Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

Bild:
<< vorherige Seite

pse_101.001
Erschütterung zu tun. Aller Sinn, den wir unserem Dasein pse_101.002
geben, scheint zu zerbrechen. Das Daseinsfundament ist vernichtet. pse_101.003
In dieser vernichtenden Lage fühlen wir unser Dasein pse_101.004
bedroht. Die Außenwelt wirkt hier mit, aber auch unsere pse_101.005
Reaktion darauf. Dieses Erlebnis der Daseinsbedrohung haben pse_101.006
wir besonders in sogenannten Grenzsituationen, in Situationen pse_101.007
also, in denen der Mensch aller Daseinsstützen beraubt, nackt, pse_101.008
ganz auf das Menschliche in sich verwiesen ist. Wesentliche pse_101.009
Grenzsituationen sind nach Jaspers: Kampf, Tod, Zufall, pse_101.010
Schuld. Goethe hat am 6. Juni 1824 zum Kanzler Müller pse_101.011
gesagt: "Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren pse_101.012
Gegensatz." Damit ist Tragik auf eine knappe Formel gebracht. pse_101.013
Aber die tragische Erschütterung ist noch durch pse_101.014
einige Merkmale genauer zu bestimmen. Das eine ist die pse_101.015
Dignität des Falles (Lesky): die Erschütterung ist um so pse_101.016
tiefer, je bedeutsamer das Ereignis, je größer das Leiden, je pse_101.017
tiefer der Fall. Das andere ist die Tatsache, daß diese Erschütterung pse_101.018
dadurch zustande kommt, daß dieses Erschütternde pse_101.019
immer zu unserem eigenen Sein, zu unserer Welt in pse_101.020
unmittelbaren Bezug tritt; ein Zug des Menschentums wird pse_101.021
hier getroffen, der auch in uns ist, auch in uns ist das Dasein pse_101.022
bedroht. Eine besondere Steigerung endlich tritt ein, wenn der pse_101.023
Held der tragischen Dichtung selbst das Tragische miterlebt, pse_101.024
wenn auch er von der tiefen Erschütterung betroffen wird. pse_101.025
Denn damit erleben wir unmittelbar gerade das Menschliche pse_101.026
dieser Situation, wie der Mensch sich darin verhält. Aus der pse_101.027
Beschaffenheit einer Grenzsituation und der Tiefe der Erschütterung, pse_101.028
die wir in einer tragischen Dichtung erleben, pse_101.029
stoßen wir unmittelbar ins Absolute vor. Da letzte Sinngebung pse_101.030
bedroht und in Frage gestellt ist, erleben wir hier im pse_101.031
Kunstwerk Religiöses. Das Heilige tritt uns in solcher Dichtung pse_101.032
in den zwei Formen des Tremendum und des Fascinosum pse_101.033
(R. Otto) deutlich entgegen. Zweierlei wollen wir nochmals pse_101.034
bei dieser tiefen tragischen Erschütterung hervorheben. pse_101.035
Obgleich es nicht in erster Linie auf das vom Menschen Unabhängige pse_101.036
und Reale ankommt, so sind doch nicht alle Tatbestände pse_101.037
gleich geeignet, Tragik auszulösen. Aber auch pse_101.038
Unterschiede zwischen den Menschen bestehen. Hier offenbaren

