freiheit und der mannigfachen pse_102.010 Notwendigkeit, der wir unterworfen sind; zwischen Sinn pse_102.011 und Sinnlosigkeit, wobei hier schon die Pole von göttlicher pse_102.012 Vorsehung und reinem Nihilismus sichtbar werden; zwischen pse_102.013 Leid und Trost; endlich zwischen menschlicher Selbstbehauptung pse_102.014 und gottgewollter Vernichtung. In jeder tragischen pse_102.015 Dichtung finden wir Elemente, Motive, Glieder, Stimmungen, pse_102.016 die die tragische Erschütterung besonders wachrufen. pse_102.017 Da gibt es eine Art tragische Atmosphäre, die schaurigunheimlich pse_102.018 das ganze Geschehen umhüllt und begleitet, etwa pse_102.019 im »Agamemnon« des Aischylos oder in Dantes Hölle. Oder pse_102.020 die Tragik kann aus Kampf und Kollision herauswachsen. pse_102.021 Aus Kampf zwischen geschichtlichen Mächten, etwa des pse_102.022 einzelnen mit Allgemeinerem oder der Gesellschaft, oder pse_102.023 zweier sich ablösenden Daseinsformen (»Don Carlos«); oder pse_102.024 aus dem Kampf des Menschen mit Göttern (Hippolytos in pse_102.025 der »Phèdre«) oder zwischen Göttern und göttlichen Prinzipien pse_102.026 überhaupt, wobei der Mensch nur der Schauplatz ist. pse_102.027 Auch die verschiedensten Beziehungen von Sieg und Unterliegen pse_102.028 enthalten Anstöße zum Tragischen: der Unterliegende pse_102.029 kann noch im Scheitern siegen, oder es siegt ein Allgemeines, pse_102.030 oder es siegt höchstens ein Transzendentes, nichts Irdisches; pse_102.031 in Sieg und Niederlage kann eine neue geschichtliche Ordnung pse_102.032 gestiftet werden.
pse_102.033 Endlich muß noch die Schuld betrachtet werden. Es bedeutet pse_102.034 eine Verengung der Tragik, wenn unter Schuld nur pse_102.035 eine sittliche gemeint ist. Die Auffassung, daß in der Tragödie pse_102.036 eine sittliche Schuld begangen und gebüßt würde, setzt in der pse_102.037 Spätantike mit Seneca ein und wird dann mit der christlichen pse_102.038 Sündenauffassung in die spätere Tragödientheorie übernommen.
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Bestimmte Verhältnisse im Leben, vor allem in dem in der pse_102.006
Dichtung gestalteten Leben, spiegeln solche Grundsituationen pse_102.007
besonders deutlich, unauflösbare Widersprüche leuchten hier pse_102.008
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der gefühlten menschlichen Freiheit und der mannigfachen pse_102.010
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und Sinnlosigkeit, wobei hier schon die Pole von göttlicher pse_102.012
Vorsehung und reinem Nihilismus sichtbar werden; zwischen pse_102.013
Leid und Trost; endlich zwischen menschlicher Selbstbehauptung pse_102.014
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das ganze Geschehen umhüllt und begleitet, etwa pse_102.019
im »Agamemnon« des Aischylos oder in Dantes Hölle. Oder pse_102.020
die Tragik kann aus Kampf und Kollision herauswachsen. pse_102.021
Aus Kampf zwischen geschichtlichen Mächten, etwa des pse_102.022
einzelnen mit Allgemeinerem oder der Gesellschaft, oder pse_102.023
zweier sich ablösenden Daseinsformen (»Don Carlos«); oder pse_102.024
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/118>, abgerufen am 21.11.2024.
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