pse_101.001
Erschütterung zu tun. Aller Sinn, den wir unserem Dasein pse_101.002
geben, scheint zu zerbrechen. Das Daseinsfundament ist vernichtet. pse_101.003
In dieser vernichtenden Lage fühlen wir unser Dasein pse_101.004
bedroht. Die Außenwelt wirkt hier mit, aber auch unsere pse_101.005
Reaktion darauf. Dieses Erlebnis der Daseinsbedrohung haben pse_101.006
wir besonders in sogenannten Grenzsituationen, in Situationen pse_101.007
also, in denen der Mensch aller Daseinsstützen beraubt, nackt, pse_101.008
ganz auf das Menschliche in sich verwiesen ist. Wesentliche pse_101.009
Grenzsituationen sind nach Jaspers: Kampf, Tod, Zufall, pse_101.010
Schuld. Goethe hat am 6. Juni 1824 zum Kanzler Müller pse_101.011
gesagt: »Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren pse_101.012
Gegensatz.« Damit ist Tragik auf eine knappe Formel gebracht. pse_101.013
Aber die tragische Erschütterung ist noch durch pse_101.014
einige Merkmale genauer zu bestimmen. Das eine ist die pse_101.015
Dignität des Falles (Lesky): die Erschütterung ist um so pse_101.016
tiefer, je bedeutsamer das Ereignis, je größer das Leiden, je pse_101.017
tiefer der Fall. Das andere ist die Tatsache, daß diese Erschütterung pse_101.018
dadurch zustande kommt, daß dieses Erschütternde pse_101.019
immer zu unserem eigenen Sein, zu unserer Welt in pse_101.020
unmittelbaren Bezug tritt; ein Zug des Menschentums wird pse_101.021
hier getroffen, der auch in uns ist, auch in uns ist das Dasein pse_101.022
bedroht. Eine besondere Steigerung endlich tritt ein, wenn der pse_101.023
Held der tragischen Dichtung selbst das Tragische miterlebt, pse_101.024
wenn auch er von der tiefen Erschütterung betroffen wird. pse_101.025
Denn damit erleben wir unmittelbar gerade das Menschliche pse_101.026
dieser Situation, wie der Mensch sich darin verhält. Aus der pse_101.027
Beschaffenheit einer Grenzsituation und der Tiefe der Erschütterung, pse_101.028
die wir in einer tragischen Dichtung erleben, pse_101.029
stoßen wir unmittelbar ins Absolute vor. Da letzte Sinngebung pse_101.030
bedroht und in Frage gestellt ist, erleben wir hier im pse_101.031
Kunstwerk Religiöses. Das Heilige tritt uns in solcher Dichtung pse_101.032
in den zwei Formen des Tremendum und des Fascinosum pse_101.033
(R. Otto) deutlich entgegen. Zweierlei wollen wir nochmals pse_101.034
bei dieser tiefen tragischen Erschütterung hervorheben. pse_101.035
Obgleich es nicht in erster Linie auf das vom Menschen Unabhängige pse_101.036
und Reale ankommt, so sind doch nicht alle Tatbestände pse_101.037
gleich geeignet, Tragik auszulösen. Aber auch pse_101.038
Unterschiede zwischen den Menschen bestehen. Hier offenbaren

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0117" n="101"/><lb n="pse_101.001"/>
Erschütterung zu tun. Aller Sinn, den wir unserem Dasein <lb n="pse_101.002"/>
geben, scheint zu zerbrechen. Das Daseinsfundament ist vernichtet. <lb n="pse_101.003"/>
In dieser vernichtenden Lage fühlen wir unser Dasein <lb n="pse_101.004"/>
bedroht. Die Außenwelt wirkt hier mit, aber auch unsere <lb n="pse_101.005"/>
Reaktion darauf. Dieses Erlebnis der Daseinsbedrohung haben <lb n="pse_101.006"/>
wir besonders in sogenannten Grenzsituationen, in Situationen <lb n="pse_101.007"/>
also, in denen der Mensch aller Daseinsstützen beraubt, nackt, <lb n="pse_101.008"/>
ganz auf das Menschliche in sich verwiesen ist. Wesentliche <lb n="pse_101.009"/>
Grenzsituationen sind nach Jaspers: Kampf, Tod, Zufall, <lb n="pse_101.010"/>
Schuld. Goethe hat am 6. Juni 1824 zum Kanzler Müller <lb n="pse_101.011"/>
gesagt: »Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren <lb n="pse_101.012"/>
Gegensatz.« Damit ist Tragik auf eine knappe Formel gebracht. <lb n="pse_101.013"/>
Aber die tragische Erschütterung ist noch durch <lb n="pse_101.014"/>
einige Merkmale genauer zu bestimmen. Das eine ist die <lb n="pse_101.015"/>
Dignität des Falles (Lesky): die Erschütterung ist um so <lb n="pse_101.016"/>
tiefer, je bedeutsamer das Ereignis, je größer das Leiden, je <lb n="pse_101.017"/>
tiefer der Fall. Das andere ist die Tatsache, daß diese Erschütterung <lb n="pse_101.018"/>
dadurch zustande kommt, daß dieses Erschütternde <lb n="pse_101.019"/>
immer zu unserem eigenen Sein, zu unserer Welt in <lb n="pse_101.020"/>
unmittelbaren Bezug tritt; ein Zug des Menschentums wird <lb n="pse_101.021"/>
hier getroffen, der auch in uns ist, auch in uns ist das Dasein <lb n="pse_101.022"/>
bedroht. Eine besondere Steigerung endlich tritt ein, wenn der <lb n="pse_101.023"/>
Held der tragischen Dichtung selbst das Tragische miterlebt, <lb n="pse_101.024"/>
wenn auch er von der tiefen Erschütterung betroffen wird. <lb n="pse_101.025"/>
Denn damit erleben wir unmittelbar gerade das Menschliche <lb n="pse_101.026"/>
dieser Situation, wie der Mensch sich darin verhält. Aus der <lb n="pse_101.027"/>
Beschaffenheit einer Grenzsituation und der Tiefe der Erschütterung, <lb n="pse_101.028"/>
die wir in einer tragischen Dichtung erleben, <lb n="pse_101.029"/>
stoßen wir unmittelbar ins Absolute vor. Da letzte Sinngebung <lb n="pse_101.030"/>
bedroht und in Frage gestellt ist, erleben wir hier im <lb n="pse_101.031"/>
Kunstwerk Religiöses. Das Heilige tritt uns in solcher Dichtung <lb n="pse_101.032"/>
in den zwei Formen des Tremendum und des Fascinosum <lb n="pse_101.033"/>
(R. Otto) deutlich entgegen. Zweierlei wollen wir nochmals <lb n="pse_101.034"/>
bei dieser tiefen tragischen Erschütterung hervorheben. <lb n="pse_101.035"/>
Obgleich es nicht in erster Linie auf das vom Menschen Unabhängige <lb n="pse_101.036"/>
und Reale ankommt, so sind doch nicht alle Tatbestände <lb n="pse_101.037"/>
gleich geeignet, Tragik auszulösen. Aber auch <lb n="pse_101.038"/>
Unterschiede zwischen den Menschen bestehen. Hier offenbaren
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0117] pse_101.001 Erschütterung zu tun. Aller Sinn, den wir unserem Dasein pse_101.002 geben, scheint zu zerbrechen. Das Daseinsfundament ist vernichtet. pse_101.003 In dieser vernichtenden Lage fühlen wir unser Dasein pse_101.004 bedroht. Die Außenwelt wirkt hier mit, aber auch unsere pse_101.005 Reaktion darauf. Dieses Erlebnis der Daseinsbedrohung haben pse_101.006 wir besonders in sogenannten Grenzsituationen, in Situationen pse_101.007 also, in denen der Mensch aller Daseinsstützen beraubt, nackt, pse_101.008 ganz auf das Menschliche in sich verwiesen ist. Wesentliche pse_101.009 Grenzsituationen sind nach Jaspers: Kampf, Tod, Zufall, pse_101.010 Schuld. Goethe hat am 6. Juni 1824 zum Kanzler Müller pse_101.011 gesagt: »Alles Tragische beruht auf einem unausgleichbaren pse_101.012 Gegensatz.« Damit ist Tragik auf eine knappe Formel gebracht. pse_101.013 Aber die tragische Erschütterung ist noch durch pse_101.014 einige Merkmale genauer zu bestimmen. Das eine ist die pse_101.015 Dignität des Falles (Lesky): die Erschütterung ist um so pse_101.016 tiefer, je bedeutsamer das Ereignis, je größer das Leiden, je pse_101.017 tiefer der Fall. Das andere ist die Tatsache, daß diese Erschütterung pse_101.018 dadurch zustande kommt, daß dieses Erschütternde pse_101.019 immer zu unserem eigenen Sein, zu unserer Welt in pse_101.020 unmittelbaren Bezug tritt; ein Zug des Menschentums wird pse_101.021 hier getroffen, der auch in uns ist, auch in uns ist das Dasein pse_101.022 bedroht. Eine besondere Steigerung endlich tritt ein, wenn der pse_101.023 Held der tragischen Dichtung selbst das Tragische miterlebt, pse_101.024 wenn auch er von der tiefen Erschütterung betroffen wird. pse_101.025 Denn damit erleben wir unmittelbar gerade das Menschliche pse_101.026 dieser Situation, wie der Mensch sich darin verhält. Aus der pse_101.027 Beschaffenheit einer Grenzsituation und der Tiefe der Erschütterung, pse_101.028 die wir in einer tragischen Dichtung erleben, pse_101.029 stoßen wir unmittelbar ins Absolute vor. Da letzte Sinngebung pse_101.030 bedroht und in Frage gestellt ist, erleben wir hier im pse_101.031 Kunstwerk Religiöses. Das Heilige tritt uns in solcher Dichtung pse_101.032 in den zwei Formen des Tremendum und des Fascinosum pse_101.033 (R. Otto) deutlich entgegen. Zweierlei wollen wir nochmals pse_101.034 bei dieser tiefen tragischen Erschütterung hervorheben. pse_101.035 Obgleich es nicht in erster Linie auf das vom Menschen Unabhängige pse_101.036 und Reale ankommt, so sind doch nicht alle Tatbestände pse_101.037 gleich geeignet, Tragik auszulösen. Aber auch pse_101.038 Unterschiede zwischen den Menschen bestehen. Hier offenbaren

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/117
Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/117>, abgerufen am 24.11.2024.